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Anarchie oder Chaos?

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Rudolph Sohm, der bedeutendste evangelische Rechtsgelehrte, ließ 1918 sein großangelegtes Alterswerk erscheinen, das den Titel trägt „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians“. Dieses mit großer Gestaltungskraft und mitunter bezwingender Logik geschriebene Werk hat nichts mit der seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bestehenden altkatholischen Kirche zu tun. Sohm ging vielmehr von der These aus, -daß das ursprüngliche Kirchenrecht, ein Sakramentsrecht, wie er es ausdrückte, um das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts entstanden sei, und erst im 12. Jahrhundert sei der große Bruch in der römischen Kirche eingetreten, indem unter dem Einfluß der erwachenden Kanonistik die päpstliche Macht ein neukatholisches Kirchenrecht geschaffen habe, in dem nicht mehr das Sakrament entscheidend war, sondern die Ordnung und Organisation einer kirchlichen Körperschaft. Nach seiner Meinung herrschte am Anfang der Kirche eine „charismatische Anarchie“, das Charisma des einzelnen, nicht aber eine vorge gebene Ordnung, die das Leben der Kirche sicherte, das im wesentlichen auf Verwaltung und Spendung der Sakramente beschränkt blieb.

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Rudolph Sohm, der bedeutendste evangelische Rechtsgelehrte, ließ 1918 sein großangelegtes Alterswerk erscheinen, das den Titel trägt „Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians“. Dieses mit großer Gestaltungskraft und mitunter bezwingender Logik geschriebene Werk hat nichts mit der seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bestehenden altkatholischen Kirche zu tun. Sohm ging vielmehr von der These aus, -daß das ursprüngliche Kirchenrecht, ein Sakramentsrecht, wie er es ausdrückte, um das Ende des ersten christlichen Jahrhunderts entstanden sei, und erst im 12. Jahrhundert sei der große Bruch in der römischen Kirche eingetreten, indem unter dem Einfluß der erwachenden Kanonistik die päpstliche Macht ein neukatholisches Kirchenrecht geschaffen habe, in dem nicht mehr das Sakrament entscheidend war, sondern die Ordnung und Organisation einer kirchlichen Körperschaft. Nach seiner Meinung herrschte am Anfang der Kirche eine „charismatische Anarchie“, das Charisma des einzelnen, nicht aber eine vorge gebene Ordnung, die das Leben der Kirche sicherte, das im wesentlichen auf Verwaltung und Spendung der Sakramente beschränkt blieb.

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Erst nach und nach — so wieder Sohm — trat, sehr zum Schaden der Kirche, eine „Verrrechtüichuinig“ ein, die es besonders dem Papsttum leicht machte, das Recht zum entscheidenden Element zu erheben. Der große Gelehrte Gratdan, dessen Sammlung im 12. Jahrhundert ganz wesentlich dazu beitrug, den Besitzstand des kirchlichen Rechtes förmlich katalogisiert zu haben, war, entsprechend den Thesen Sohms, zugleich derjenige, der die Kirche ihres eigentlichen Wesens grundlegend zu entkleiden begann. Das also waren die Gedankengänge Sohms, die er durch reichstes Qiiel-lenmateriai zu untermauern suchte, wobei er sich allerdings einer Methode bediente, die zugleich dem Wert dieses mit großem Fleiß geschriebenen Werkes schwerstens nachteilig wurde: er suchte sich mit größter Akribie die Quellen zu seinen Thesen, nicht aber umgekehrt. Er verzeichnete damit genauso die Taitsächliehkeit. wie dies etwa Friedrich Heer mit seinen Angriffen gegen Papst Pius XII. tut. Auch er sucht pich die Belegstellen nach dem Bedarf seiner vorgefaßten Thesen aus. Es darf nicht wundernehmen, daß das große Ansehen Sohms zunächst dazu beitrug daß seine Thesen viele Anhäinger fanden und daß das Schlagwort von der charismatischen Anarchie förmlich der Schlüssel zum Verständnis der „wahren Kirche“ wurde. Es dauerte bis an den zweiten Weltkrieg heran, also etwa

bis 1936, bis in sehr gründlichen Studien sowohl durch katholische wie auch durch protestantische Gelehrte klargestellt wurde, daß Rudolph Sohm zwar ein sehr interessantes Phantasiegebilde geschaffen hatte, die Realität der Kirche jedoch von allem Anfang an nicht auf der charismatischen Anarchie basierte, sondern eine Ordnung hatte, die auf Recht und Autorität gegründet war. Gerade die Apostelgeschichte und die Apostelbriefe sind dafür der entscheidende Beweis.

Evangelische Kirche und Recht

Sohm hat also doch, wenn auch nicht mit der von ihm erdachten Idee, ganz wesentlich dazu beigetragen, daß wir seither neue und gefestigtere Erkenntnisse über Kircbenrecht, Autorität und Ordnung in der Kirche haben. Eine weitere Folge war auch, daß sich vor allem die jüngere protestantische Kirchenrecbtswissenschaft eingehend mit diesen Problemen beschäftigte und daher sehr viel dazu beitrug, daß heute in den evangelischen Kirchen dem Kirchenrecht eine viel größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Man hat erkannt, daß besonders nach dem Fortfall des Monarchen als landesherrlichem Oberbischof es notwendig war, Ordnung und Recht in der Kirche zu verankern, um dadurch von der staatlichen Abhängigkeit loszukommen. Das trug zugleich zur Stärkung der innerkirchlichen Autorität bei und bewährte sich vor allem in der be-

kennenden Kirche bei ihrem Widerstand gegen Hitler. In der katholischen Kirche stand das Problem des Kirchenrechte, trotz Sohm, nie im gleichen Maße zur Debatte, wohl aber wurde auch dort eifrige Forschung zur Widerlegung seiner überspitzten Thesen betrieben. Es darf daher nicht verwundern, daß ein Papst wie Pius XII., selbst ein sehr bedeutender Jurist, in einer Ansprache am 3. Juni 1956 in deutscher Sprache an die Mitglieder meines Institutes mit sehr feinen Worten den Vorwurf der „Verrecht-lichung“ der Kirche zurückwies und darlegte, daß das Kirchenrecht ein fundamentaler Faktor zum Schutz der Ordnung im Leben dar Kirche sei. Das Kirchenrecht hat nach diesem Papst daher auch eine wesentliche seelsargliicbe Funktion, weil es die Sichherheit der Autorität und der richtigen Anwendung der sakramentalen Gewalt gewährleistet. Als auf ein besonderes Beispiel verwies der Papst hierbei auf den heiligen Pius X., der nicht nur der Schöpfer des neuen kirchlichen Gesetzbuches war, sondern auch die Schleusen eines ungeahnten sakramentalen Lebens in der Kirche geöffnet hatte.

Rückschrittliche Progressive

Seit dem II. Vatiikanum liegen nun leider die Dinge anders. Man hat das Gefühl — und in der Kirche eilt man nie der Zeit voraus, sondern oft genug sind es gerade die sogenannten Fortschrittler, die hinterdrein nach/trotten —, daß eigentlich erst jetzt bei den sogenannten Pro-gressisten die Thesen der charismatischen Anarchie zum Durchbruch kommen. Diese anarchistischen Cba-rismaitikeT sind nun unter uns und trachten, was immer an Ordnung und Autorität in der Kirche vorhanden ist, im Namen der Anpassung an die Welt der Freiheit und des Fortschritts, ganz besonders aber der „innerkirchlichen Demokratie“, niederzureißen und mit Füßen zu treten. Dabei ist man aber keineswegs tolerant oder liberal; ganz im Gegenteil. Wenn es nach diesen Nachbut-avantgardisten geht, dann gelten zwei Grundsätze: der eine für sie selbst, der andere für jeden anderen in der Kirche. Für sie selbst gilt, daß sie keine Autorität und Ordnung anzuerkennen brauchen. Sie sind eben charismatische Anarchisten. Man fordert den Rücktritt des Papstes, dessen Vorschriften man anderseits ohnedies nicht mehr anerkennt. Das

kirchliche Gesetzbuch ist „atavistisch“. Die Freiheit des Gewissens bleibt die einzige Richtschnur. Dies alles gilt aber nur für die Oharis-matiker. Für die übrigen werden strengste Gesetze gefordert. Man sehe sich doch nur die Entwürfe für das angeblich so notwendige Laienrecht an (die so sehr „verrecbtlichte Kirche“ hat nämlich die Laien bisher fast völlig mit Vorschriften verschont, was nun von den Fortschrittlern zutiefst beklagt wird)! Oder man blättere durch den in allen Ländern aufsprießenden Wald von Synodalentwürfen. Noch nie in der kirchlichen Rechtsgeschichte sind so viele in die kleinsten Einzelheiten gehende Vorschriften gefordert worden, die selbst vor der Tisch- und Sitzordnung bei den vielgepriesenen Hausmessen nicht haltmachen. Das ist das merkwürdige Phänomen: Für sich selbst verlangt man alle nur mögliche Freiheit, für die anderen aber einen Irrgarten von Normen, die schon wegen ihrer Vielfalt undurchführbar sind.

Das ist aber nicht das einzige Problem. Es gibt heute Pfarrer, die bereits die Beichte einfach „abgeschafft“ haben. Ich kenne keinen einzigen Fall, in dem von einer echten bischöflichen Ermächtigung zur Spendung der Generalabsolution an Stelle der Ohrenbeichte die Rede sein kann. Und doch geschieht es. Sind sich diese Priester denn nicht im klaren, daß sie keine Vollmacht zur Sündenvergebung in solchen Formen

haben? Man kann das Sakrament nicht manipulieren. Ich kenne einen Fall in einer ausländischen Diözese, wo der Offizial, also der bischöfliche Gerichtspräsident, in den Laienstand zurückversetzt wurde und mit päpstlicher Dispens heiratete. Und dann bestellte ihn sein Bischof wieder zum Offizial mit dem Erfolg, daß, weil eben dieser laisierte Priester kein Amt ausüben und daher nicht Richter sein konnte, alle Urteile nichtig waren. Hat sich der Bischof keine Gedanken darüber gemacht, was für eine schwere Verantwortung er damit auf sich lud? Und hatte daher Pius XII. gar so veraltete Ansichten, wenn er meinte, das Kirchenrecht trage auch zur Sicherung der Seelsorge und der gültigen Sa-kramentenspendung bei? Man hat leider das Gefühl, daß auch der Mangel an Autorität, der dadurch entsteht, daß diejenigen kirchlichen Amtsträger, die verpflichtet sind, ihres Amtes zu walten, einfach vor Ihrer eigenen Autorität die Flucht ergreifen, entscheidend dazu beiträgt, dde Situation zu verschärfen. Man sollte sich einmal vor Augen halten, daß eine der vielen Ursachen der Reformation die Tatr sache war, daß viele von den kirchlichen Amtsträgern durch ihre geistliche und persönliche Lebenshaltung unglaubwürdig geworden waren. Wird nicht auch heute ein kirchlicher Amtsträger unglaubwürdig, wenn er der Verantwortung seines Amtes zu entfliehen trachtet?

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