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Aufgaben und Schwierigkeiten der Musikkritik

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Die Musikkritik steht zwischen dem Kunstwerk, dem Geschaffenen, und dem Publikum, den Aufnehmenden. Diese Bezeichnung ihres Standortes möge nicht dahin mißverstanden werden, als schöbe sich der Kritiker zwischen das Kunstwerk und den einzelnen, auf den ein Musikstück ja unmittelbar wirken will und kann. „Zwischen“ — das bedeutet: die Kritik wendet sich an Künstler und Publikum zugleich, ohne freilich deren „Interessen“ zu vertreten. Denn sie vertritt das Interesse der Kunst, der sie dient — auch wenn sie negativ, ablehnend ist. Musikkritik ist also nicht Selbstzweck, sondern Dienst. Mit der Preisgabe ihres Selbstzweckes ist aber noch nicht der Anspruch an Niveau, Haltung und gepflegte Außere Form des Kunstreferats, des Musikberichts aufgegeben.

Um seiner Aufgabe gerecht werden zu können, hat der Musikkritiker gewisse Vor-mssetzungen zu erfüllen, gewissen Anforderungen zu entsprechen. Im 18. Jahrhundert, als die Kunstkritik durch die Presse in die Breite zu wirken begann, urteilte der Kritiker nach festen, klassisch-ästhetischen Normen. Er war Fachmann, Spezialist und wandte sich in erster Linie an die Künstler und Schöngeister unter den Lesern, bei denen er eine gehobene Kunstbildung voraussetzen konnte. Während der Romantik eroberte der kritisierende Künstler das Feld. Er stellte sich einfühlend neben den Schaflenden, war selbst oft produktiver Künstler und Meister der Feder und nahm kultur-schöpferisch an der Entwicklung der Musik teiL Eine Reihe großer Namen bezeichnet dieses Stadium der Kritik und den Typus des Kritikern: E. T. A. Hoffmann, C. M. von Weber, Schumann, Wagner, Berlioz — bis herauf zu Debussys „Monsieur Croche“. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand eine Angleichung der beiden Typen statt, die im wesentlichen auch heute besteht: der Musikkritiker ist Fachmann und Spezialist, wendet sich aber nicht mehr an den engsten Kunstkreis, sondern schreibt im journalistisch-publizistischen Stil. Niveau, Diktion und Länge der Kritik richten sich nach dem Blatt, in dem sie erscheint (Fach-Jteitung, Wochenschrift, Tageszeitung) —

nach dessen innerem und äußerem Format. Die Pose des Kunstrichters und Kunstpapstes hat der Kritiker von heute aufgegeben (oder sollte sie aufgegeben haben!). Er will dem Künstler Freund und Helfer, dem Publikum Vermittler sein. Er soll, in seiner idealen Form, „ein Anwalt echten Lebens in der Musik und ein Anwalt echter Musik im Leben“ sein.

Fachkenntnisse sind daher die erste Voraussetzung für die Befähigung zum Musikkritiker. Er erwirbt sie sich zweckmäßig und systematisch, indem er Musikwissenschaft studiert oder sich autodidaktisch möglichst intensiv mit dem Gesamtgebiet der Musik vertraut macht. Zu diesem gehören neben der Geschichte der Musik, Harmonie-und Formenlehre auch Instrumentenkunde und Instrumentationslehre, Aufführungspraxis und noch eine ganze Reihe anderer Teilgebiete. Es wird für den Musikkritiker gut sein, wenn er sich nicht mit rein theoretischen Kenntnissen begnügt, sondern selbst einmal praktische Versuche anstellt. Zweifellos braucht er seine Befähigung zum Kritiker nicht durch eine eigene Symphonie nachzuweisen, aber er wird nicht ohne Nutzen versuchen, einmal einen Sonatensatz zu schreiben, eine Klavierbegleitung für Streichquartett zu setzen oder ein kleines Musikstück für Orchester zu instrumentieren. Daß er selbst ein Instrument, Klavier oder Geige, einigermaßen beherrscht und die wichtigsten Probleme der Stimmbildung kennt, kann angenommen werden. Er wird es aber auch nicht versäumen, einmal eine Klarinette oder ein Horn in die Hand zu nehmen, um sich selbst davon zu überzeugen, um wieviel leichter un4 sicherer sich die erstere anbläst, als das letztere. So werden theoretisches Wissen und praktische Kenntnisse seinem Urteil jene fachliche Fundierung geben, die der schaffende und ausübende Musiker vom Kritiker fordern darf und deren Vorhandensein oder Fehlen vom Musiker sehr bald erkannt wird.

So notwendig ein fundiertes Fachwissen für den Musikkritiker ist, so wenig genügt dieses allein. Darin unterscheidet er sidi vom Musikwissenschaftler. Die Musik, an die Zeit gebunden, ist die flüchtigste aller

Künste. Neue Werke muß der Musikkritiker oft nach einmaligem Hören beurteilen, ohne vor oder nach der Aufführung Gelegenheit gehabt zu haben, sich die Partitur anzusehen. Im flüchtigen Augenblick soll er sich der unmittelbaren Wirkung — dem Wesentlichen eines Werkesi — hingeben, und dabei auch Form und Technik einer Komposition erkennen, gleichzeitig soll er noch die Ausführung, die Wiedergabe beachten, um auch darüber ein Urteil abgeben zu können. Er soll also, was oft sehr schwer ist, gleichzeitig empfinden und kritisch beobachten. Dies erfordert einen empfindlichen psycho-physischen Aufnahmeapparat und eine gleichmäßige Ausbildung der seelischen und intellektuellen Fähigkeiten. Da er nicht, wie der normale Konzertbesucher — und wie er selbst wohl gerne möchte —, einmal in der Woche oder alle 14 Tage im Konzert sitzt, sondern etwa zehn Monate im Jahr fast Abend für Abend, so bedarf er zusätzlich einer bedeutenden sinnlich-geistigen Vitalität, um die vielfältigen und differenzierten Eindrücke un-abgeschwächt aufnehmen und verarbeiten zu können.

Denn der Musikkritiker muß viel hören, viel gehört haben, um vergleichen zu können. Das ist wichtig sowohl für die Beurteilung einer Komposition, als auch der Ausführung. Und hiemit kommen wir zu einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten, Problemen und Erschwerungen des „objektiven“ Urteils, die- auch dann bestehen, wenn die „idealen Forderungen“ und Voraussetzungen, von denen die Rede war, voll und ganz erfüllt sind. Wonach urteilt der Kritiker, woran mißt er eine künstlerisdie Leistung? Er urteilt nach bestimmten ästhetischen Maßstäben und mißt an großen authentischen Vorbildern. Sind diese wirklich vorbildlich, und sind jene unverrückbar, zeitlos gültig? War nicht zuerst das Kunstwerk und dann die Regel, das Kunstgesetz? Und ist nicht die ganze Ästhetik eher eine deskriptive, empirische Wissen-sdiaft, nicht aber eine normative, welche zu Urteilen a priori berechtigte? Mit den „großen Vorbildern“ aber kommen wir zu einer ganzen Reihe von individuellen Voraussetzungen und Gegebenheiten in der Person des Kritikers, die sein Urteil in hohem Maße zu relativieren drohen, die aber andererseits auch den Reiz, das Persönliche und Lebendige seiner Stellungnahme und seines Urteils bedingen.

Als Kind einer bestimmten Zeit hat der Kritiker, wie jeder Mensch, zahlreiche Jugendeindrücke empfangen, die sich mit der gleichen Intensität in späteren Jahren wohl kaum mehr wiederholen, seien esj nun Eindrücke von bestimmten Meisterwerken der Vergangenheit, von Stücken der „modernen Musik“ seiner Zeit oder von gewissen Instrumentalsolisten, Sängern oder Dirigenten. Unwillkürlich wird er an diesen Vorbildern messen, und was in seiner Jugend „modern“ und vielleicht auch höchst eindrucksvoll war, wird er nach 20 Jahren nur sehr schwer als abwegig, überholt und veraltet erkennen. Oft aber muß er gerade dieses tun und öffentlich aussprechen — und beweist damit eine sehr wesentliche Eigenschaft des Musikkritikers: elastisch zu sein, jede starre Haltung zu meiden und sich dem Neuen unvoreingenommen zu öffnen — sich selbst und seine persönlichen Neigungen im Dienste der Kunst zu überwinden. Dies aber gehört mit zum Schwersten, das von ihm gefordert wird, und gilt besonders im Hinblick auf die neue, zeitgenössische Kunst der jungen Generation. Das bedeutet natürlich nicht, daß er alles Neue, Experimentelle enthusiastisch begrüßt, wohl aber bedeutet es die Verpflichtung, dem Neuen — sobald er etwas Wertvolles spürt und eine ernsthafte, ehrliche Aussage erkennt — zu helfen und den Weg zu bereiten, wenigstens zu erleichtern. Es ist kein Fall bekannt, daß es einer verständnislosen, negativen Kritik gelungen wäre, die Verbreitung eines wertvollen Werkes zu verhindern oder einem wertlosen durch unverdientes Lob Dauer zu verleihen. Fördern aber oder zurückdrängen kann die Kritik —' und sie soll es.

Im Dienste des als wertvoll Erkannten muß der Kritiker streng, ja unduldsam sein gegen alles Unkünstlerische, Oberflächliche, Dilettantische, gegen die halbe Leistung bei Schaffenden und Ausführenden. Das ist oft nicht leicht, wenn man die Bemühung, die Anstrengung spürt, die an unsere menschlich-persönliche Teilnahme appellieren. Aber jeder Dilettantismus verstellt dem Wertvollen den Weg; wer ihn duldet oder gar favorisiert, macht sich an verantwortlicher, maßgebender Stelle mitschuldig am Niedergang unserer Musikkultur. Daß in einer Stadt mit so glanzvoller Musiktradition wie Wien die Maßstäbe strenger sein müssen als anderswo, versteht sich von selbst. Ebenso selbstverständlidi ist es, daß das Urteil des Kritikers nicht bestimmt wird durch persönliche Beziehungen, Sympathien oder Antipathien. Darüber hinaus aber ist die Objektivität der Urteils eine Frage des Anstandes. Wer dagegen verstößt, schädigt das Ansehen de: ganzen Berufes und entwertet die Kritik.

Sein Urteil legt der Musikkritiker im Musikbericht nieder. Ob dies in einer Zeitschrift, Wochen- oder Tageszeitung ge-sdiieht, wird nicht ohne Einfluß auf Form und Umfang seines Referats bleiben. Auf jeden Fall aber wird es der Musikkritiker vermeiden, entbehrliche Fachausdrücke zu verwenden und mit seiner fachlichen Bildung zu prunken. Er soll danach streben, auch Kompliziertes einfach zu sagen (und nicht umgekehrt verfahren). Er wird bestrebt sein, sein Urteil ohne Umschweife zu äußern, er wird es aber auch vermeiden, persönlich zu verletzen. Er wird ferner vermeiden, seinem Gegenstand allzu nahe „auf den Leib zu rücken“, da es ja bei der Musikkritik nicht auf ein psychologisches Porträt des Komponisten oder des Interpreten ankommt, sondern um ein ästhetisches Werturteil geht. Er soll auch niemals die sachliche Richtigkeit eines Urteils einem geistreichen oder boshaften Apercu opfern, und er soll immer wieder versuchen, sich in die Situation seines Objekts zu versetzen. Das hat mit „Farblosigkeit“ oder mangelnder Zivilcourage nichts zu tun, sondern ist eine Frage des Taktes und des guten Geschmacks, die auch bei der Behandlung geistig-künstlerischer Dinge nicht außer acht gelassen werden dürfen. Hüten wird er sich vielmehr vor der sprachlichen Schablone, vor jenem Vokabular abgegriffener, nichtssagender Wendungen, die — mit positivem oder negativem Vorzeichen — auf jede gute oder schlechte künstlerische Leistung passen. Ejn sachlich fundiertes Urteil auf persönlichtemperamentvolle Art vorzutragen, ohne seine eigene Person vor den Gegenstand zu stellen — dies soll ebenfalls als eine Aufgabe des Musikkritikers erkannt und angedeutet sein.

Bei seiner Tätigkeit begleiten den Kritiker die „Stimmen aus dem Leserkreis“. Mündlich oder schriftlich vorgetragen, £y}d für ihn diese Urteile — ganz gleich, ob positiv oder negativ — eine wertvolle und interessante Kritik der Kritik, welcher er sich niemals verschließen wird. Daß der Kritiker sich selbst und seiner kritischen Tätigkeit gegenüber kritisch bleibt, sich nicht für unfehlbar hält und einsieht, wenn er irrt, ist — neben all den genannten wichtigen Voraussetzungen — vielleicht die allerwichtigste.

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