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Amerikanischer und euroischer Humanismus

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Die Geburt der amerikanischen Welt fällt in ein Zeitalter tiefster religiöser, geistiger und politisch-sozialer Gärungen Europas. Die Pilgerväter, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach Nordamerika auswanderten, brachten eines der geistigen Produkte dieses Revolutionszeitalters mit, den puritanischen Calvinismus, jenes System, in welchem der Mensch der absoluten Prädestination zum Heil oder zur Verdammnis, in Furcht und Zittern rettungslos ausgeliefert wird. Es ist bezeichnend, daß moderne amerikanische Schriftsteller am Calvinismus vor allem „das erste Sytsem religiöser Unterweisung“ erblicken, „das die wirtschaftlichen Tugenden anerkannte und lobte“. Aber das war in Wirklichkeit erst das Endstadium! Der seines Heiles ungewisse Mensch konnte annehmen, erwählt zu sein, wenn es ihm mit heißem sittlichen Bemühen gelang, ein nüchternes, ehrbares, sauberes, ein „puritanisches“ Leben zu führen. Was er sich dabei, innerlich immer ein einsamer Pilger, auf dieser Welt erarbeitete, Reichtum, Wohlstand — er mochte es als Zeichen der Erwählung hinnehmen. Aber die Dialektik solcher Gedanken konnte leicht ins Gegenteil umschlagen: Wer reich wurde, war vielleicht erwählt? Also war Reichwerden eine Tugend, Reichtum das Zeichen sittlicher Vollkommenheit. In dieses „kapitalistische“ Antlitz eines säkularisierten Calvinismus schaut der moderne amerikanische Beobachter.

Hinter dieser göttlichen „Sanktion der persönlichen Rechtschaffenheit“ durch das Zeichen irdischer Erfolge steht ein optimistisches Menschenbild. Hatten Luther und Calvin den Menschen für radikal böse erklärt, die Willensfreiheit ganz oder fast geleugnet und die Vernunft ihrer königlichen Stellung im Menschen entthront, so nahmen diese beiden menschlichsten Vermögen in der neueren europäischen und- vorherrschenden amerikanischen Geistigkeit' eine „furchtbare Rache an ihrer durch die Reformatoren geschehenen gänzlichen Zurückdrängung“ (Möhler, „Symbolik“); sie zerbrachen ihre Fesseln und vernichteten schließlich das religiös-geistige Gefüge, das ihnen den gebührenden Platz nicht eingeräumt hatte*. Kenner Amerikas sprechen in diesem Zusammenhang von der A u f 1 ö s ü n g des amerikanischen Puritanismus. Sie hat sich in mehreren Wellen vollzogen.

Wenn Gottes Geist in dem Menschen ohne dessen Zutun — er war ja hiefür unfähig — Heil und neues Leben wirkte, was Luther und Calvin zunächst zur Verwerfung der alten Kirche und ihrer Tradition und zur Begründung des Glaubens allein auf die Bibel führte, so mußte dieser Gedanke, konsequent durchdacht, auch die Heilige Schrift als Glaubensquelle bestreiten und alle Glaubensgewißheit auf das „innere Licht“, auf den „inneren Christus“ begründen. Diesen Schritt vollzogen, enttäuscht durch die anglikanische Kirche der Cromwell-Zeit, die Quäker. Theologisch bekämpften sie auf das entschiedenste die Prädestinationslehre Calvins, christologisch verwischten sie den Unterschied zwischen christlicher und nichtchristlicher Geschichte, weil der Christus zu allen Zeiten und in allen Gemütern in derselben geheimnisvollen Weise als göttliches inneres Licht gewirkt hat, womit sie dem religiösen Indifferentismus vorarbeiteten, bis in der „Vernunftreligion“ des englischen Deismus die natürliche Vernunft an die Stelle des immerhin noch übernatürlichen inneren Lichtes tritt. Anthropologisch stehen sie noch auf der ersten Stufe der Reformation: immer noch gilt der Mensch als radikal böse, wenngleich das innere Licht unmittelbar nach dem Sündenfall wirksam wurde. Aber indem sie die göttliche Prädestination verwerfen, müssen sie das Menschliche anerkennen; dazu trieb sie die innere Inkonsequenz ihres Systems.

Diesem Aufstieg des Menschlichen im amerikanischen Sekten wesen des 17. und 18. Jahrhunderts kam der natürliche Optimismus der an härteste Lebensbedingungen gewöhnten Pioniere entgegen, die die Neue Welt gegen die Widerstände einer urtümlichen Natur und einer feindlichen Umwelt aufbauen mußten. Ihrer Missionierung und Bekehrung hat sich die gewaltige m e t h o d i-

Es sei hier bemerkt, daß Vernunft und Willensfreiheit in der katholischen Theologie eine positive Würdigung erfahren; sie sind das Bi)d Gottes im Menchen, das zwai durch die Sünde schwer entstellt, aber nicht vernichtet worden ist. Vernichtet wurden die übernatürlichen Gaben der Heiligkeit und Gerechtigkeit.stische Bewegung des 18. Jahrhunderts gewidmet. Sie hat endgültig mit der Lehre von dem willkürlich begnadenden und verdammenden Gott gebrochen. Aber indem der von dem wandernden Methodistenprediger Bekehrte seiner Erweckung auf Tag, Stunde und Minute genau sicher zu sein glaubte, wurde doch wieder das menschliche Ich zum Maßstab der Heilsgewißheit erhoben.

Die von den Quäkern und Methodisten begonnene Aushöhlung der geoffenbarten Wahrheiten über Gott und Mensch wurde weiter verstärkt durch die im 18. Jahrhundert auch nach Amerika hinüberschlagenden Wellen des europäischen Deismus. Thomas Jefferson, Deist und Antipuritaner, hat dem deistisdhen Glauben an Wert und Würde des natürlichen Menschen in Unabhängigkeitserklärung 1776 Ausdruck verliehen. Carl Becker bezeichnet die dieser Erklärung zugrunde liegende Naturrechtslehre als eine „Neuinterpretation der christlichen Anschauungen vom Ursprung des Menschen, seiner Natur und seines Schicksals“. Er meint, diese Philosophie stimme mit dem christlichen Glauben im wesentlichen überein. Nur leugne sie, „daß der Mensch von Natur aus der Sünde und dem Irrtum verfallen und daher unfähig sei, die Wahrheit zu erkennen oder ein gerechtes Leben zu führen“/; sie behaupte im Gegenteil, „daß die Menschen von ihrem Schöpfer mit Vernunft begabt worden seien, damit sie in fortschreitendem Maß entdecken mögen, was Wahrheit ist. (Carl Becker, j.Thomas Jeffersons Staatsphilosophie“). Der Glaube an den natürlicherweise guten Menschen findet in dem in wesentlichen Lehrbegriffen von dem dogmatischen Christentum abweichenden offiziellen Arne-rikanismus der Menschenrechtserklärung seine Renaissance. Er hat sich aus dem „heimlichen Humanismus“ zweier Jahrhunderte entwickelt. Das Menschliche ließ sich nicht vernichten.

Diese Tendenzen des amerikanischen Geistes verstärkte der breite Einbruch eines rationalistischen Humanismus, der im 19. Jahrhundert in Gestalt der „unitarischen

** Ralph B. Perry: „Vom Puritanismus zur Demokratie“, die „Amerikanische Rundschau“, 2. Heft, 1945. Archibald M. Leish: „Humanismus und Glaube an den Menschen“; ebenda, 1. Heft.Bewegung“ in Erscheinung trat; ihrö Anhänger nennen sich selbst „liberale Christen“. Sie leugnen nahezu jede Offenbarungswahrheit und vertreten einen einseitig undogmatischen, nur auf das ethisch-praktische Leben gerichteten Geist, ein Wesensmerkmal des modernen Amerikanismus. Der von der Erbsünde durchaus freie Mensch ist allein tätig. Gott überläßt ihn nach ethischer Belehrung und Verheißung des ewigen Lebens sich selbst. Hatten die Reformatoren, um Gott allein über alles zu stellen, den Menschen vernichtet und alles sittliche Wollen für ohnmächtig erklärt, so verstümmelten die Unitarier Gott, um den Menschen, seine Willensfreiheit und Vernunft über alles zu erheben, und deuteten das Christentum in Ethik um. Aus dem Unitarismus und dem von ihm begründeten liberalen Kirchentum ist eine moderne amerikanische Philosophie erwachsen und in ihr eine moderne humanistische Schule um die beiden Philosophen Ralph B. Perry und Archibald Mac Leish **. Dieser Humanismus grenzt sich selber gegen „Krankheiten, wie Bigotterie, Puritanismus u. a.“ ab, hauptsächlich also gegen wirkliche Entartungserscheinungen oder mißverstandene Phänomene der Religions- und Geistesgeschichte Europas und Amerikas; er setzt sich einem christlichen Menschenverständnis entgegen und versteht sich selber als „Glaube des Menschen an sich' selbst und an die Würde und Wichtigkeit der Stelle, die er in der von ihm bewohnten Welt einnimmt..., als Glaube des Menschen an seine eigene Würde, an seinen wesentlichen Wert als Mensch, an seinen wesentlichen Adel, an die ihm eigene Vollkommenheit“. „Wiederherstellung des menschlichen Glaubens an den Menschen“ bedeutet „Neuschaffung des Gefühls individueller Verantwortlichkeit“, bedeutet „den Glauben, daß der Mensch sein Schicksal bestimmen kann, wenn er will.“ „Damit aber wird der Mensch seiner Freiheit versichert.“ Soweit Leish.

Es ist hier nicht der Ort, die positive Bedeutung dieses Humanismus, der aus der Krisis unserer Zeit geboren ist und die große Verantwortung fühlt, die der Mensch für seine Zukunft in diesen entscheidenden Jahrzehnten trägt, für Amerika zu würdigen, seine providentielle Aufgabe, ein häretisch-christliches Menschenbild zu zerstören und einem Neuverständnis der anthropologischen Probleme Bahn zu brechen.

Aber Europa hat eine zu leidvolle Erfahrung mit seinem eigenen Humanismus gemacht, als daß es sich mit dem Glauben des Menschen an den Menschen zufrieden geben könnte. Seine Geschichte ist zu einem Gutteil die Geschichte seines Humanismus. Geboren im Spätmittelalter, war er zunächst getragen von den Kräften einer tausendjährigen christlich-asketischen Zucht, die im Mönch und im Ritter ihre typischen Vertreter, in den universalen Ordnungen von Imperium und Sacerdotium ihre Lebensform gefunden hatte. Ohne diese Ordnungen und ohne diese geistlich-leibliche Disziplinierung ist die Blüte des Menschentums der europäischen Renaissance und das Heraufkommen des Bürgers, des Hauptträgers der humanistischen Bewegung, nicht zu verstehen. Mit der Säkularisation des Abendlandes vollzog sich auch die Säkularisation des Menschenbildes. Erst im 18. und 19. Jahrhundert entsteht der Typ des „neutralen“, auf sich selbst gestellten Menschen, Ausdruck der nach oben, gegen Gott, und nach unten, gegen den Teufel, sorgsam abgesicherten, profanen bürgerlichen Kultur Europas. Aber die innere Dialektik dieser Anthropologie bringt schließlich den Umschlag ins Uber-und Untermenschliche mit sich, dessen zerstörerische Folgen wir alle erleben. Sowohl dem mechanistisch- oder biologisch-kon-struierten Kollektivmenschen des Nationalsozialismus, als auch dem Übermenschen Nietzsches fehlen die eigentlich menschlichen Züge. Romano Guardini hat die europäische Erfahrung mit dem Humanismus in unsterbliche Worte gefaßt: „Wir denken daran, wie jener, der Sohn Gottes war, sich ,Sohn des Menschen' genannt hat. So verloren ist die Position des Menschen und so göttlich groß das, was eigentlich mit ihm gemeint war, daß man sagen kann: Nur Gott bringt es fertig, reine Menschlichkeit zu verwirklichen. Wirklich Mensch zu sein ist nichts Natürliches, kein selbstverständlicher Ausgangspunkt. Den eigentlichen Menschen ?ibr es nur von Gott her.“ Er hat dies getan in seinem Dostojewski-Buch und nur anders ausgedrückt, was dieser große Russe, Europäer und Christ sagte „Nie habe ich mir die Menschen vorstellen können ohne IHN.“

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