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Auseinandersetzung mit Marx

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Unter den Sozialismen aller Spielarten ist der Marxismus dadurch gekennzeichnet, daß er nicht allein eine soziale Heilslehre sein will, sondern zuerst, wenn nicht vor allem, eine Form von Weltdeutung und Weltanschauung. So war es bisher. Der Marxismus war eine innerweltliche Religion und ausschließlich auf den Menschen bezogen. Und zwar auf den Menschen am Rande der Gesellschaft, auf den Proletarier. Diesem aber ist es nach Ansicht des Marxismus, wozu ihm die marxistische Erkenntnislehre dienlich sein soll, aufgegeben, sich selbst zu heilen. Das Wesen des Menschen aber wird — so scheint es — im Marxismus weitgehend vom Oeko- nomischen her bestimmt. Insoweit könnten oberflächliche Betrachter im Marxismus auch so etwas wie einen Panökonomismus sehen, um so mehr, als der moderne Marxismus alle Rechtfertigung aus den Indices des Lebensstandards beziehen will. Freilich ist dann der Panökonomismus marxistischer Schauweise kaum prägnanter als jener des orthodoxen Liberalismus. Das Wesensmerkmal des Menschen im Marxismus ist aber nicht das Faktum, daß er Bedürfnisse hat, deren maximale Befriedigung er durch Produktion anstrebt, so daß er, wie das Tier, mit seiner Lebenstätigkeit eins ist, ohne Kraft des Erkennens (S. 91). Das Wesen des Menschen ist auch im Marxismus von der Vernunft her begründet, die aufgerufen wird, die Wirtschaftsgüter optimal zu nutzen (S. 91). um so mehr, als sich der Mensch in der Arbeit selbst’erzeugt, ist doch die Arbeit seine Substanz (S. 147), das heißt aber: Er lebt nicht von der Gnade eines „fernen” Gottes.

Von den anderen innerweltlichen Heilslehren ist der Marxismus dadurch unterschieden, daß er nicht jenseits der Wirklichkeiten und der Gesellschaft, vor allem als Gelehrtenweisheit oder gesellschaftliches „Palaver” einer „society”, bestehen will, sondern linear darauf gerichtet ist, die Gesellschaft, die er, so wie sie ist, als defekt erklärt, völlig neu zu ordnen. Und dies nach einer vorgegebenen Programmatik, soweit nicht in der Gesellschaft als Folge des unvermeidbaren Absterbens des Kapitalismus ohnedies so etwas wie ein Prozeß der Selbstheilung aktiv ist.

Gerade bei den Versuchen einer Neuordnung der Gesellschaft als Wirtschaftsgesellschaft gibt es nun unverkennbare Kontakte zwischen den Christlichsozialen und den Marxisten. Etwa in der Auffassung von der Funktion des Eigentums oder bei der Frage von Lohn und Preis. Die Ursache dieser Kontakte ist der Umstand, daß alle Sozialismen, wenn sie nicht nur dem Namen nach „sozial” sind, zum Teil ihre Wurzel, vor allem ihren kritischen Ansatz in christlich-abendländischen Gedankengängen und Ordnungsbildern haben. Das wird dann sichtbar, wenn Christen und Sozialisten unbefangen (das heißt ohne unmittelbaren Parteibezug) an die Lösung sozialer Probleme gehen wollen.

Während mehr oder weniger intensive Kontakte zwischen Christen und Sozjalisten da sind, seit es das organisierte Bemühen um die Heilung der Exzesse des Industriekapitalismus gibt, war es bisher so, daß zwischen jenem Sozialismus, der sich Marxismus nennt, und dem Christentum kaum Kontakte bestanden. Beide, Marxismus und Christentum, sind nicht für sich Teilanschauungen, die in einem „arbeitsteiligen” Verfahren wohl nebeneinander bestehen können, sondern Weltanschauungen, wobei man dem Marxismus in einzelnen Spielarten wohl auch die Qualität einer Religion beigemessen hat, bis zur Bildung quasireligiöser Symbolkataloge (Jugendweihe) mit einem „Alten Testament” (Autor: Marx) und einem Neuen Testament (Lenin und die Revisionisten), wobei, worauf schon Dostojewskij in einem anderen Zusammenhang hinwies, sogar die Gottlosigkeit zur Religion erhoben wird.

Man muß nicht Anhänger einer primitiven Milieutheorie sein und kann trotzdem anerkennen, daß Umwelterscheinungen, etwa die Art, wie das Eigentum an den Produktionsmitteln jeweils geordnet ist, einen erheblichen Einfluß auf die Formulierung von Ideen haben können. Auch der Marxismus ist als Idee nicht unwandelbar. Im Gegenteil. Je mehr er sich etwa als Reaktion auf sozialökonomische Verhältnisse verstanden wissen will, um so stärker unterliegt er auch den Einflüssen des Wandels eben dieser Verhältnisse. Daher wird auch das Wesen des Marxismus von den Marxisten selbst in einer oft schon gegensätzlichen Weise gedeutet. Die einen sehen in ihm eine Methode der Erklärung sozialökonomischer Vorgänge, die anderen versuchen, das Weltanschauliche im Marxismus zu isolieren und gleichzeitig nur dem Oekonomischen dauernden Wert zuzuerkennen, während die Orthodoxen das Lehrgut des „Meisters” wörtlich übernehmen und sich bemühen, es mit den neuen Bedingungen abzustimmen.

Von Seiten der Kirche wird nun der Marxismus aufmerksam in seiner unleugbaren Entwicklung verfolgt. Seit Jahren. Und nicht erst seit dem Experiment Gomulka. Wenn nun von der Seite christlicher Beobachter neuerlich nach dem, was der Marxismus eigentlich ist (oder besser: s e i n w o 111 e !), gefragt wird, so insbesondere darnach, ob der Atheismus im Marxismus etwas ist, das zu seinem Wesen gehört, oder ob das Weltanschauliche und das Sozialökonomische je für sich bestehen und getrennt werden können. So wie im orthodoxen Liberalismus, der auch seinen Atheismus hat, der aber wohl für sich allein bestehen kann.

Die Analyse wird heute dadurch erschwert, daß fast jedes Land schon seinen Marxismus hat. Wozu noch kommt, daß die Entwicklung in der Sowjetunion, die auf eine „Liberalisierung” des Marxismus hinzudeuten scheint, die den ganzen Marxismus zu wandeln vermöchte, für uns völlig undurchsichtig und oft nur den Deutungen von Wahrsagern ausgesetzt ist.

Im deutschen Sprachgebiet hat sich, nach dem Ableben von Theodor Steinbüchel immer mehr hervortretend, Marcel Reding um ein Verständnis der marxistischen Positionen bemüht und hat, „rechts stehend, aber links denkend”, als Theologe wie als Moralist das marxistische Gedankengut bis an seine Wurzel untersucht. Gegenüber dem Werk Redings fallen die jüngsten Untersuchungen von Walter Bredendieck („Christliche Spzialreformer”) und Emil Fuchs („Marxismus und Christentum”), die beide mit vorgefaßten Meinungen an das Problem herangehen, stark ab. Freilich kann den Ansichten von Professor Reding auf der anderen Seite entgegengehalten werden, daß erst in diesen Wochen in Ostdeutschland offiziell ein Buch verbreitet wird, das der deutsche Marxist Georg Klaus herausgebracht hat. Unter dem Titel „Jesuiten, Gott, Materie” wird in der Art eines intransigenten Atheismus eine Abrechnung mit der katholischen Philosophie versucht, ebenso wie dies die offizielle Führungszeitschrift des Weltkommunismus, „Der Kommunist”, seit geraumer Zeit wieder unternimmt, wohl davon ausgehend, daß das sozialökonomische Gedankengut und der marxistische Atheismus als ein komplexes Ganzes zu verstehen sind.

Das Ergebnis langjähriger Studien Marcel Redings (der nun nach einer kurzen Tätigkeit an der Grazer Universität in West-Berlin lehrt) liegt nun in einer umfangreichen Untersuchung über den „Politischen Atheismus”, das heißt die marxistischen Atheismusthesen, vor, der eine thematisch ähnliche Broschüre des gleichen Verfassers, „Thomas von Aquin und Karl Marx” (Grazer Antrittsrede), vorangegangen ist.

In einer thomistisch-aristotelischen Nüchternheit, fern von vorgefaßten Meinungen, lediglich von den Tatsachen und Dokumenten ausgehend, zeigt Reding in einer vornehmlich religionsphilosophischen Untersuchung, daß der Marxismus ein Produkt seiner Zeit ist und nur aus den besonderen Bedingungen, die lediglich zur Zeit seines Entstehens geherrscht haben, erklärt werden kann. Daher ist der Atheismus im Marxismusmus nach H. Reding wohl erklärbar, aber nicht systembedingt, sondern lediglich zweckgerichtet und von der Situation bestimmt. Im Anfang war der Marxismus antichristlich, seine Thesen waren geradezu antitheologischer Natur. In einem Fortgang der Kritik der Kirche, wie sie der junge Marxismus vorfand, wurde aus der antichristlichen Haltung eine atheistische. Der marxistische Atheismus war von politischer Qualität, weil er in der politischen Argumentation mitverwendet wurde. Die Erheblichkeit des Atheismus hat aber mit dem Wandel der Situation soweit abgenommen, daß, nach Ansicht des Autors, heute, wenn man geschichtliche Situationen in ihrer Bedeutung nicht verabsolutieren will, kaum noch einzusehen ist, worin die Notwendigkeit einer Gemeinsamkeit von marxistisch-sozialökonomischer Ideenlehre und dem klassischen Atheismus bestehen soll.

Auch die Kirche hat ihren „Beitrag” zum Entstehen des Marxismus, soweit er Atheismus geworden war, geleistet. War doch die Kirche für viele als lehrende wie auch als wirtschaftende Institution nicht selten eine kaum verdeckte Form der Rechtfertigung der Mißbräuche Privilegierter, war sie doch nach der Meinung vieler Herrschender eine Kultinstitution großbürgerlicher Schichten, Staatskirche, Bürgerkirche, Klassenkirche (S. 23). Dazu kommt, worauf schon Bruckmöller SJ. hingewiesen hat, daß der Gott, gegen den der Diamat gerichtet ist, nicht der Gott „echten Christentums” ist, sondern der Gott der Aufklärung.

Die Auseinandersetzungen zwischen der Kirche des 19. Jahrhunderts und dem jungen Marxismus wurden von Seite der Kirche mit theologischen Argumenten geführt, so daß die Auseinandersetzungen sich jenseits der tatsächlichen Anliegen bewegten. Das, was den Marxisten als Christentum sichtbar war, schien ihnen weiter nur Aberglaube (der stets als Abfallprodukt eines Glaubens da sein wird), so daß der antikirchliche (und schließlich antigöttliche) Affekt des Marxismus Ausweis eines falschen Bewußtseins war.

Ja noch mehr: Die Religion (jede Religion) war dem Marxismus scheinbar nur ein Instrument der Knechtung, ein Narkotikum, geeignet, die Menschen jenseits des Wirklichen in einer phantastischen Welt zu verklammern, in der jene Zustände herrschen, die auf dieser Welt bestehen sollen, aber nicht gegeben sind (S. 123). Der Marxismus will die sozialökonomischen Bedingungen des Bestehens der Religion und damit die Religion aufheben. Nicht die Religion „an sich”, sondern die Religion, weil sie vorgetäuschtes Glück an Stelle des wirklichen Glückes ist, weil sie nicht „reine Idee” ist, sondern ein Versuch, den Menschen am gerechtfertigten Widerstand gegen den Zustand der Ausbeutung zu hindern und ihn dazu noch zum Ausgleich in em Schuldgefühl gegenüber außerweltlichen Mächten (Göttern) abzudrängen.

Die Kirche schützt nach dem Marxismus auch die bestehende und in sich ungerechte Eigentumsordnung, während erst die Aufhebung einer Ordnung, in welcher der einzelne willkürlich ohne Bedachtnahme auf die Mitmenschen Eigentum nutzen kann, die Selbstentfremdung des Menschen aufzuheben vermag. Der Mensch aber muß aus den Einflüssen der Religion wie der von ihr verteidigten Ausbeutung in sein naturbedingtes Menschsein entlassen werden. „Bisher” (bis zum Marxismus) war es so, daß der Arbeiter (als der „typische” Mensch) zwar ein menschliches Wesen, ebenso wie die Arbeit ein dem Menschen Zugehöriges war, aber die Bedingungen, unter denen dienstnehmerisch gearbeitet wurde, unmenschliche waren (S. 142).

Der Autor gibt keine Rezepte, aber auch keine Hoffnungen derart, daß er mit den gewandelten Bedingungen das Heraufkommen eines „getauften Marxismus” erwartet. Was der Verfasser zeigt — und darin liegt auch das Anliegen seines Buches — ist die Tatsache, daß im Marxismus der Atheismus und das Sozialökonomische je für sich bestehen können und daß der Marxismus ohne Atheismus wahrscheinlich nichts von seinem Wesen verloren hätte. Um das beweisen zu können, muß man, wie Marcel Reding dies tut, Schichte um Schichte vom Denkgebäude des Marxismus, wie es uns sichtbar ist, abheben. Sind aber die Wurzeln bloßgelegt, so scheint es, wie der Autor glaubt, daß der Atheismus im Marxismus ein Zufälliges ist. Das heißt: Wäre der Marxismus etwa in unseren Tagen angesichts des Aufbruches eines sozialen Katholizismus entstanden, er hätte in der Sache von Religion und Kirche er- heblicIF andere Annahmen. So aber verfiel der Marxismus dem Sog aufklärerischer Thesen und sah (sieht) das Religiöse als „unwissenschaftlich” an, und den Himmel als ein phantastisches Gebilde, geboren aus den Wünschen der Menschen, die in der Elendszone leben (S. 167).

Mit der Frage, ob nicht der Marxismus auch ohne den Atheismus gedacht werden kann, ist auch die Frage nach der Weiterentwicklung des Marxismus gestellt, von dem angenommen werden kann, daß er weder als Ganzes liquidiert wird noch erhalten bleiben kann. Schon die Neigung der Gesellschaft zum Machtgleichgewicht bringt Machtgebilde auch auf Seite der Arbeitnehmer hervor, die sich ihre interessenbefangenen Ideologien schaffen. Diese werden im Konzept stets auch Prinzipien enthalten, die dem Marxismus als sozialökonomische Heilslehre wesentlich sind, Die Bedingungen des 20. Jahrhunderts sind aber andere als die des 19. Jahrhunderts. Ganz abgesehen vom 18. Jahrhundert, dessen Denkweisen der Atheismus des Marxismus entlehnt wurde. Der Wandel der technischen und sozialen Strukturen vollzieht sich rascher denn je, so daß tatsächlich die marxistischen Ideen dem „Unterbau” der sozialökonomischen Wirklichkeit kaum mehr zu folgen, geschweige denn dogmatisch starr zu bleiben vermögen (S. 169).

Wenn die alten Marxisten annahmen, daß sich mit der Realisierung des Sozialismus die Religion, das heißt das religiöse Denken, von selbst aufhebe, da es eben dann keinen Bedarf gebe, diesseitige Wünsche ins Jenseitige zu projizieren, so heißt dies zweierlei verkennen: Erstens, daß das Religiöse der Natur des Menschen eingeboren ist, und zweitens, daß es auch in einer Gesellschaft, von der man sagen könnte, sie stelle die Verwirklichung des Sozialismus dar, Wünsche gibt, die unbefriedigt bleiben. Marxisten, die von einer Sünden- wie wunschlosen sozialistischen Gesellschaft träumen, beweisen nur, wenn sie ihre Träume literarisch verwerten, wie weit sie von der Wirklichkeit der Dinge entfernt sind und wie wenig sie etwa mit den Menschen in Kontakt sind. Sie werden dann „unverbesserliche Dogmatiker”, die das Leben, wie ein Molotow, so haben wollen, wie es sein soll, und es nicht nehmen, wie es „normal” ist (Nehru), die eine Kunstblume haben wollen und nicht die „hundert Blumen” Maos.

Die Kirche wieder hat sich weitgehend ihrer unleugbar vorhandenen klassenmäßigen Bindungen entäußert. Das Bekenntnis zu ihr — wer vermöchte das auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre zu leugnen — kann, ja wir dürfen sagen, muß mit dem Bekenntnis zu einer Sozialreform verbunden sein und ist keine „Träumerei”, welche die Sozialreform behindert (S. 171).

Ob der Marxismus ein Teil der Heilsordnung sein, ob es in einer „sozialistischen” Gesellschaft eine starke Religiosität geben wird (E. Böse), wissen wir nicht zu sagen. Was wir aber wissen ist dies: Das Gespräch zwischen Katholiken und Marxisten ist ein Wagnis, auch heute. Es ist aber geboten und kein Widersinn, ganz abgesehen vom seelsorglichen Anliegen, vom Willen, auch die Selbstentfremdung der Kirche in den Standorten der industriellen Fertigung zu beseitigen.

Niemand kann von einer „Taufe” des Marxismus sprechen. Zu taufen sind nur Menschen. Ein Ideensystem, das nach Isolierung von einem vielleicht wesenswidrigen Atheismus noch als eine Art „Rest- Marxismus” dasteht, ist eine Summe wirtschaftspolitischer und sozial bedeutender Formeln, ein politisches Instrument, das als Ganzes weder christlich noch antichristlich sein muß.

Marcel Reding hat es also vermieden, ein Rezept zu geben, wohl aber die Materialien für ein neues Verständnis für das, was sich heute noch Marxismus nennt. Da der Autor nicht allein Bücherwissen verarbeitet, sondern sich selbst an die Brennpunkte der Auseinandersetzungen begeben hatte und in offenem Gespräch die Stellungnahme von Repräsentanten der Gegenseite kennenlernen konnte, hat sein Buch den Charakter einer lebendigen Auseinandersetzung, die uns allen nicht erspart bleiben wird.

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