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BOTSCHAFT AN DIE WELT

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Der Wiener Expressionistendichter Robert Müller richtete vor 40 Jahren an seine Gesinnungsgenossen in Österreich den Zuruf:

„Gestalte unmittelbar! Gleichgültig, ob sich die inneren Zusammenhänge mit jenen der Objekte — des schon, wenn auch nicht endgültig Gestalteten — decken. Denn das Sichtbare und Wirkliche ist auch nur eine ehemalige aktivistische Komposition.“

Man überlege einmal die Tragweite dieses Ausspruchs. Es besagt nichts weniger, als daß alles Tatsächliche, alles, was uns heute Selbstverständlichkeit ist, irgendeinmal von Aktivisten, von Avantgardisten erobert werden mußte. Zahlreiche Zeugnisse dafür bietet uns die geschichtliche Entwicklung. Der erste Eisenbahnzug wirkte zunächst nicht weniger schockierend als später das erste abstrakte Kunstwerk. Auch den Zug hatte die „Konzeption“ eines Aktivisten entstehen lassen, dessen innere Schau ins Technische gewendet gewesen war. Die Schau des ersten abstrakten Künstlers war dagegen ins Bildnerische vorgedrungen. In keinem der beiden Fälle deckte sich die Schau mit vorhandenen Objekten. In beiden Fällen wurde sie dennoch in „Zusammenhängen“' des Innenlebens, in „inneren Zusammenhängen“, konzipiert.

Daß sie sich darauf besinnen möchten: das schärfte Robert Müller seinen Mitstreitern, den Expressionistendichtern Österreichs, damals ein. Viele von ihnen waren müde geworden. Viele von ihnen sehnten sich nach dem Kompromiß mit dem Herkommen und mit der Tradition. Nur noch wenige beharrten darauf, daß sie der Forderung, ihre Gestaltung müsse sich mit dem bereits früher Gestalteten decken, weiter Widerstand leisteten. Zehn Jahre zuvor, während des ersten Weltkrieges, war das anders gewesen. Radikalität und Unbedingtheit hatte sie damals ausgezeichnet. Die Nachkriegsjahre nach dem ersten Weltkrieg ließen den Eindruck auf- kommen, „aktivistische Komposition“ könne nicht fort- bestehen. Man müsse sich den „Zusammenhängen der Objekte“ eben anpassen. Die offiziellen Kulturinstanzen, die als tonangebend im Literaturleben respektiert wurden, verstärkten den Befehl, demzufolge sich die innerlich erlebten Zusammenhänge mit jenen der wirklichen Objekte decken müßten. Was bedeutete das für unsere Dichter, sofern sie Expressionisten gewesen waren? Sie sollten im Gedicht, im Roman, in der Novelle, im Drama zum Klassizismus zurückkehren — oder sie sollten sich von ihm wenigstens nicht weiter entfernen als die Naturalisten, die zwar neue Inhalte geschaffen hatten, aber keinen neuen Sprachausdruck. In das enge, erstickend enge Gewand des von den Traditionshütern zugelassenen sollte sich ihr Gestalten hineinzwängen.

Diese Forderung schien sich darauf berufen zu können, daß viele der Expressionistendichter unseres Landes die „Gleichgültigkeit bezüglich des Zusammenhanges zwischen den Objekten“ nicht mehr aufbrachten. Die prophetische Stimme unseres bedeutendsten Expressionistendramatikers, Oskar Kokoschka, war um 1920 verstummt, er widmete sich nun ausschließlich der bildenden Kunst. Franz Theodor Csokor, der Gestalter des Dramas „Die Rote Straße“, hatte weitgehend seine expressionistischen Formulierungen bereits aufgegeben. Franz Werfels Lyrik und Dramatik streifte zusehends mehr und mehr die expressiven „Signaturen“ (von denen sogleich zu reden sein wird) ab. Die Österreichanthologie des Expressionismus, DIE BOTSCHAFT, die Strache in Wien 1920 herausgab, enthielt, neben bedeutenden expressionistischen Gedichten, auch manche, die sich dem Klassizismus näherten, oder bereits mit ihm FnBedien schlossern. Ungebeugt und aufrecht im radikalen Expressionismus standen nur noch einige wenige, Albert Ehrenstein vor allem, und Georg Kulka, ferner in seiner faszinierenden Lyrik (nicht in seinen späteren Romanen!) der Hymniker Ernst Weiß. Robert Müller hatte guten Grund, das Mahnwort zu sprechen, daß die Gestaltung von den Zusammenhängen zwischen den Objekten unabhängig bleiben müsse.

Während man bei einem Gedicht manchmal schwanken kann, ob man es der klassischen, der romantischen, oder der naturalistischen Poesie zurechnen solle, ist die Frage, ob ein Gedicht expressionistisch sei, eindeutig zu beantworten. Den Expressionismus der Lyrik erkennt man am deutlichsten, jenen der Epik und der Dramatik noch relativ deutlich an gewissen „Signaturen“. Fehlen diese, dann ist das Gedicht auch dann nicht expressiv, wenn es von einem sonst als Expressionisten bezeichneten Dichter stammt. Welches sind diese Signaturen? Drei von ihnen sind unverwechselbar:

Die erste wurde von den Expressionistendichtern selbst als „Ballung“ bezeichnet. Da werden mehrere Wörter, Haupct- oder Zeit- oder Eigenschaftswörter, in ein einziges, neues zusammengerafft:

Albert Ehrenstein will etwa seine Überzeugung, das sich im Weltkrieg zerfleischende EUROPA verfalle der BARBAREI, in ein einziges, neues Wort zusammenziehen. Es lautet „BARBAROPA“.

Die zweite Signatur: Sätze werden verkürzt. Füll- und Beiwörter der Grammatik werden ausgeschieden. Noch nach so vielen Jahrzehnten kann man dies unseren Expressionistendichtem nachfühlen; denn ungezählte kleine Verhältniswörter (Artikel, Pronomina, Präpositionen) empfinden wir als kalt, als tot und ohne Leben. Wörter, wie „in“, „an“, „zu“, „bei“, „um“ usw. haben den überaus großen Nachteil, weder etwas Ideelles auszudrücken, noch etwas Konkret-Sinnliches. Sie sind farblos, unanschaulich, und der Aussagesatz, den sie befrachten, erscheint oft mit Ballast übermäßig belastet. Die Signaltur des „Verkürzungssatzes“ räiumite miit dem Schotter der leblosen Wörter auf. Oskar Kokoschka findet das Wort „Und Berg verfinstert Berg. Zeit zog“.

Wohl jedes unverbildete Empfinden freut sich, in diesem Satz, der Befreiung vom Ballast! Müssen wir es denn erfahren, wo ein Berg den anderen verfinsterte? Ist es lebensnotwendig, daß wir erfahren, wann oder wie die Zeit ihre ziehende Wirkung ausübte? Es kann genügen, daß wir von ihr hören: sie „zog“!

Die dritte und letzte Signatur möchte man als die der syntaktischen Mutation bezeichnen. Sie existiert in verschiedenen Variationen. Deren einfachste ist die Umstellung im Satzganzen. Nur sie allein sei hier erwähnt. Die von der Syntax angeblich verpflichtend vorgeschriebene Aufeinanderfolge von Haupt- und Zeitwort usw. wird umgestürzt. Ein Beispiel bietet Theodor Däublers (den Griecfhen-Mythos gestaltendes) Gedichtbuch „PÄAN UND DITHYRAMBUS“:

„Blaublitz Gneis bezuckt, kupfernd erstickt.“

Wie sieht dieser Ausspruch aus, wenn er nicht expressiv, sondern nach den Regeln der klassizistischen Syntax und Ästhetik gestaltet wird? Vergleichen wir:

Der Klassizist würde sagen:

„Der blaue Blitz erstickt, Kupfer hervorbringend, lm Gneis.“

Welche der beiden Aussagen ist kraftvoller, überzeugender, zwingender? Etwa nicht jene, welche die Aufeinanderfolge der Wörter nach der Skala ihrer Wertigkeit bestimmt? Sollte man wirklich der lahmenden Sprache tausender von konventionellen Schulaufsätzen den Vorrang vor ihr einräumen? Die Wertigkeit des „Kupferrxs" (Kupfer-Hervorbringens) verursacht ja erst das „Ersticken“ des „Blaublitzes“ im Gestein. Es geht daher dem „Ersticken“ voraus!

Die Wirkung der drei wesentlichen Signaturen, die bestimmen, ob eine Dichtung expressionistisch sei oder nicht, hält dauernd an. Sie ist noch nach einem — inzwischen verstrichenen — halben Jahrhundert spürbar. Unsterblich bleibt die entlastende, enthemmende Wirkung des Verkürzungssatzes. Der „geballte" Ausdruck „Blaublitz‘ überragt die Aussage von einem „blauen Blitz“. Die Ballung erübrigt hier die Endsilbe. Oder etwa: Eine schwache Wirkung ergibt es, wenn wir sagen „Die Sonne geht rot am Abend nieder“; eine zweifellos stärkere ergreift einen, wenn man Albert Ehrensteins syntaktische Mutation der gleichen Idee aufnimmt. Sie lautet: „Rotsonne rollt sich abendnieder!“

Indes, so könnte hier eingewendet werden, bedeutet dies nicht, daß wir die Expression, anstatt sie aus ihrem Inhalt zu bestimmen, von formalen Elementen her definieren?

Erstens einmal spricht man gewöhnlich von „Elementen“ einer Form dort, wo diiese Elemente lunaufgelösit, in sich selbst abgeschlossen, bestehen. Dagegen lassen unsere erwähnten Signaturen weder den Satz noch das einzelne Wort als Intakt bestehen. Ist Albert Ehrensteins „Barbaropa“ ein Form-Element? Wir sollten hier eher von Elementen einer „Anti-Form“ sprechen. Und zweitens sind manchmal die Inhalte der Dichterwerke von Expressionisten mit solchen Anti-Form-Elementen geradezu identisch, zum Beispiel in den Werken von Raoul Hausmann; da besteht der Inhalt oft gerade im Durch-Variieren dieser Elemente (und davon sind wirksamste Anregungen auf den Surrealismus ausgestrahlt).

Und drittens: dort, wo tatsächliche Inhalte, also „sich mit Objekten deckende“, in unseren Expressionistendichtungen hervortreten, dort sind sie bei weitem zeitbedingter als die erwähnten „Signaturen“. Csokor verdichtet in seinen — nicht sehr zahlreichen — Expressionistendichtungen zwar Symbole des Ethischen, das allgemeinmenschlich geschaut und vielfach nicht dem wechselnden Zeitgeist unterschiedlicher Epochen unterworfen ist. Und auch Kokoschkas Dichtung kann in annähernd ähnlicher Art charakterisiert werden. Allein wenn Albert Ehrenstein in vielen Gedichten das Entsetzen und die Empörung über das Grauen des ersten Weltkrieges zu seinem Inhalt macht, so ist doch dieser Inhalt weniger zwingend, als seine expressive Intensität.

„Heute würden wohl Gedichte, die sich gegen den Krieg richten, überzeugender in anderer Art geformt werden. Dagegen sind die Inhalte der Dramen und Prosadichtungen von Ernst Weiß, denen noch expressive Signaturen zukommen, den Themen der Dämonie, die sich armer, irregeleiteter Menschen bemächtigt, zugewendet: so „Der Stern der Dämonen“, das Schauspiel „Tanja“. In politischem Aktivismus, der für die gleichzeitige Berliner Expressionistendichtung so kennzeichnend war (die Zeitschrift „Die Aktion“ sammelte dort diese Tendenzen), hat — gelegentlich! — Georg Kulka seine explosive Sprache einmünden lassen; im übrigen wird der revolutionäre Elan bei unseren Expressionistendichtern durchaus sublimiert, vergeistigt, auf eine dem Alltagsgeschrei entrückte, philosophische Stufe gehoben. Das zeigt am besten die von Gütersloh zusammen mit Franz Blei (1919) herausgegebene Zeitschrift „Die Rettung“. Noch heute bedeutet es ein wertvolles Erlebnis, das überaus subtile Niveau dieser theoretischen Dokumentation eines Expressionismus kennenzulernen, der, spezifisch österreichisch, eine rühmliche Sonderstellung innerhalb der Gesamtheit der Expression des deutschsprachigen Raumes einnimmt. Jeder Beitrag dieser „Rettung“ kann wie ein kleines geschliffenes Juwel expressiver Sprachgestaltung erscheinen.

Zusammenfassend muß aber gesagt werden: unser Expressionismus zeichnet sich nicht durch Inhalte aus, die nur ihm allein zukämen. Großenteils hat er keine andere Thematik als andere dichterische Richtungen, die es schon vor ihm gegeben hatte. Träfe also die Trennung von „Inhalt und Form“ für ihn zu, so müßte man ihn von den Kriterien der Form her bestimmen. Nach dem Gesagten ist es jedoch klar, daß vielmehr Elemente einer Anti-Form für ihn bestimmend waren. Man könnte vergleichsweise so formulieren: sie verhalten sich zu dem, was im üblichen Sinn das „Formelement“ heißt, ähnlich, wie etwa dies oder jenes Axiom — der klassischen Physik sich zu Elementen der Relativitätstheorie verhält. Und der Umstand, daß die „Signaturen“ (Ballung, Satzkürzung, Mutation) heute nur noch, vielfach verkleinert und verschoben, in Elementen unserer surrealistischen Lyrik, sonst jedoch fast überhaupt nicht, fortleben, beweist nichts gegen die Größe, die darin gelegen war, daß Dichter Österreichs bereits einmal jenen Punkt erreicht haben, an dem ihnen der — im Sinn gesamtmenschheitlicher Entwicklung — vielleicht sogar verfrühte Fund eines so grundsätzlich, eines so wesentlich Neuen gelungen ist.

Was aber ist aus den „Findern“ geworden, aus den Menschen, aus unseren Expressionistendichtern? Zunächst muß es deprimieren, wenn man wahrnehmen muß, daß einige von ihnen (etwa der Publizist und Editor Walter Semer, der Lyriker Ernst Angel) vollständig verschollen sind, so daß über ihr Schicksal nichts in Erfahrung gebracht werden kann, Erschütternd ist die Tragik der meisten anderen. Robert Müller, Georg Kulka und Ernst Weiß endeten durch Selbstmord: letzterer im Jahre 1940 im Pariser Emigrationsexil, beim Einmarsch der deutschen Truppen. Der Dramatiker P. Kornfeld ist angeblich in einem KZ umgekommen, der sprachschöpferischste von allen, Albert Ehrenstein, starb im New Yorker Exil an Unterernährung. Der Dramatiker J. Kaltneker und der sprachgewaltige Epiker Theodor Däub- ler, dessen „Blaublitz“ wir zitierten, fielen dem Lungenleiden zum Opfer. Allein, beweist die Tragik dieser Schicksale unserer Expressionistendichter irgendein Fiasko der von ihnen oft heldenhaft vertretenen Sache? Darauf mögen Leistungen jener Verstorbenen, die sich aus unserem Expressionismus wieder herauslösten, aber auch Leistungen einiger noch heute Lebender überzeugend Antwort geben:

Die reifsten Werke Franz Kafkas, Robert Musils und Hermann Brochs bauen nachweisbar auf gewissen Durchgängen auf, welche diese Dichter durch die Expression hindurchgeführt haben. Deren „Signaturen“ sind zum Beispiel wesentlich mitbestimmend für R. Musils „Schwärmer" und für seine „Versuchung der Stillen Veronika“. Nur Raumgründe verbieten es uns hier, ein Gleiches auch für H. Broch und F. Kafka auszuführen: jederzeit läßt es sich belegen! Das ist das eine der beiden Zeugnisse: es ist jenes der vor nicht zu langer Zeit Verstorbenen unter unseren bedeutendsten Dichtem. Noch eindringlicher ist das Zeugnis jener, die heute noch leben. Noch führt A. P. Gütersloh sein Lebenswerk fort, das kontinuierlich, ohne Bruch, aus der Periode seines Expressionismus zu seinen heutigen Schöpfungen fortgeschritten ist. Noch heute kann F. T. Csokor sich als Fortsetzer jener Dramatik der Expression bezeichnen, die ihn einst „Die Rote Straße“ gestalten ließ.

Außerdem darf es niemals vergessen werden: was wir an surrealistischer Poesie besitzen, könnte heute nicht existieren, wäre ihm nicht durch die Signaturgestaltungen unserer Expressionistendichter so vorgearbeitet worden, daß der Surrealismus in gewissen Sektoren deren Erbe antreten konnte. Der Expressionismus unserer Dichter Österreichs ist, eindeutig nachweisbar, ein nicht wegzudenkendes Ferment menschlicher Geistesgeschichte. Weltweit ist etwa die Ausstrahlung Franz Kafkas, von dem ein pndeutig expressionistisches Gedicht aus dem Jahre 1916'vorhanden ist, übernational der Ruhm Robert Musils, dessen Gesamtwerk, als einen ihrer integrierenden Teile, die Expression mitbefaßt. Von welcher anderen Dichtungsart im 20. Jahrhundert könnte eine derartige Ausweitung behauptet werden?

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