7095627-1994_44_15.jpg
Digital In Arbeit

Abschied von der Metaphysik

19451960198020002020

Eine neue Ausgabe des Werkes des als Jahrhundertphilosophen apostrophierten Ludwig Wittgenstein bemüht sich besonders um Texttreue.

19451960198020002020

Eine neue Ausgabe des Werkes des als Jahrhundertphilosophen apostrophierten Ludwig Wittgenstein bemüht sich besonders um Texttreue.

Werbung
Werbung
Werbung

Meine Art des Philosophierens ist mir selbst immer noch, und immer wieder, neu, und daher muß ich mich so oft wiederholen. Einer anderen Generation wird sie in Fleisch und Blut übergegangen sein und sie wird die Wiederholungen langweilig finden. Für mich sind sie notwendig. — Diese Methode ist im wesentlichen der Übergang von der Frage nach der Wahrheit zur Frage nach dem Sinn.“ Die Bedeutung Ludwig Wittgensteins (1889-1951), des Philosophen aus Wien, scheint unbestritten zu sein, wenn auch die Art seines Einflusses auf die Philosophie durchaus diskutabel bleiben wird. Tatsache ist aber auch, daß er zu Lebzeiten, bereits 1921, nur ein Buch veröffentlichte, die ebenso berühmte wie mißverstandene “Logisch-philosophische Abhandlung“. Diesen knapp 100 Seiten stehen zirka 50.000 Manuskriptseiten des nachgelassenen Werkes gegenüber. Die bisher erschienenen Schriften sind durch die Nachlaßverwalter zusammengestellte Aus-wahleditionen, die bestenfalls ein Fünftel des Gesamtbestandes wiedergeben. Die textkritische Edition des Nachlasses ist so gesehen ein dringendes Desiderat, dem allerdings erhebliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Nicht nur, daß Wittgenstein seine Philosophie oft in der Form von aphorismenhaften Bemerkungen schrieb, gilt es auch, ihrem fragmentarischen Charakter und deren komplizierten Beziehungen untereinander Rechnung zu tragen.

Die mit Spannung erwartete und mit beträchtlichem Vorschußlob ausgestattete „Wiener Ausgabe“ der Schriften Wittgensteins wird daher notgedrungen an den Erwartungen und Kriterien einer solchen Edition gemessen. Der Herausgeber Michael Nedo, selbst weder philologisch noch jhilosophisch ausgebildet, setzte sich jereits in den siebziger Jahren in den Copf, den Nachlaß zu edieren - die Rechte dazu wurden ihm aber nur für die Texte aus den Jahren 1929- 1933 gewährt. Der Springer-Verlag (Wien) veröffentlicht sie nun als „Wiener Ausgabe“ unter kräftiger Mithilfe des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

Die „Wiener Ausgabe“ wird also zunächst 14 Text- und einige Konkordanzbände in Großformat umfas sen. Erschienen sind bisher zwei mit einer aus der Feder des Herausgebers stammenden Einführung in deutsch und englisch. Der Einführungsband bietet eine ausführliche Darstellung von Leben und Werk Wittgensteins mit einer Chronik, die nach Jahren und Monaten gegliedert, detaillierten Aufschluß über den Aufenthaltsort, die persönlichen und wissenschaftlichen Begegnungen und die schriftstellerische Tätigkeit gibt. Darüber hinaus werden das Editionsvorhaben begründet und das nachgelassene Werk vorgestellt.

KEINE INTERPRETATION

Besonders informativ sind die Musterseiten, weil sie das handgeschriebene, fotografierte Original der computergesetzten Transskription mit der editorischen Bearbeitung gegenüberstellen, woraus einerseits die Bearbeitungsrichtlinien sichtbar werden und anderseits die gegenüber allen anderen Ausgaben verbesserte Texttreue hervorgehoben werden soll. Mit einer „partiturenartigen Darstellungsweise“ sollen gute Lesbarkeit und Treue der Wiedergabe gewährleistet werden, auch die berühmte „Geheimschrift“ Wittgensteins wird aufgelöst. In der Aufteilung in Haupttext und Fußnotenapparat soll sichtbar werden, daß der ganze Text, also auch durchgestrichene Stellen, unverändert verfügbar ist. In dem von Nedo immer wieder evozierten Ziel einer nicht-interpretativen Ausgabe liegt allerdings auch eine besondere Problematik.

Da Wittgenstein seine „Bemerkungen“ immer wieder anfangend in verschiedenen Notizheften verstreut geschrieben und in seiner eigenen Technik bearbeitet hat, ist die Verfolgung des Weges bis zum sogenannten „Big Typescript“ aus dem Jahr 1933 eine Spurensuche besonderer Art, die selbstverständlich von editorischen Vorentscheidungen getragen sind.

Die Bände I und II der „Wiener Ausgabe“ bieten nun vier Manu skriptbände des Nachlasses aus den Jahren 1929-1930: Band I enthält „Philosophische Bemerkungen“, deren 2. Teil anstelle eines Titels mit dem Motto versehen wurde: „Hier hilft dem Dummen die Dummheit allein“. Band II enthält „Philosophische Betrachtungen“ und wiederum „Philosophische Bemerkungen“.

Bei der Lektüre dieser Texte wird klar, daß sie nur im Zusammenhang, im je größeren Kontext interpretiert werden können: Biographische Notizen, Philosophisches im engeren Sinne, Allerweltsweisheiten und höchst komplizierte logisch-mathematische Überlegungen stehen oft auf wenigen Seiten nebeneinander, scheinbar völlig beziehungslos.

Trotzdem und gerade deswegen: die Notizen dieser Jahre, die der mittleren Periode seines Denkens zu gezählt werden, lassen erahnen, was Wittgensteins eigene Formulierung vom „Übergang von der Frage nach der Wahrheit zur Frage nach dem Sinn”“ bedeuten könnte: Es ist die Ablösung der klassischen Tradition von „Seinslehre“ (Ontologie) und Ansprüchen der Erkenntnis hin zu einer Sprache, die befreit ist von den Verwirrungen der „Metaphysik“, indem der Sinn „sinnvoller Sätze“ in logisch einwandfreier Weise „festgestellt“ ist. In diesem Satz spiegelt Wittgenstein die Zerrissenheit des neuzeitlichen Geistes: Die Frage nach Wahrheit gibt keinen Sinn mehr, und die Frage nach Sinn ist in der nach Wahrheit noch lange nicht gestellt und schon gar nicht beantwortet. Der logisch ausgemachte Sinn läßt keinerlei Rückschlüsse mehr zu auf das, was nur zu leicht unter „objektiver Wahrheit“ verstanden wurde. Mit dem Übergang sind aber nicht nur philosophische Theorien getroffen, deren Belanglosigkeit für die Bewältigung der Sorgen des Alltags hinlänglich bekannt erscheinen - zuallererst getroffen ist der Mensch, das denkende, nach Wahrheit und Sinn suchende und/oder handelnde Subjekt.

UMSTRITTENER HERAUSGEBER

Der Editionsplan sieht weitere Bände „Philosophische Bemerkungen“ vor, die ganze „Philosophische Grammatik“, Synopsen, Umarbeitungen und Notizbücher zu den Manuskriptbänden. Diverse Register sollen diese Ausgabe erschließen: Eine Konkordanz der weniger häufigen Worte, ein Register, das die Wiener Ausgabe mit den derzeitigen Publikationen verbindet und ein Index der Illustra-tionen. Jährlich sollen zwei bis fünf Bände erscheinen. Der Werbeprospekt schließt verheißungsvoll: „Die Fortsetzung der Ausgabe ist beabsichtigt“. Dahinter verbirgt sich die für Michael Nedo unangenehme Tatsache, daß seine einstigen Mitstreiter, die sich beizeiten von ihm distanzierten (darunter Joachim Schulte und Hans Jürgen Heringer), im norwegischen Bergen etwa 3.200 Nachlaßseiten transskribierten, eine spezielle Software zur Textanalyse entwickelten und in maschinenlesbare Form brachten - die Erlaubnis zur Publikation fehlt auch ihnen.

Die „Wiener Ausgabe“ setzt dort ein, wo Wittgenstein nach neunjähriger Unterbrechung wiederum mit seiner Philosophie begann, und sie führt zu jenen Texten, die wir heute als „Philosophische Untersuchungen“ und „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“ (1936/37) kennen. Wie immer man das vorliegende und erst am Anfang stehende Editionsprojekt einschätzen wird — jetzt schon erlaubt es uns, die Zeit des Überganges vom Tractates zu den Philosophischen Untersuchungen wesentlich genauer zu verfolgen, als dies bisher möglich war.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung