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Adam — Bürger beider Welten

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JOHANNES CHRYSOSTOMUS. Staatsphilosoph und Geschichtstheologe. Von Stephan Verosta. Verlag Styria, Graz-Wien- Köln 1961. 470 Seiten. Preis 168 S.

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JOHANNES CHRYSOSTOMUS. Staatsphilosoph und Geschichtstheologe. Von Stephan Verosta. Verlag Styria, Graz-Wien- Köln 1961. 470 Seiten. Preis 168 S.

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Das kurze Vorwort des bedeutendsten österreichischen Byzantinologen Endre von Ivänka, dessen Editionen oströmischer und ostkirchlicher Texte samt deren, Kühnheit mit philologischer Akribie verbindenden, Interpretation das neue Byzanzbild grundgelegt haben, gehört zu diesem geradezu erregenden Werk organisch hinzu. In einer vornehmen und klaren Distinktion, die unwillkürlich an Lessings berühmte Unterscheidung zwischen dem Kräutersammler und dem Apotheker in der „Hamburgischen Dramaturgie” erinnern läßt, weist er der Arbeit des Staatswissenschaftlers und Juristen Verosta den gebührenden methodologischen Platz zu. Es war und ist nicht seine Aufgabe, das Quellenmaterial selbst zu erstellen, die philologischen Bausteine zu fördern und zu behauen: wohl aber jene Arbeit zu leisten, die der echte Historiker und Philologe in — heute leider selten gewordener — Selbstbegrenzung scheut: das heraustreten zu lassen, „was sie jeweils, ganz abgesehen von den historischen Umständen. unter denen sie verfaßt wurden, und den zeitgeschichtlichen Bindungen, in denen sie stehen, als rechtsphilosophische Aussage, die einen Anspruch auf objektiven Wahrheitsgehalt macht und einen Beitrag zum richtigen Verstehen der Probleme des Staates und des Rechtes zu leisten bestrebt ist, auch heute noch uns Heutigen zu sagen haben” (S. 7).

Nach diesem Programm und Ziel hat der Rechtsphilosoph Verosta sein Werk über Johannes Chrysostomus geschrieben. Und so glauben wir es auch recht gelesen und verstanden zu haben: Nicht als Heiligengeschichte — obwohl das wahrhaft Heiligmäßige gerade durch Aussparung aller legendären Züge in diesem nüchternen Lebensabriß unmittelbar pak- kend begegnet —, nicht als historische Gesamtdarstellung einer Epoche — obwohl deren selbst dem Kundigen oft unrettbar verwirrte Fäden hier in bewundernswerter Sicherheit zusammengeknüpft erscheinen — und auch nicht als eine theologische Ausdeutung der Botschaft des Kirchenvaters — obwohl in Verostas auf weite Strecken den Originalzitaten folgender Darstellung der metajuristische Zusammenhang nicht nur nicht verschwiegen,, sondern ausy driicklich-hervorgehoben wird- Den eigentlichen „Endzweck” dieser Arbeit, die auch als reine und zweckfreie Interpretation für sich bestehen kann, glauben wir aber in jener Beispielhaftigkeit, ja im Modellcharakter dessen erkannt zu haben, was der Kirchenvater und Patriarch von Konstantinopel — der damaligen Hauptstadt der Ökumene, also des gesamten bekannten und zivilisierten Erdkreises — als Ordnung zwischen Staat und Kirche nicht nur lehrte, sondern bis an die Grenzen des Martyriums als „Professor und Confessor” bekannte.

Die Methode einer solchen Darstellung wirkt auf den ersten Blick teils verschlungen, teils zu kühn sprunghaft. Erst wenn man das Buch, dessen Lektüre man kaum kapitelweise vornehmen kann, zu Ende gelesen hat, merkt man den inneren Plan und die Notwendigkeit. Mit dem Menschenbild, das dem Kirchenvater vor Augen stand, beginnt es. Dieses Menschenbild ist ein biblisch-historisches, kein philosophisch-abstraktes oder unverbindlich-mythologisches wie in der heidnischklassischen Philosophie. Bei einem katholischen Heiligen und Kirchenvater erscheint eine solche Feststellung zunächst unnötig, weil selbstverständlich. Bedenkt man aber, wie stark gerade über Aristoteles (am wenigsten bei dem viel verdächtigten Thomas selbst, aber um so mehr in seiner berufenen oder sich berufen wähnenden Gefolgschaft bis hinauf in unsere Tage) das heidnisch-naturalistische Konzept vom Menschen auf die katholische Anthropologie einwirkte, dann erscheint einem Verostas Bemühen um den so ganz anderen Denkursprung des Chrysostomus gar nicht so unnötig. Wir glauben hier sogar den Ausgangspunkt seiner eigenen Thesenführung gefunden zu haben. Der Mensch ist und bleibt der Nachkomme des Adam, dessen Sündcnfall am Beginn steht. Er ist nicht der Sproß des mythischen Urvaters, wie ihn Plato annahm. Diese Tatsache bestimmt seine Kondition für alle denkbaren Zeiten. Das Entscheidende bei Chrysostomus aber liegt nun darin, daß er auch den gefallenen Adamssohn nicht pessimistisch (wie die Reformatoren unter nicht ganz unberechtigter Berufung auf gewisse Stellen bei Augustinus folgerten) als einen „Sündenlümmel” ansieht, der „in allem der Gnade” bedarf. Auch nach der Paradiesesvertreibung und dem Verlust des uns nicht im einzelnen geoffenbarten Urstandes gibt es für den Menschen ein verpflichtendes Naturrecht, nicht nur das streng positive „Gesetz”. Aber dieses Naturrecht ist sekundär zu verstehen, ist bereits ein Recht unter der „Knechtschaft , die nicht nur durch die Sünde Adams — von Chrysostomus eindeutig als Hoch- mutssündc und nicht als Geschlechtssiindc verstanden —, sondern auch durch die folgenden Sünden Kains und der Kainiten (besonders des Städtebauers und Gewaltherrn Nimrod) verursacht wurde und die auch von der hier sehr spezifisch untersuchten Sünde der Eva hergeleitet wird. Daraus ergibt sich also, daß es keine menschliche Einrichtung geben kann, die durch sich selbst ganz und gar gut im Eigenstand genannt werden könnte. Wie der einzelne Christ, so bedarf auch die geschaffene Welt der Erlösung und Neuschöpfung. Es gibt also keinen Mythos der Institution, am wenigsten einen solchen des römischen Reiches. Verosta wird nicht müde, die diesbezügliche Position des „Byzantiners” Chrysostomus gegen das abzugrenzen, was wir seit Fallmerayers genial-einseitiger Essayistik das „Byzantinische” zu nennen pflegen. Er stellt die herbe und bis zur Grämlichkeit nüchterne Gestalt des „Goldmundes” nicht nur den konstantinischen Hoftheologen gegenüber, besonders dem Eusebius (auf den für das Reichskirchenproblem noch bedeutungsvolleren Hosius von Cordoba wird weniger eingegangen). Er markiert auch den scharfen Widerstand des — in der tiefsten eigenen Griechenbrust für diese Theologie vielleicht besonders anfälligen — Chrysostomus gegen den von den Kaisern geförderten Arianismus als ein Nein zu einer neuplatonisch-pantheistischen Staatsreligion. (Hierin und vor allem in der Ausdeutung des Arianismus folgt Verosta übrigens ohne weitere Kritik den diesbezüglichen Thesen Ivan- kas, denen der Rezensent nicht vollinhaltlich beipflichten möchte.) Wenn dieser sehr plastischen Darstellung der Auseinandersetzung des Heiligen mit den Reichstheologen etwas fehlt, so ist es das unerläßliche westliche Gegenstück: Augustinus. Von ihm ist zwar mehrfach die Rede, besonders im anthropologischen Genesiskommentar. Das eigentlich Unterscheidende zu Chrysostomus fehlt uns aber. Und das nicht nur aus Gründen der philosophiegeschichtlichen Vollständigkeit, sondern im Sinne des zeitbezogenen Plans Verostas selbst. Neben der Eusebianischen Reichstheologie wirkt nämlich auch das Augustinische Modell trotz der mangelnden inneren Systematik der „Civitas Dei” durch die Geschichte der christlichen Rechts- und Staatsphilosophie weiter. Chrysostomus steht — und das macht Verostas Buch von Seite zu Seite deutlicher — mit seinem Menschenbild in der Mitte zwischen dem naturalistischen Optimismus der Heiden und dem Sündenpessimismus des Bischofs von Hippo. Gerade im Hinblick auf die vom Autor herausgearbeitete Grundthese wäre die augustinische Gegenposition also auch noch schärfer und pointierter zu entwickeln gewesen. Ein kompositorischer Symmetriefehler, der bei einer neuen Auflage behoben werden könnte, selbst auf die unvermeidliche Gefahr hin, daß das Buch um gute hundert Seiten umfangreicher wird

Verosta konfrontiert den Kirchenvater nun in zweifacher Weise mit seiner Umwelt: einmal im Bereich der Ideologien und Theologumena, von denen wir bereits die wichtigsten erwähnten, sodann aber auch im Bereich der historischen Fakten, die nun nicht einfach in ermüdender Breite nacherzählt, sondern auf ihren geschichtstypischen Charakter hin untersucht werden. Dabei gelingt es dem Autor mit der Brillanz eines plädierenden Advokaten, die verwickeltsten Tatbestände — etwa die Gotenintrigen des Generals Gainas oder die dramatischen Geschicke des allmächtigen Eunuchenministers Eutropius — mit wenigen Sätzen auf ihren grundsätzlichen Kern zu bringen und sie zum Exempel für des Chrysostomus Grundauffassungen von Recht und Staat werden zu lassen. Die in Predigten eingebauten oder auch unter biblischen Allegorien verklausulierten Zitate, die dem rein archivarischen Historiker für gewöhnlich verborgen bleiben, werden mit großer Sicherheit herauspräpariert, ohne daß das geistesgeschichtlich gegebene Einkleidungsgewand brutal verletzt würde. Der Autor zitiert mit Recht lieber etwas länger und ausführlicher, als daß er mit der sonst so häufig geübten Methode des abrupten Wort- oder Satzfetzenzitats komödiantische Lorbeeren ernten wollte.

Alle gewissenhafte und im Urteil eher übervorsichtige Interpretation der Fakten aber führt bei Verosta nicht in den Historismus, führt nicht in den schwächlichen Neutralismus der bloßen Quellendarstellung. Als Christ kann es dem Autor zunächst schon einmal nicht gleichgültig sein, was ihm ein Kirchenvater, dessen Abbild den Baldachin der Una Sancta im Petersdom trägt, zu sagen hat. Es ist ja nicht nur ein philologisch zu sezierender Fund, sondern die Sprache eines Heiligen, die ihm und uns hier begegnet. Darüber hinaus aber ist Verosta selbst im oben angedeuteten Vollsinn des Wortes „Professor” von Rang und Geblüt. Er spricht die Schlußfolgerung des Staatskirchendenkens des Vaters ohne billige Aktualisierung, aber ohne Abschwächung in unsere Zeit hinein:

Es gibt keine Vergottung des Staates, keine konstantinische Gleichsetzung von himmlischem und irdischem Reich, keinen Cäsaropapismus. Das hat der Heilige bis zum Martyrium durchgestanden. Aber der Staat als solcher ist im sekundären (nach dem Sündenfall) einsetzenden Naturrecht als Obrigkeit grundgelegt (Röm. 13). Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche läßt sich nicht im radikal-naturrechtlichen Sinne Überspannen, wie dies von gewissen kirchlichen Theoretikern des Hochmittelalters versucht wurde. Gerade weil Chrysostomus besonders in seiner letzten Reifephase im Sinne eines wohlverstandenen Aristoteles dem Staat eine legitime Erziehungsfunktion zubilligt, stehen die „beiden Gewalten” einander nicht als feindliche Rechtspartner gegenüber, sondern sind auf eine gewisse Zusammenarbeit hin angeordnet.

„Politik und Pastoral begegnen einander, aber es bleibt ein ungelöster Rest, denn die Kirche und auch die Pastoral der kämpfenden Kirche wurzelt im Mysterium und zielt aufs Transzendente” (‘S. 437).

Und an anderer Stelle (S. 320) noch deutlicher:

„Dieser Gegensatz und diese Spannung könnten vollständig nur im Reich Gottes auf Erden aufgehoben werden. Solange dieses Reich nicht herbeigeführt wird oder auf Erden zu uns kommt, ist diese Spannung nur durch Liebe zu überbrücken Es ist dies nicht so sehr eine organisatorische und Rechtsfrage als eine moralische und politische, eine Frage der führenden Persönlichkeiten im Imperium und Sacerdotium, eine Frage auch des persönlichen Taktes und des politischen Geschickes, geboren aus gegenseitiger Anerkennung oder wenigstens aus einem Minimum des gegenseitigen Vertrauens, um nicht zu sagen Wohlwollens ,.

Man beachte diesen Satz genau. Hier spricht nicht mehr Chrysostomus, der bedrängte und an Leib und Leben bedrohte Hirte in einer sich nur äußerlich christlich gerierenden, in Wirklichkeit heidnisch-staatsomnipotenten Herrschaftsordnung, hier schlußfolgert Verosta, ein Mann, der nicht nur Historiker und Rechtsphilosoph ist, sondern aus nächster Nähe und in verantwortlicher Funktion ein ganz anderes, gegenwärtiges „Modell” — das der Kirche in Polen — kennenlernen konnte. Und hier bekennt der Kenner und Verteidiger des Rechtes nicht mehr und nicht weniger als die Grenzen des Rechtes, dort, wo es um die letzten Dinge des Menschen selbst geht, der Bürger beider Welten im Jahrhundert des Chrysostomus und in dem des Kardinals Wyszynski bleibt. Eine Frage bleibt freilich übrig: die nach der Vergleichbarkeit eines marxistisch-atheistischen Staatswesens mit allen übrigen Staatsformen — seit Nero —, mit denen es die Kirche von Anfang ihrer Geschichte an zu tun hatte

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