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AM ANFANG WAR DER ROHRSTOCK

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Für die Konzertprogramme von heute ist es fast schon eine Selbstverständlichkeit, den Namen des Dirigenten mit der gleichen Betonung zu versehen, wie den des Komponisten; rnfttjunter kommt sogar der Name dessen, der die Aufführung leitet, mehr zur Geltung als der Schöpfer des Werkes. Dieser äußeren Praxis entspricht eine jetzt schon sehr weit verbreitete innere Einstellung: man geht in ein Konzert, um diesen oder jenen Dirigenten zu sehen und seine Auffassung einer Komposition kennenzulernen; Gehalt und Sinn des Werkes als Hörerlebnis werden durch diese Einstellung zwangsläufig in eine untergeordnete Rolle verdrängt.

Mit dieser Feststellung soll die Wichtigkeit des modernen Dirigenten durchaus nicht geleugnet werden. Aber die gehobene Stellung, die er sich gerade in den letzten Jahrzehnten erworben hat, birgt die Gefahr der Veräußerlichung des Konzertlebens, lenkt vom Auditiven ab und zum Visuellen hin, und damit verliert die Wiedergabe sehr viel von ihrer wesensgemäßen Bedeutung. Es ist der Dirigenten-Virtuose, der diesen Zwiespalt herbeigeführt hat. Er selbst ist vorläufiges Endglied einer historischen Entwicklung, die über drei Jahrhunderte reicht und dadurch gekennzeichnet ist, daß die Persönlichkeit des Dirigenten ursprünglich mit der des Komponisten identisch war und sich im Laufe der Zeit immer weiter von dieser Verbindung mit dem Schöpferischen loslöste. Daß es zu dieser Verselbständigung des Pult-Virtuosen gekommen ist, liegt auch im Charakter der Musik seit der Romantik miitbegründet, die einen immer vielgestaltiger werdenden Klangkörper erforderte. Die Leitung eines so großen Orchesters verlangt einen Musiker, der über die genaue Werkkenntnis hinaus auch die äußeren, sichtbaren Mittel und Fähigkeiten besitzt, den Ablauf der Wiedergabe zu regeln. Dazu kommt die für die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts erforderliche persönliche Deutung beziehungsweise Ausdeutung, die sich beim Dirigieren in sichtbare Darstellung verwandelt. Aber gerade dieses Sichtbarmachen musikalischer Vorgänge führt den Zuhörer von der Tiefe des Musikalischen irgendwie weg, und für den Dirigenten selbst besteht die große Verlockung, die Nebensache des Anzeigens zur Hauptsache zu machen, zumal er ja zum Kunstwerk selbst nicht mehr diese unmittelbare Beziehung besitzt wie der Dirigent früherer Zeiten, der das eigene Werk aufführte.

Es wird für den weiteren Weg der Dirigierkunst sehr wichtig sein, zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, zwischen sichtbarer Geste und Vorrecht des Klanges den entsprechenden Ausgleich zu finden. Ganz selbstverständlich und natürlich fanden ihn die Komponisten selbst, wenn sie für die Aufführung eigener Werke zum Taktstock gegriffen haben. — Wie bedeutend der Beitrag großer Komponisten zur Entwicklung des Dirigierens war, soll nun ein kurzer geschichtlicher Rückblick zeigen.

Schon für die Musik des 16. Jahrhunderts wurde die sichtbare Zeichengebung notwendig, weil sie das sichere Maß im vielstimmigen musikalischen Satz war. Diese Zeit kennt daher bereits den Taktschiäger, der seine Zeichengebung mit Hilfe einer Papierrolle deutlich gemacht hat; auch der Taktstock wird in diesem mechanischen Sinne bereits verwendet. Die Musik des 17. Jahrhunderts mit Oper, Generalbaß und Cembalo rief in Italien eine neue Art des Dirigierens hervor. Der Komponist leitete vom Cembalo aus die Aufführung, regelte die Besetzungsfrage und überwachte das Improvisieren, für das der bezifferte Baß reiche Möglichkeiten bot. In Frankreich dagegen erhielt sich das Taktieren mit Papierrolle oder Stock. Hier tritt uns auch in Jean Baptiste Lully, dem Hofkomponisten Ludwigs XIV., die erste Dirigentenper-sönlichkeit entgegen. Lulily war der umsichtige und gefürchtete Lenker der Aufführungen seiner Opern. Wenn auch das hörbare Aufschlagen seines langen Rohrstockes von den Italienern als rückschrittlich bezeichnet wurde, waren auch sie bald gezwungen, den vom Cembalo aus dirigierenden Komponisten durch den ersten Violinspieler bei der Aufführung unterstützen zu lassen. So trat neben den unter Kom-ponierverpflichtung stehenden „Maestro di cembalo“ ein nur der Ausführung verpflichteter Musiker. Der Komponist als Leiter eigener und später auch fremder Werke stand aber noch ganz im Vordergrund. Erst im Lauf der Zeit gewann der Konzertmeister immer mehr Selbständigkeit und bahnte dadurch dem „Kapellmeister“ den Weg.

Während Johann Sebastian Bach trotz des Thomaskan-torats seine Hauptaufgabe bei Komposition und Orgel sah, widmete sich Georg Friedrich Händel mit viel äußerer Energie der sorgfältigen Aufführung seiner Opern. „Er war bei diesen Gelegenheiten ein barscher und entschiedener Befehlshaber, hatte aber einen Humor und Witz im Aussprechen seiner Anweisungen und selbst im Schelten und Fehleraufdecken, der ihm ganz eigentümlich und allen äußerst ergötzlich war, diejenigen ausgenommen, welche der Hieb gerade traf“, weiß der englische Musikhistoriker Charles Burney zu berichten. Nicht weniger genau, oft sogar von rücksichtsloser Strenge, war Christoph Willibald Gluck, wenn er von seinen Musikern in langen Einzelproben jene klare Natürlichkeit des Spiels verlangte, die der Inhalt seiner Opernreform war.

Händel und Gluck dirigierten ihre Opern vom Cembalo aus. Der Gang der musikalischen Entwicklung förderte schließlich das Emporstreben der „Anführer“ vom Geigenpult, da durch Verselbständigung und Vergrößerung des Orchesters das Cembalo nur noch in der Oper sein Dasein fristete und schließlich ganz verschwand. Joseph Haydn saß zwar in London bei der Aufführung seiner Symphonien noch am überflüssig gewordenen Cembalo, die eigentliche Leitung fiel aber bereits dem ersten Geiger des Orchesters zu. Haydn selbst wäre für diese Aufgabe erfahren genug gewesen, da er seit seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahr als Kapellmeister mit dem Orchester vertraut war. Wolfgang Amadeus Mozart dagegen bekleidete kein dauerndes Kapellmeisteramt und hatte nur bei den ersten Aufführungen seiner Opern Gelegenheit, vom Cembalo aus zu dirigieren.

Bei Ludwig van Beethoven stand als ausübende musikalische Tätigkeit der Klaviervirtuose im Vordergrund, er drängte aber entschiedener als Mozart zum Orchester und versuchte sich auch dann noch als Dirigent, als ihn sein Gehörleiden bereits stark behinderte. Dadurch wurden seine anfänglich ungewohnten Dirigierbewegungen zum sichtbaren Zeichen des tragischen Schicksals, das ihm auferlegt war.

Die allmähliche Scheidung des Komponisten vom Kapellmeister hatte ein Berufskapellmeistertum entstehen lassen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits eine beherrschende Stellung einnahm. Nicht gerade zum Segen der Aufführungsqualität, so daß die in musikalisches Neuland vorstoßenden Komponisten der Romantik von der Sorge um die Wiedergabe der eigenen Werke ans Pult gerufen wurden. Die schöpferischen Musiker bildeten nun den Typ des modernen Dirigenten aus.

Es erregte großes Aufsehen, als sich Louis Spohr im Jahre 1820 beim Musikfest in London mit einem besonderen Pult vor das Orchester stellte, ein kleines Stäbchen aus der Tasche zog und so zu dirigieren begann. In Frankfurt hatte er den Taktstock schon 1817 eingeführt, zu gleicher Zeit verwendete ihn Carl Maria von Weber in Dresden. Spohr vollzieht als Geiger den endgültigen Bruch mit der Geigendirektion und begründet mit dem Musikdramatiker Weber eine neue Vorherrschaft des Komponisten in der Geschichte des Dirigierens. Der Schöpfer des „Freischütz“ zeigte ebenso wie sein großes Vorbild Gluck beim Durchsetzen und Aufführen seiner Werke die notwendige äußere Geschicklichkeit. Er führt eine neue Orchesteraufstellung ein, überblickt alles bis in die Einzelheiten und wendet sich mit „Einführungen“ an die Zuhörer.

Durch die Programmusik empfing die Technik des Dirigierens neue Impulse. Die dramatischen und poetischen Elemente dieser Kunst führten zu einer stark pantomimisch bestimmten Art des Dirigierens, die Hector Beriioz zum Staunen und Entsetzen seiner Landsleute zuerst vorführte. Er ist bereits der „moderne“ Dirigent, dessen ekstatisches Auftreten aber mit einer sicheren Beherrschung der praktischen Seite des Taktschlagens gepaart war. Beriioz verfaßte auch die richtungweisende Abhandlung „Die Kunst des Dirigierens“ und hat daher ein klares Urteil über die Erfordernisse. Er präzisiert sie, als er Otto Nicolai beobachten kann: „Nicolai besitzt die drei Eigenschaften, welche unentbehrlich sind, um einen vollkommenen Dirigenten zu bilden. Er ist ein gelehrter, geübter, begeisterungsfähiger Komponist, er hat Gefühl für alle Anforderungen der Rhythmen und eine vollständig klare und deutliche Technik der Bewegung, endlich ist er ein erfinderischer und unermüdlicher Veranstalter, der in den Proben weder mit seiner Mühe noch mit seiner Zeit kargt, und der weiß, was er tut, weil er nur das tut, was er weiß.'“

Von echtem Pathos beseelt ist Franz Liszt, wenn er als Weimarer Hofkapellmeister seine symphonischen Ddchtungen zur Aufführung bringt. Die freie Art des Vortrags, die er als Pianist entwickelt hat und nun auf sein Dirigieren überträgt, zwingt ihn manchmal zur Mißachtung feststehender Dirigierregeln, was ihm den Unwillen der Musiker und manche Rüge der Kritik einbringt.

Zu einer Dirigentenpersönlichkeit außerordentlicher Prägung wurde Richard Wagner. Von Jugend an mit Bühne und Orchester eng vertraut, erwarb er sich durch jahrelange Kapellmeistertätigkeit so viel Erfahrung, daß er in Verbindung mit der Kraft seiner Persönlichkeit sein Gesamtkunst-

Auch Felix Mendelssohn-Bartholdy war der geborene Dirigent. Er entriß als Zwanzigjähriger mit einer Berliner Aufführung von Bachs Matthäuspassion dieses Werk der Vergessenheit und besaß trotz romantisch verträumter Veranlagung ausgeprägte Willenskraft und das starke Mittei-lungsvermögen, um als Dirigent des Leipziger Gewandhausorchesters richtige Triumphe feiern zu können. Weniger glücklich gestaltete sich Robert Schumanns Dirigieren. Seine Dresdner Chormeistertätigkeit täuschte zwar noch über die Tatsache hinweg, daß ihm die eigentliche Begabung hierzu fehlte, doch als er in Düsseldorf seine Sehnsucht erfüllt sah und vor einem großen Orchester stand, das er in regelmäßigen Proben hätte schulen sollen, trat auch ihm deutlich ins Bewußtsein, was andere längst bemerkt hatten. Entschlossen hielt aber Schumann an der Dirigiertätigkeit fest und pflegte den lebendigen Kontakt mit der Musizierpraxis weiter. — Sein Schützling Johannes Brahms war von dem gleichen Streben nach der Tätigkeit als Dirigent erfüllt, brachte aber viel mehr Eignung mit, die sich bei seinem Wirken als Leiter des Singvereines der Gesellschart der Musikfreunde in Wien voll bewährte.

Die Reihe der großen Komponisten, die in der Geschichte der Dirigierkunst einen selbständigen Platz einnehmen, setzt sich bis in unsere Zeit fort. Ähnlich wie Wagner ist Gustav Mahler im Umgang mit Bühne und Orchester künstlerisch aufgewachsen. Seit seinem 21. Lebensjahr Mefen Dirigier-tätigkeit und Komposition nebeneinander, und beiden Aufgaben hat sich Mahler mit der ganzen Inbrunst seines Künst-lertums gewidmet. Das Jahrzehnt seiner Direktion an der Wiener Hofoper wurde für alle folgenden Dezennien zum grundsätzlichen Vorbild, weil er für seine Aufführungen die Idealforderung zum Prinzip erhob und vor keinem persönlichen Opfer zurückscheute, was ihm und seiner Umgebung manchen Zwiespalt brachte.

Ausgeglichener ging Richard Strauss ans Werk. Es hat ihm nie Schwierigkeiten bereitet, den Schreibtisch mit dem Dirigentenpult zu vertauschen und wieder in die stille Abgeschiedenheit des Komponierens zurückzukehren. Gut ein halbes Jahrhundert führte Strauss den Dirigentenstab, gelassen, unpathetisch .und sicher, nicht allein für das eigene Werk eintretend, sondern mit dem Wissen um die Geheimnisse der Komposition, ein durch ruhige Sachlichkeit überzeugender Anwalt für das musikalische Kunstwerk überhaupt.

In dieser Einstellung könnte auch ein Wegweiser für die Zukunft liegen: Besinnung auf das Schöpferische und in ihrem Gefolge eine sachlichere und bescheidenere Attitüde: indem man sich selbst ganz einfach und klar als Mittler sieht

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