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Biologie und Materialismus

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Mit dem Schlagworte „Biologie“ wurde in Verlauf der letzten Jahre so viel Mißbrauch getrieben, daß es wohl angezeigt erscheint, sieh Ober einige Grundsätze und Grundfragen der Biologie Klarheit zu verschaffen. Viele politische Schlagworte, so manche tendenziöse Propaganda gab vor, eine notwendige Forderung auf Grund wissenschaftlicher Ergebnisse zu sein. Dazu der programmatisch gefärbte „Biologieunterricht“ in den Schulen. Es mag vielleicht befremden, daß ich hier gerade den Materialismus in Beziehung zur heutigen Biologie bringen möchte. Nichtsdestoweniger bin ich der Meinung, daß es im Grunde genommen rein materialistische Maximen sind, die bis in die jüngste Zeit hinein eine maßgebende Rolle im Denken der führenden Kreise spielten. Daß diese Maximen als Produkte des Materialismus zunächst nicht kenntlich waren, rührt von einem gewissen Mystizismus her, den man mit dem reinen Materialismus glaubte verquicken zu müssen. Vielfach war daher die Meinung vertreten, als ob es gerade der starke Aufschwung der Biologie sei, der dies alles mit sich gebracht hätte. Daß man hiebei wohlbegründete Tatsachen mit Theorien und Vermutungen durcheinanderwürfelte und alles das dem willigen Zuhörer als wohlbegründetes Ergebnis einer exakten Wissenschaft servierte, führte zu einer sehr verbreiteten irrigen Vorstellung über das Wesen der Biologie. Es wird vielleicht noch lange Zeit in Anspruch nehmen, bis diese Irrtümer aus dem Denker* der Bevölkerung verschwunden sein werden. Einer der verbreitetsten und verhängnisvollsten Irrtümer ist nun eben der verbreitete Glaube, jede Naturforschung, jedes Ergebnis der Naturwissenschaften müsse notgedrungen eine materialistische Weltanschauung mit sich bringen. Das würde an und für sich voraussetzen, daß die eingehende Beschäftigung mit jedem materiellen Ding notgedrungen zu einer materialistischen Weltanschauung • führen müßte. In stärkerem Maße als bei der Biologie müßte sich das in Physik und Chemie auswirken. Denn dies sind ja die eigentlichen Wissenschaften der Materie und des materiellen Geschehens. Jedoch ist auf diesem Gebiete die Frage niemals so brennend gewesen wie in der Biologie.

Genau wie in der Philosophie ist in der Biologie der Mensch nicht nur das Subjekt der Wissenschaft, als der denkende Beobachter. Er ist zugleich auch das Objekt der Wissenschaft, das Beobachtete. Wenn ich eine Farbenempfindung studiere, so versuche ich etwas kritisch zu analysieren, was sich an mir selbst abspielt. Ich bin also selbst das Objekt meine Beobachtung. Auch wenn ich das Leben eines Tieres oder einer Pflanze studiere, so zwingen mich die dabei gewonnenen Erfahrungen zu Rückschlüssen und Vergleichen mit meinem eigenen Leben. Oft ist gesagt worden, der Naturforscher soll bei seinen Naturerkenntnissen bleiben und das Philosophieren sein lassen. Dieser Satz ist absolut unrichtig. In dem Augenblick, in dem der Naturforscher über die an seinem Objekt gemachten Feststellungen hinausgeht und diese miteinander in gedankliche Beziehungen setzt und sie zu begründen versucht, betritt er bereits den Boden der Philosophie. Demnach ist es klar, daß jede Wissenschaft — so auch die Biologie —, wenn sie nicht bloß eine sinnlose Anhäufung von Feststellungen betreiben will, in die Philosophie einmünden muß. Ja, selbst schon die Frage nach der Gültigkeit der Wahrheit einer Feststellung ist im Grunde genommen ein erkenntnistheoretisches Problem und daher Gegenstand der Philosophie. So empfängt die Philosophie aus allen Teilgebieten ihre Anregungen, und so kommt es auch, daß auf dem Wege über die Philosophie die Biologie das Gesamtdenken der Menschheit weitgehend beeinflußt hat.

Die Betrachtung des Geisteslebens, zumal um die Jahrhundertwende, läßt nun leicht den Gedanken aufkommen, daß eben die Vorherrschaft des Materialismus die Folge einer biologischen Denkungsweise sein könnte. Es muß also die Frage gestellt werden: Ergibt sich aus den Tatsachen der Biologie mit Notwendigkeit ein materialistisches Weltbild? Zwingt uns die Biologie das materielle Geschehen, und dies nur insoweit es wahrnehmbar ist, als das allein vorhandene anzunehmen? Wollen wir äie Frage praktisch stellen:

Muß die Beschäftigung mit Biologie, der Biologieunterricht an den Schulen notwendig eine Generation von Materialisten heranzüchten? bt also der Materialismus ekt Kind der Biologie oder überhaupt aller Naturwissenschaften? Um antworten zu können, müssen wir Uns zunächst vorhalten, daß der Materialismus durchaus nicht nur im vorigen Jahrhundert vertreten wurde. Er ist wohl zugleich mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften im vorigen Jahrhundert groß geworden, aber wir begegnen ihm im gewissen

Der Materialismus, jedenfalls das, was man in der Philosophie ab Materialismus

bezeichnet, gehört einer vergangenen Epoche an. Heute würden sich die meisten Wissenschaftler energisch gegen die Bezeichnung „Materialist“ wehren. Dem gegenüber schreitet die Biologie unentwegt weiter fort. Die Vererbungslehre, eine der bedeutendsten Disziplinen der Biologie, ist in einer Zeit zu ihrer heutigen Größe herangewachsen, in der der Materialismus schrittweise im Abnehmen begriffen war. Daraus ist ersichtlich, daß Materialismus und Biologie durchaus nicht zusammengehören. Allerdings, und diese Frage müssen wir uns immer wieder vorlegen, kann der Materialismus in anderer Form oder in anderer Aufmachung noch irgendwo sein Dasein fristen. Der eigentliche Materialismus besagt, daß nichts außer der Materie wirklich Dasein hat. Daß alle Vorgänge nichts anderes als Funktionen der Materie sind, daß alles, was wir seelische und geistige Vorgänge und Erscheinungen nennen, in Wirklichkeit chemische oder physikalische Vorgänge an unserem Gehirne sind, die sich eines Tages als solche experimentell auch würden erweisen lassen. Für die Biologie bedeutet das, daß auch das Leben als solches nichts anderes als ein physikalischer Vorgang ist, der sich wohl durch seine Kompliziertheit von physikalischen Vorgängen an der unbelebten Materie unterscheidet, dieser Unterschied sei aber kein grundsätzlicher. Der lebende Organismus ist daher nichts anderes als eine recht komplizierte Maschine, die lediglich von mechanischer Gesetzmäßigkeit beherrscht wird. Daher nannte sich diese Auffassung in der Biologie „Mechanismus“, wofür Uexküll sehr bezeichnenderweise den Ausdruck „Maschinismus“ geprägt hat.

An sich ist der Materialismus nichts anderes als ein „naiver Realismus“. Alles ist so, wie ich es sehe, und das, was ich nicht sehe, das kann ich ruhig weglassen und annehmen, doi es nicht existiert. Da ich nur Materie wahrnehmen kann, so existiert eben nichts anderes als Materie. Non hat dieser naive Realismus wohl eine Läuterung erfahren. Die Dinge sind nicht so, wie ich sie subjektiv empfinde, zum Beispiel ein Kirchturm ist nicht kleiner, weil ich ihn aus der Ferne betrachte, r ist nicht niedriger, weil ich ihn von einem Berg au von oben sehe, unsere Kenntnis der Materie muß geprüft and durch wissenschaftliche Messungen and dergleichen auf eine Norm gebracht sein, Damit erscheint zwar unsere Kenntnis der Materie objekdv normiert, dennoch hat auch dieser geläuterte Realismus nicht viel von seiner Unzulänglichkeit verloren. Der Realismus und inso-ferne auch der ganze Materialismus übersieht dabei immer, daß jede Wahrnehmung ein sealischer Vorgang i s t. Er erkennt dem „Ding an sich“ Realität zu, dasjenige aber, wodurch das Ding als solches erkannt wird, also den Vorgang der Wahrnehmung, hält er für sekundärer Natur.

Wir müssen nun fragen, ob der reine Materialismus überhaupt die Bezeichnung einer philosophischen Anschauung verdient.

Es ändert absolut nichts an der Verneinung, daß früher ein Großteil auch namhafter Naturforscher dem Materialismus huldigte. So kam es denn, daß in Kreisen der Forscher selbst sich Widerspruch gegen diesen vielfach durchaus dogmatisch vorgetragenen Materialismus regte. Es war vor allem Mach, der gegen einen reinen Materialismus auftrat und ihm seinen Positivismus entgegensetzte. Wenn auch Mach ab der hervorragendste Vertreter dieser Richtung in neuerer Zeit zu gelten hat, so hat er doch auch Vorgänger seiner Auffassung gehabt. Im 17. Jahrhundert waren es Locke und Hume und im Altertum Protagoras und die ganze Sophistenschule, die wir ebenfalls nur ab Positivisten bezeichnen können. Für die biologische Wissenschaft wurde der Standpunkt vor allem durch den hervorragenden Physiologen Verworn vertreten. Im Positivismus tritt uns ein anderes Extrem entgegen. Das Ding an sich, die Außenwelt, wird vollkommen unbeachtet gelassen. Alles sind nur Empfindungen und Reize, hinter denen keine substantiellen Dinge stehen. Dort wo Sinneseindrücke stets kombiniert auftreten, vermuten wir auch jedesmal dasselbe Ding, ohne über dessen Realität etwas aussagen zu können. Real sind nur die Empfindungen.

„Was wir empfinden, sind nicht Dinge, son- dern Färben, Töne, Geschmäcke, Gerüche .. • Unabhängig “von den Empfindungen gibt es kein Sein. Das Sein wird nicht geleugnet. es wird aar ab Empfundensein angesehen. (Verworn.)

Daß der Positivismus sich selbst aufhebli und kein wirkliche Erkenntnis zuläßt ond auch die Erkenntnis jeder Ordnung und Ge-setzmäßigkeit für unmöglich halten müßte liegt auf der Hand. Niemand hat den Positi-vismus besser ad absurdum geführt, ab die Sophisten der Antike selbst. Gorgias ist der einzig konsequente Positivist; er kam schließ-* neb zu dem Ergebnis, daß es überhaupt nichts geben kann — der rein Nihilbmus Wollen wir uns außerdem darüber klar sein* daß auch der Positivismus genau so einseitig wie der Materialismus ist. In ihren Korn Sequenzen kommen die Positivisten im übrigen beinahe zu denselben Resultaten wie die Materialisten. Wir müssen uns also ohne weiteres darüber klar sein, daß

weder der Materialismus noch sein Vetter, der Positivismus, in der Lage sind, auch nur einigermaßen den Ergebnissen der Biologie gerecht zu werden. Beide sind rein gedankliche Spekulationen, denen keinerlei Daseinswert zukommt. Wir können mit dem leider so früh verstorbenen Philosophen Erich Becher sagen* daß eine materialistische Weltanschauung einen Mangel an efkenntnistheoretischem Denken verrät. Somit möchte ich ausdrücklich betonen, daß der Materialismus absolut nicht die Weltanschauung ist, zu der wir durch die Biologie gelangen. Es ist im Gegenteil der Materialismus mit den Ergebnissen der Biologie schlechtweg unvereinbar. Es kann I. von Uexküll nicht hoch genug angerechnet werden, daß er in der Hochblüte des Materialismus und Positivismus in der Biologie ausdrücklich gegen diese Standpunkte Stellung nahm.

Waren die bisher vorgebrachten Argumente gegen den Materialismus negativ gehalten, so gibt es heute zwei Richtungen, die dem Materialismus mit positiven Argumenten entgegentreten. Die eine Richtung wird als Kritizismus bezeichnet und beruht im wesentlichen auf der Kategorienlehre Kants. In neuerer Zeit findet der Kritizismus vor allem durch Max Hartmann ausdrückliche Anwendung auf die Biologie. Der Gedankengang ist dabei ungefähr folgenden Ich höre einen hellen Ton, den ich als das eingestrichene a erkenne. So spielt sich der ganze Vorgang so ab: 1. es hat etwas auf mich eingewirkt (Kategorie der Substanz und Kausalität), 2. es ist eine Tonempfindung in mein Bewußtsein gedrungen, 3. der Ton hat eine helle Klangfarbe und hat die Höhe des eingestrichenen a (Kategorie der Quantität und Qualität). Daß ich ein „Etwas“ außer mir vermuten kann, setzt den Substanzbegriff (in philosophischem Sinne, hat mit körperlichem nichts zu tun) voraus. Daß mich von außen eine Wirkung treffen und in mein Bewußtsein dringen kann, setzt den Kausalitätsbegriff (grundsätzliches Wissen, daß es Ursache und Wirkung gibt) voraus. Daß ich den Ton als solchen von einer Licht-oder Wärmeempfindung und als Ton von anderen Tonen unterscheiden kann, setzt voraus, daß die Dinge außer mir sich in einer bestimmten Ordnung befinden. Da ich alle Empfindungen einordnen kann, muß ebenfalls auch in mir eine Ordnung bestehen, die der äußeren Ordnung entspricht. Abo muß diese Ordnung in Kategorien den Dingen außer mir anhaften. Außerdem muß in mir die Fähigkeit vorhanden sein, diese Ordnung in Kategorien als solche zu erkennen und danach die Dinge zu unterscheiden. Ich trage also die Ordnung nicht in die Dinge hinein, sie ist in den Dingen. Ja, das Charakteristische dieser Dinge wird durch sie bestimmt (Prinzipium ante rem). Schon die Tatsache, daß wir Biologie treiben können, setzt das voraus. Jede Naturbetrachtung bt unter dieser Voraussetzung überhaupt erst möglich. Ein wildes Durcheinander von Materie ohne ein ordnendes Prinzip, das der Materie übergeordnet ist, würde jede Naturforschung von vorneherein ausschließen. Stellt man sich auf den Boden des Materialismus, so ist Biologie eine zweck- und aussichtslose Spielerei, da man ja dann nie etwas Wirkliches finden könnte.

Eine zweite Richtung, die dem Materialismus' ein positives Argument entgegenzusetzen hat, ist der Neuvitalismus von Driesch. Der Vitalismus ist die Erklärung des Lebensvorganges aus einem nicht materiellen

Prinzip. Somit ist der Vitalismus die älteste und ursprünglichste Erklärung des Lebens und war auch die Auffassung der Philosophen der Antike. Um die Jahrhundertwende galt der Vitalismus allgemein als erledigt und durch den Mechanismus ersetzt. Dies um so mehr, als Eduard Hartmann einen verunglückten Versuch unternommen hatte, den Vitalismus wieder zur Geltung zu bringen. Um so beachtenswerter war es, als ein Biologe selbst nun mit konkretem Tatsachenmaterial für den Vitalismus eintrat.

Driesch beruft sich vor allem auf die experimentelle Entwicklungsgeschichte. Ein Ei entwickelt sich durch Teilung in- viele Zellen und Differenzierung dieser Zellen allmählich zu dem fertigen Organismus. Der Materialismus hatte das so erklärt: In diesem Ei befindet sich eine Art organischer Maschine, die sich automatisch teilt und so die Teilung und Differenzierung bewirkt und automatisch zwangsläufig die Entwicklung vom Ei zum Organismus zustande bringt. Wenn man nun ein in Keimung begriffenes Ei durch einen Eingriff in zwei oder mehrere Teilstücke zerlegt, so liefert jedes dieser Teilstücke einen kompletten Organismus. Das Ei, aus dem prinzipiell ein Frosch hätte werden sollen, liefert nun zwei Frösche. Die eine Eihalfte, aus der normalerweise eine Hälfte eines Frosdies hätte werden sollen, ist unter Umständen in der Lage, einen kompletten Frosch zu erzeugen. Würde die materialistische Auffassung zu Recht bestehen, so hätte man bei dem Eingriff die Maschine „Ei“ in zwei Hälften geteilt. Diese automatisch funktionierenden Halbmaschinen wären aber in der Lage, nur halbe Frösche automatisch zu erzeugen. Wenn aber nun trotzdem die Hälfte sich zu einem Ganzen entwickelt, so ist das ein Beweis dafür, daß man irgend etwas nicht zu teilen in der Lage war. Dieses kann aber nicht materieller Natur sein, denn das Materielle hat man ja geteilt. Es muß also dem Ei ein nicht materielles Prinzip zugrunde liegen, und zwar die Potenz, den ganzen Frosdi zu bilden, die im Ei, so wie in allen seinen Teilen besteht. Und dieses Prinzip ist durch unsere experimentellen Methoden unangreifbar. Dieses, die Entwicklung bewirkende Moment, nennt Driesch im Anschluß an Aristoteles Entelechie. Auch all das, was wir Regeneration, Neubildung verlorengegangener Körperteile, nennen, läßt sich auf diese Weise zwanglos erklären. Ja, man ist experimentell noch weiter gegangen: Spemann und seine Schule vertauschten an Molchkeimen, die in der Entwicklung schon ziemlich weit vorgeschritten waren, verschiedene Zellbezirke miteinander. Nichtsdestoweniger entstand ein normales, komplettes Individuum. Wie u n-möglich hier die Vorstellung eines maschinellen Vorganges der Entwicklung wäre, leuchtet aus den Tatsachen ohne weiteres ein.

Wie weit also heute bereits die Biologie von einer materialistischen Auffassung entfernt ist, muß nach dem Gesagten wohl kaum noch hervorgehoben werden. Vergegenwärtigen wir uns nochmals die eingangs gestellte Frage:

Führt die Biologie und die biologische Denkweise zwangsläufig zum Materialismus? Antwort: Im Gegenteil. ,

Erstens ist die biologische Denkweise, die Beschäftigung mit der Natur als sinnvollem Ganzen, mit einer materialistischen Weltauffassung unvereinbar. Zweitens verfügt heute die Biologie bereits über exakte, experimentell erprobte Befunde, die eine materialistische Weltauffassung grundsätzlich ausschließen.

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