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,Bedeutung hat auch die Frustration../

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Der bekannte Pädagoge O. F. Bollnow äußerte 1955 in einer Abhandlung über den „Einfluß anthropologischer Einsichten auf das Erziehungsdenken“ die Ansicht, daß es eine philosophische Anthropologie, die nach dem Wesen des Menschen fragt und von hier aus alle seine empirisch festgestellten Einzelzüge einheitlich zu begreifen sucht, nicht gebe. Die philosophische Anthropologie sei ein Programm geblieben, das M. Scheler sehr eindrucksvoll formuliert, aber niemals durchgeführt habe. Nach seinem Tode sei die lange vorbereitete Bewegung einfach überrannt worden, weil eine andere philosophische Strömung sich in den Vordergrund geschoben habe, nämlich die Existenzphilosophie, die mit Heideggers „Sein und Zeit“ (1927) zuerst in breitere Kreise gedrungen sei. „Insofern hat also“, so meint Bollnow in der genannten Abhandlung, „die philosophische Anthropologie gar keine Zeit gehabt, sich im Erziehungsdenken als fruchtbar zu erweisen.“ Für die Pädagogik mag die Situation damals so gewesen sein, wie sie Bollnow darstellt. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß etwa schon zur selben Zeit gerade jenes „Programm“ Schelers zusammen mit der Phänomenologie Husserls um so entschiedener von der modernen Psychotherapie aufgegriffen, weitergeführt und mit der Gedankenströmung der Existenzphilosophie Heideggers und Jaspers' zusammengeführt wurde (Binswanger, Gebsattel, Frankl). Der in diesem Bereich. stets vorhandenen „anthropologischen Intention“ (P. Polak) Rechnung tragend, hat die psychotherapeutische Forschung einen entscheidenden Beitrag zu einer „Wissenschaft vom Menschen“ geleistet. Hier hätte die Pädagogik wertvollste anthropologische Einsichten vorgefunden. Es konnte aber nicht ausbleiben, daß sich schließlich auch die Pädagogik, durch die allgemeine Zeitsituation und ihre eigene wissenschaftstheoretische Problematik veranlaßt, der anthropologischen Fragestellung zuwandte, wenngleich sie zunächst auf einer anderen Spur wandelte. Immerhin hat der Bonner Pädagoge J. Derbolav den erziehungswissenschaftlichen Fortschritt damit zu bezeichnen versucht, daß die Pädagogik begonnen habe, sich auf ihre anthropologischen Grundlagen zu besinnen (1966). Als einen maßgeblichen Grund für das anthropologische Bedenken pädagogischer Fragen führt H. Roth, einer der entschiedensten Verfechter einer Pädagogischen Anthropologie, den Umstand an, daß alle großen pädagogischen Systeme „implizit“ eine (mehr oder weniger bewußte) pädagogische Menschenkunde enthalten. Deshalb sei es an der Zeit, daß dieses „Menschenkundliche“ als ein besonderer, aus-gliederungsfähiger Teil der Pädagogik erkannt und als eigener Aspekt, ja als eigene Disziplin gepflegt werde.

Es geht also, wie wir meinen, darum, das sowohl in den verschiedenen Entwürfen zu einer Allgemeinen Pädagogik als auch in den zahlreichen pädagogischen Einzeluntersuchungen enthaltene „implizite Menschenbild zu explizieren“, wie dies V. E. Frankl für die Psychotherapie fordert. Damit stehen wir vor der gleichen Situation, die wir auch im Bereich der verwandten praktischen Wissenschaft, der Psychotherapie, antreffen. Deshalb hätte für die Pädagogik jene Forschungsrichtung besondere Bedeutung gewinnen müssen, deren Anliegen es war, „das unbewußte, implizite Menschenbild der Psychotherapie bewußt zu machen, zu explizieren“ (Frankl). Trotzdem hat man diesen Weg, der zu einem fundamentalen Uberdenken anthropologischer Fragen und damit zu einem Selbstverständnis des Menschen führt, zunächst nur zaghaft beschritten, obwohl schon F. W. Foerster in seinen „Hauptaufgaben der Erziehung“ (1959) die pädagogische Auswertung der Forschungsrichtung V. E. Frankls nahelegte. Wenn auch H. Roth mit seiner 1966 erschienenen Pädagogischen Anthropologie der Beschäftigung mit der anthropologischen Fragestellung bedeutende Impulse gegeben hat, so ist doch die unverständliche Tatsache zu vermerken, daß er in seinem Werk der Frage aus dem Wege geht, die schon der vor ihm wegen seiner „realanthropologischen“ Einstellung geschätzte Pestalozzi gestellt hat: „Der Mensch in seinem Wesen, was ist er?“

Erst die radikal ernstgenommene Erkenntnis, daß in der modernen Industriegesellschaft die Ratlosigkeit und Krise der Erzie-hungs- und Bildungstheorie vornehmlich von der Ratlosigkeit hinsichtlich des Menschen herrührt, rief eine Reihe von Pädagogen, zu denen sich auch der Verfasser dieser Zeilen rechnen darf, auf den Plan und führte dazu, daß diese ihre Aufmerksamkeit „Viktor E. Frankls Existenzanalyse und Logotherapie als Beitrag zu einer anthropologisch fundierten Pädagogik“ schenkten, um es kurz mit dem Untertitel eines umfassenden Werkes von F. Schlederer zu bezeichnen. Nicht zuletzt dienen diese Bemühungen der Abwehr der gerade durch die Außerachtlassung anthropologischer Einsichten sich einstellenden Trends zur Reduktion pädagogischen Denkens und Handelns, die zu einer Flucht in die „Technologie der Erziehung“ führt (J. Flügge). „Nur wenn es uns gelingt“, sagt der Münchner Pädagoge M. Keilhacker in seiner „Pädagogischen Orientierung im Zeitalter der Technik“ (1958), „wieder die ganze Fülle des Menschseins in uns lebendig werden zu lassen, die Körper, Seele und Geist in gleicher Weise umfaßt, sind die Voraussetzungen für eine neue Kultur, auch für eine dem Zeitalter der Technik entsprechende Kultur gegeben, nicht aber, wenn wir die Fülle und Mannigfaltigkeit so lange reduzieren, bis sie naturwissenschaftlich erfaßbar werden.“

Soll es der Pädagogik heute gelingen, die Erkenntnis zu festigen, daß sie „vom Menschen als Person, als einem unteilbaren Ganzen, nicht abstrahieren darf“ (H. Roth), dann wird sie auf die Logotherapie Frankls rekurrieren, die der vollständigen Dimen-sionalität des menschlichen Daseins Rechnung trägt. Ebenso wird sie nur dann dem „Versinken der Pädagogik im Psychologismus“ (Ed. Spranger), wie in allen anderen Reduktionismen, entgehen, wenn sie gegenüber einer simplifizierenden und voreilig verallgemeinernden Betrachtungsweise auf der Hut ist, die Frankl als „gelehrten Nihilismus“ entlarvt. Gerade der Pädagoge sollte Frankls Überlegung ernst nehmen, „was es für einen jungen Menschen bedeutet, wenn zynisch erklärt wird, Werte seien ,nothing but defense mechanisms and reaction formations' (nichts als Abwehrmechanismen und Reaktionsbildungen), wie es im American Journal of Psychotherapy heißt.“

Es mag viele Ursachen für die Schwierigkeiten mit der heutigen Jugend geben. Immer mehr setzt sich aber die Erkenntnis durch, daß auch der geistigen Frustration große Bedeutung zukommt. „Die Welt langweilt sie“, sagt H. H. Muchow einmal. Wir verstehen die Erscheinung um so besser, seit Frankl gezeigt hat, wie sehr „sich anscheinend des Menschen von heute jenes Sinnlosigkeitsgefühl bemächtigt“, das er als das „existentielle Vakuum“ bezeichnet. Und es bestätigen ihm auch schon tschechoslowakische Psychiater, daß diese Krankheit von heute, der Verlust des Lebenssinns, besonders bei der Jugend, ,ohne Bewilligung' die Grenzen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung überschreiten“.

Wenn der Erziehung, wie H. Roth in seiner Pädagogischen Anthropologie meint, nicht nur die Frage gestellt ist: „Wie verhelfe ich dem Menschen zu seiner Selbstverwirklichung im Sinne der Bestimmung des Menschen überhaupt?“, sondern auch die zweite: „Wie verhelfe ich ihm zu seinem optimalen Menschsein in unserer Zeit ?“, dann ist die Pädagogik dazu angehalten, sich mit der modernen medizinischen Anthropologie, insbesondere mit dem Anliegen der Existenzanalyse Frankls als anthropologischer „Explikation personaler Existenz“, zu beschäftigen.

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