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Christliches Abendland

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Wenn wir christliches Abendland sagen, meinen wir nicht etwas Vergangenes. Wir meinen, daß das Abendland, so wie es heute ist, vom christlichen Geiste mitgestaltet worden ist und daß bei seiner Neuformung der christliche Geist wieder das entscheidende Wort zu sagen haben wird. -

Was heißt abendländische Kulturgemeinschaft? Die Tatsache, daß diejenigen, die ihr angehören, sich über die nationale Gemeinschaft, über die staatliche Bindung hinweg einem Ganzen innerlich angehörig fühlen, das überstaatlich und übernational ist, einer Gemeinschaft, deren bindende Gewalt nur in dem Geiste besteht, der sie durchdringt. Es hat freilich immer wieder Versuche gegeben, sie auch in staatlicher Form darzustellen; aber der Geist, der diese Gemeinschaft im Wesen begründet, hat sich immer wieder von der Erstarrung in einer äußeren Form freizuhalten und die Gemeinschaft als eine im Wesen geistige zu bewahren gewußt. Denn der Geist weht wo er will und Geist heißt Freiheit.

Rom und Christus, das irdische und das geistige Reich, schienen sich im christlichrömischen Reich zu einer geistigen Einheit zusammenzuschließen. Die Prophezeiungen, die die Machtübernahme des Augustus mit göttlichem Glänze umgaben, werden auf Christus umgedeutet, der wesentliche Ruhmestitel Roms wird darin gesehen, daß es die Stadt der Apostelfürsten ist, und daß Gott das römische Reich dazu ausersehen hat, Beschützer und Verbreiter des christlichen Glaubens zu sein.

Aber der Versuch, das Reich des Geistes in den Formen eines noch so vollkommenen, irdischen Reiches der Macht zu verwirklichen, widerspricht auf die Dauer der christlichen Lehre, daß die Gestalt dieser Welt vergehen muß, widerspricht dem Wesen des Geistes überhaupt. Es bestand die Gefahr, daß eine bestimmte geistige Haltung, eine bestimmte Kultur, so wie sie aus der Synthese zwischen dem Christlichen und dem Antiken sich ergeben hatte, als maßgebend und bindend für das Christentum überhaupt betrachtet werde und daß die christlich gewordene, weltliche Macht, unter dem Vorgeben, Vollstrecker der geistigen Ansprüche der Kirche, Verwirklichung ihrer sittlichen Normen zu sein, sich die geistliche Macht über die Kirche selbst anmaßte.

Da setzt die spezifisch abendländische Entwicklung ein. Nicht als ob es im Osten nicht auch mutige Vorkämpfer der Freiheit des Geistesreiches der Kirche, den totalitären Ansprüchen der Staatsgewalt gegenüber, gegeben hätte. Aber der Enderfolg der Entwicklung im Osten ist doch die Anerkennung der Staatsgewalt als der sichtbaren Verkörperung der sittlichen Weltordnung, eine Anerkennung, die sich in krasser Weise darin ausdrückt, daß im Byzanz des 14. Jahrhunderts der Aufruhrer gegen die Staatsgewalt als solcher auch von der Kirche exkommuniziert wird, bloß deshalb, weil er der Staatsgewalt zu widerstreben gewagt hat — ist die Gleichsetzung der christlichen Rechtgläubigkeit mit einer bestimmten Kultur und Lebensform, einem bestimmten Ritus, einer bestimmten Formung des Denkens und Lebens bis in die kleinsten Besonderheiten hinein. Es soll nicht geleugnet werden, daß auf diese Weise eine Kulturwelt von imponierender Geschlossenheit, von intensiver Durchdringung aller Lebensbereiche mit dem einheitlichen Geiste einer Hochkultur, geschaffen wurde, dem das damalige Abendland nichts auch nur halbwegs Gleichwertiges an die Seite zu setzen hatte. Aber es war doch eine Erstarrung, die keinen Weg zu einer Weiterentwicklung offen ließ, sondern nur unverändert in hieratischer Strenge weiter bestehen konnte, bis eine äußere Erschütterung sie zum völligen inneren Zusammenbruch verurteilte, in Griechenland der Einfall der Türken, in Rußland die radikal modernisierenden Reformen Peters des Großen, die wiederum ein, zwei Jahrhunderte unverändert weiterbestehendes, starres System, an ihre Stelle setzten. Möge der heutige Osten, wenn er wieder an die Stelle des von Peter Geschaffenen eine von ihm als vollkommen und endgültig betrachtete Ordnung setzt, vor einer ähnlichen Erstarrung bewahrt bleiben.

Demgegenüber hat das Abendland damals, am Anfang des zweiten Jahrtausends, seine entscheidenden, die abendländische Kulturgemeinschaft begründenden, geistigen Großtaten vollzogen. Einerseits die Geltendmachung der Rechte der freien, vom sittlichen Bewußtsein getragenen Persönlichkeit, gegenüber der Staatsgewalt und jeder äußeren Macht — und anderseits die Geltendmachung der freien geistigen Entwicklung, der Verpflichtung der lebendigen inneren Glaubenskraft zur geistigen Auseinandersetzung mit allem auftauchenden Neuen, gegenüber der zur bloßen Tradition erstarrenden Glaubenslehre. So hat Papst Gregor VII. nicht nur die Freiheit der rechtmäßig gewählten Kirchenfürsten den weltlichen Oberhäuptern des Staates gegenüber, sondern auch die Freiheit der christlichen Länder, Englands, Spaniens, Ungarns, Polens, den aus den Herrschaftsrechten des römischen Reiches geschöpften Machtansprüchen des römisch-deutschen Kaisertums gegenüber verfochten. Der Kampf für die Freiheit der Kirche von der Staatsgewalt und der Kampf für die Freiheit der einzelnen christlichen Nationen von der imperialen Macht des römischen Reiches, der um 1100 ausgetragen wird, war ein Kampf für das abendländische sittliche Freiheitsprinzip gegen die totalitären Ansprüche eines nach religiösem Nimbus strebenden, weltlich-göttlichen tausendjährigen Reiches.

Und kurz nachher wird der Kampf für die Freiheit des abendländischen Geisteslebens ausgefochten. Die größten Gelehrten und Denker des damals einzigen Studium generale, der Pariser Universität, Albertus Magnus und Thomas von Aquino, lassen sich nicht abschredcen durch die Verketzerung der damals neu eindringenden arabischgriechischen Philosophie, der Philosophie des Aristoteles, sie lassen sich nicht ängstigen durch die engherzige Warnung, daß diese Philosophie eine Bedrohung des christlichen Glaubens darstelle. Entweder ist diese Philosophie falsch — dann muß sie sich mit den Mitteln des Geistes, der wissenschaftlichen Bekämpfung widerlegen lassen, oder ist sie wahr — dann kann es nichts schaden, daß sie uns nötigt, unsere gewohnte philosophischtheologische Denkweise zu ändern, ja es kann letzten Endes nur eine Vertiefung und Bereicherung unseres christlichen Glaubens zur Folge haben. So ist es auch wirklich geschehen.

Sollen wir e* bedauern, daß ich der GUt der Prüfung und der Kritik im weiteren Verlauf gegen das Christentum selber wandte, and daß heute der Begriff „abendländischer Geist“ nicht mehr gleichbedeutend ist mit dem Begriff „christlicher Geist“, sondern nur mehr das Bekenntnis zur Frei-leit der menschlichen Persönlichkeit von eder äußeren Gewalt, die sich nicht als titt-ich begründet ausweisen kann, und zur unbedingten Pflicht der freien denkerischen Auseinandersetzung mit allen geistigen Erscheinungen und Problemen bedeutet, ohne die Lehren des Christentums als allgemeine Norm zugrunde zu legen? Gewiß nicht. Verum vero non contradicit. Wenn wir nur wirklich an die Wahrheit unseres Glaubens glauben, dann müssen wir überzeugt sein, daß der in aller Freiheit forschende und suchende Geist des Abendlandes schließlich doch zu der Erkenntnis zurückfinden muß, daß die geistige Freiheit, zu der er sich bekennt, nirgends anders eine wirklich im Ewigen und Allgemeingültigen verankerte Grundlage findet als in den Lehren des Christentums. Nur aus der freien Anerkennung der gemeinsamen sittlichen und geistigen Normen kann der wahrhaft christliche Gottesstaat entstehen, der auf der frei von innen her anerkannten Autorität des Gesetzes des Geistes beruht. Wir mögen das Chaos bedauern, das aus der schrankenlosen Anwendung der Kritik, aus der zersetzenden Wirkung des westlichen Individualismus zeitweilig entstanden ist — aber es wäre höchst unabendländisch, uns nur in die einstige Harmonie romantisch zurückzusehnen, ohne zu verstehen, daß auch dieses Chaos eine notwendige Folge der Anwendung der Freiheit ist, ohne die diese Harmonie auch früher nur tote Erstarrung bedeutet hätte, und daß nur durch die Freiheit hindurch der Weg zu einer neuen, harmonischen Ordnung führt.

Österreich hat besonderen Grund, sich als ein Glied der geistigen Gemeinschaft des Abendlandes, als einen berufenen Mitarbeiter an der Herbeiführung der neuen geistigen Ordnung zu empfinden. Das nationale Bewußtsein des Österreichers ist keine Schranke, die er zu überwinden hat, wenn er in diese große geistige Gemeinschaft eintreten will. Im Gegenteil. Was den Österreicher zum Österreicher macht, ist die Tatsache, daß er seit Jahrhunderten als Kern- und Mittelpunkt, als verantwortlicher Träger der Idee dem letzten und gewiß nicht schlechtesten Versuch zur staatlichen Verwirklichung einer übernationalen, im wahrsten Sinne abendländischen Völkergemeinschaft alle seine Kräfte geliehen hat und an dieser seiner Aufgabe zu seinem spezifisch österreichischen Bewußtsein gelangt ist. Daß der Österreicher in die Idee einer staatlichen Gemeinschaft hineingewachsen ist, die sich, als letzte in Europa, das abendländische Ziel einer übernationalen Völkergemeinschaft im Rahmen eines bewußten Rechtsstaates zur Aufgabe gemacht hatte, eines „Reiches“ im wahren Sinne des Wortes, diese seine Rolle ist — politisch — seit einem Menschenalter ausgespielt. Aber auf dem Wege zu einer rein geistigen übernationalen, abendländischen Gemeinschaft kann er den anderen getrost vorangehen, denn er hat in seinem besonderen Bewußtsein, das eigentlich eine geistige Verwurzelung im Übernationalen ist, einen großen Vorsprung vor ihnen. Und noch eines: er steht zwischen dem Westen und dem Osten. Er kann dem Westen ein Beispiel darin sein, daß das Ziel der Freiheit nicht der chaotische Zerfall in subjektivistische Schrankenlosigkeit ist, sondern freie Zusamrnenfassung zu einer geistigen Gemeinschaft, und dem Osten ein Vorbild dafür, daß der Fortschritt nicht darin besteht, daß man an Stelle eines überlebten und erstarrten Systems ein neues setzt, das, wenn es heute noch so modern ist, einmal doch erstarren müßte, wenn es sich, wie das frühere, als allein gültig und wertvoll, als ausschließlich und endgültig betrachtete und nicht im abendländischen Sinne die Regsamkeit der Freiheit, die Bereitschaft zur Verantwortung vor höheren sittlichen Normen in sich trüge. So

kann Österreich entscheidend dazu beitragen, das neue Abendland zumindest im Geiste zu verwirklichen, da es greifbar und sichtbar unter uns noch nicht besteht. Denn das alte Abendland ist für immer dahin.

Der letzte Ausläufer davon, Altösterreich, geht mit den alten Großösterreichern, für die Österreich noch ein übernationaler Völkerstaat war, zu Grabe. Was sich zuletzt „das Reich“ nannte und die Verwirklichung der Idee eines „neuen Europa“ sein wollte, war eine teuflische Verzerrung dessen, was da Abendland geistig eigentlich sein soll, eine freie Gemeinschaft im Geiste und in der Anerkennung gemeinschaftlicher sittlicher Normen. Daß dieses „Reich“ zerfallen ist, ist nur eine Befreiung von einem Alpdruck. Aber auch das alte Abendland, in dem Europa und die Christenheit noch ein .und dasselbe b-deuteten, sollen wir uns nicht so, wie es war, zurückwünschen, wenn wir auch seinem Ent-schwinden nachtrauern mögen. Es ist zerbrochen und zerstört, aber zerstört durch das, was den wesentlichsten Wert des abendländischen Geistes ausmacht: das Bewußtsein der Freiheit des Geistes gegenüber jeder zur Tradition gewordenen äußeren Ordnung. Aus diesem Bewußtsein der Freiheit muß auch die neue Ordnung des Abendlandes als eine freie und geistige Ordnung wieder erstehen, wenn sie wahrhaft sein soll.

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