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Befreiung von der Ideologie

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Die Demokratie als der Inbegriff einer Gestaltung des Gemeinschaftslebens, die sich in Freiheit, Gerechtigkeit und — aus beiden erwachsen und durch sie verbürgt — in Sachlichkeit vollzieht, ist die zugkräftigste politische Parole unserer Tage. Es gibt keine Partei von Bedeutung, die glaubte, ihrer entraten zu können, kaum ein Regierungssystem, das es wagen würde, den in ihr beschlossenen Idealen offen den Kampf anzusagen. Ist dergestalt die Demokratie zum nachgerade für selbstverständlich erachteten Strukturprinzip jedes sozialen Organismus geworden, so stellt sie zugleich das nie völlig erreichte Hochziel dar, von dem di Wirklichkeit des politischen Alltags ihre Impulse empfängt und ihre stete Korrektur erfährt.

Damit ist ihr freilich eine Aufgabe zugewiesen, der sie erst dann gerecht zu werden vermag, wenn einmal jene tiefgreifenden Divergenzen überwunden sind, die gegenwärtig bei dem Bemühen, das Wesen der Volksherrschaft zu bestimmen, sichtbar werden und die es ermöglichen, diese als willkommenes Aushängeschild zur Tarnung bloßer Machtinteressen zu mißbrauchen. Nicht als ob die Subsumierung einer Vielzahl (hinsichtlich ihrer weltanschaulichen Fundamentierung wie in ihren praktischen Auswirkungen) stark voneinander abweichender Staatsideen unter den Namen der Demokratie schon als solche ein unlauteres Beginnen darstellte und den Verdacht bewußter und gewollter Vernebelung der Gehirne wachrufen müßte. Die Ausweitung eines bislang verhältnismäßig eng umgrenzten und scharf umrissenen Begriffs mag dazu angetan sein, mancherlei Verwirrung, vielleicht sogar Unheil anzurichten; als unstatthaft wird sie nur dann zu gelten haben, wenn sie sich als ein Akt der Willkür erweist. Wie wenig dies aber im vorliegenden Fall zutrifft, erhellt aus der Tatsache, daß sich in der Neu- nrägung der Idee der Demokratie in voller Klarheit jener Natur- wie Kulturwissenschaft gleicherweise entscheidend bestimmende geistige Prozeß der letzten Jahrzehnte widerspiegelt, dessen charakteristisches Merkmal die Überwindung des mechanistischen Denkens ist. Vordem weithin Ausdruck einer Geisteshaltung, die Wesen und Entstehung menschlicher Gemeinschaft nicht anders als additiv, das heißt als Zusammenschluß isolierter Individuen zu begreifen imstande war, hat der demokratische Gedanke seither die ihm von Haus aus eignenden Erkenntnisse mit solchen zu verbinden gewußt, die auf dem Boden des Konservatismus, seines einstigen bedeutsamsten Widerparts, emporgereift waren. Und in demselben Maße, in ! dem er darauf verzichtete, seine Sympathie für revolutionäre Entwicklungen zu bekunden, begann jene tiefeingewurzelte iSkepsis zu schwinden, mit der man ihm von seiten derer begegnete, die es aus innerster Überzeugung ablehnen, sich über ‘schicksalhaft Gewordenes gewaltsam hin- iVegzusetzen.

So steht am Beginn des uns durch das Waditgebot der Stunde gewiesenen demokratischen Weges als gutes Omen die sich anbahnende Überwindung von Gegensätzen, di einst für unversöhnlich galten. Ihr Dauer zu verleihen, dazu bedarf es freilich eines auch durch Rückschläge und 'Enttäuschungen nicht za beirrenden Willens zur Realisierung des Gemeinschaftslebens kn Sinne des h-er als im Prinzip .möglich und notwendig Erkannten. Daß die Lebensformen der Länder mit alter demokratischer Tradition bei einem solchen Bemühen als Vorbild dienen können, stellt gewiß eine willkommene Hilfe dar. Nur ist mit einem sklavisch getreuen Nachahmen äußerer Institutionen noch gaf nichts getan; alles kommt vielmehr darauf an, den Geist wirksam werden zu lassen, der sich in ihnen manifestiert.

Indessen gerade hier tun sich nun insofern entscheidende Schwierigkeiten auf, als eine Übereinstimmung darüber bislang nicht zu erzielen war, welcher der großen Ausprägungen abendländischen Geistes als ihrem Mutterboden die demokratische Idee zuzuordnen sei Jedenfalls ist das, was namhafte Forscher zur Aufhellung des wahren Sachverhalts erarbeitet haben, noch zu wenig bekannt, um jene vulgäre Meinung, die in ihr ein typisches Produkt der Aufklärung sieht, zu erschüttern. Selbst eine so augenfällige Tatsache von tiefer Symbol- baftigkeit wie die, daß den Fahnen einer Reihe von Ländern urtümlich demokratischen Charakters — es sei nur an die Schweizer Eidgenossenschaft und die skandinavischen Staaten erinnert — das Kreuz aufgeprägt ist, blieb weithin unverstanden. Und doch wäre sie allein schon Mahnung genug, das herrschende Fehlurteil einer Revision zu unterziehen. Einst freimütiges Bekenntnis des in diesem Zeichen stehenden Glaubens, versinnbildlicht sie die bis zur Stunde in den genannten Nationen, allen inzwischen eingetretenen Wandlungen zum Trotz ungebrochen fortwirkende Macht einer Religiosität, die vielleicht da und dort ins Säkulare verkümmert ist, sich aber doch ihres Ursprungs aus dem Born des christlichen Heilsgutes bewußt bleibt. In ihr gründet das Geheimnis jener vielbewunderten und vielbeneideten Volksgemeinschaft, die ohne die im christlichen Persönlichkeitsgedanken wurzelnde Wertung des Mitmenschen keinen dauernden Bestand haben könnte, in ihr jenes Sichverantwortlichwissen auch dem Fremden gegenüber, dessen praktische Auswirkung in Gestalt großzügiger Hilfsaktionen in Not geratene Völker wie das unsere heute beglückend erfahren dürfen.

Vielleicht ist es aber erlaubt, noch von einer anderen Betrachtung aus die These von der Herkunft wahrer Demokratie aus christlicher Geisteshaltung zu untermauern. Unbestritten bildet die Idee der Volkssouveränität den zentralen Inhalt jeder sich als demokratisch bezeichnenden politischen An schauung. Nun will es uns aufschlußreich erscheinen, daß eben diese Idee in der christlich-abendländischen Welt erstmalig in dem Zeitpunkt bedeutsam wird (freilidi ohne die gewaltige Konzeption des Corpus Christianum unwirksam machen zu können, vielleicht sogar ohne dies zu wollen), in dem der Glanz des heiligen .Reiches zu verblassen beginnt und an dessen Stelle allgemach geschlossene Territorial- und Nationalstaaten als Vorboten des modernen Staates treten. Indem nun diese die Tendenz in sich trugen, eine schlechthin alles bestimmende Gewalt für sich zu beanspruchen, erhob sich drohend die Gefahr ihrer Erhebung zu letztgültigen Werten von metaphysischer Dignität. Konnte es unter den gegebenen Verhältnissen ein wirksameres Mittel geben, die neuentstandenen politischen Gebilde vor einer Verabsolutierung ihrer selbst zu bewahren, als indem man sie mit Hilfe des Gedankens der Volkssouveränität bewußt im Diesseits verankerte? So gesehen bedeutet dann Demokratie das letztlich christlichen Impulsen entstammende Beginnen, einer unheilvollen Vermengung von Reich Gottes und Reich dieser Welt zu wehren.

Daß hier ein Weg beschritten wurde, der mit dem Anliegen des Glaubens, von dem er seinen Ausgang nahm, zugleich dessen ganzes Wagnis in sich schloß, ist deutlich. Indem die demokratische Idee bewußt darauf verzichtete, der von ihr gestalteten politischen Wirklichkeit religiöse Weihe zu geben, unterlag sie in erhöhtem Maße der Gefahr, ihrem christlichen Mutterboden zu entfremden. Und nun setzt jene Entwicklung ein, die hier die Herabwertung des Staates zu einer bloßen Zwangsordnung zeitigt, dort eine immanente Erlösungs- erwammg entstehen läßt, wie sie in den mit schier religiöser Inbrunst verkündeten sozialistischen Zukunftsbildern sichtbar wird. Vergebens versucht die Staatsphilosophie des deutschen Idealismus, ihr Einhalt zu gebieten, fehlt doch ihr selbst aufs große Ganze gesehen jene Erkenntnis von der letzten Fragwürdigkeit jeder irdischen Institution, die allein imstande gewesen wäre, den in seinem Charakter als höchstes Organ der Wert Verwirklichung neu bestätigten Staat vor der Hybris de; Selbstvergottung zu bewahren.

Seither ist eine ehedem festgefügt scheinende Welt zusammengebrochen. Die Aufgabe, aus ihren Trümmern politisch ein Neues erstehen zu lassen, hat das Schicksal der Demokratie zugewiesen. Geläutert im verzehrenden Feuer eines leidvollen Geschehens von früher kaum vorstellbarer Furchtbarkeit, steht diese heute in der Besinnung auf ihr ureigenstes Wesen. Als deren bis nun bedeutsamstes Ergebnis dürfen die Ansätze zu einer Revision der traditionell distanzierten Haltung gegenüber Religion und Kirche gelten, wie sie sich gegenwärtig in den Reihen der 'S ozialdemo- k r a t i e vollzieht. Vielleicht kündet sich auch hier etwas von jener Entideologisie- rung an, wie wir sie erhoffen und erstreben: der Befreiung unseres politischen Denkens von der Fremdherrschaft unheil- schwangerer Philosopheme und der Rückkehr in die Heimat des christlichen Geistes.

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