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Das andere Toleranzedikt

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Dem kontinentalen Sozialismus ist heute nicht so sehr das Problem der Entproletarisierung aufgegeben, sondern als Folge des erheblich gewachsenen Sozialproduktes die gerechtere Verteilung des Güterzuwachses. Das Ziel ist nicht mehr wie ehedem Wohlfahrt an sich, sondern mehr Wohlfahrt. Ebenso geht es dem Sozialismus heute darum, ein neues Verständnis für die Freiheit zu gewinnen, die für ihn nicht die Qualität eines nur-philosophischen Begriffes hat, sondern die Chance darstellt, die Entproletarisierung des Menschen, der nicht vom Brot (und vom Fleisch) allein zu leben vermag, zu vollenden. Daher die Selbstqualifikation des modernen Sozialismus als „freiheitlich“, als „humanistisch“ und „demokratisch“, Adjektiva, die durchweg darauf hinweisen, daß der Sozialismus in seinen Denkansätzen ein anderer geworden ist. Wenn der Sozialismus dieser Zeit trotzdem in sich und in den von ihm beherrschten Institutionen eine Ambivalenz von Etatis-mu und Individualismus, von kollektivistischem Bürokratismus und Personalismus, zu sichern versucht, ist er sich der Gefahr bewußt, zu entarten und nach links oder nach rechts abzuweichen, zu verbürgerlichen oder sich als faktischer Kommunismus zu erweisen. Die letzten weltpolitischen Ereignisse haben dazu beigetragen, daß der Sozialismus — mehr als viele „Bürger“, die Gesinnung und Geschäft nicht auseinanderhalten können — bemüht ist, sich vor aller Welt von jener Darstellungsweise des Marxismus, die sich Kommunismus nennt, zu distanzieren.

Das neue Selbstverständnis, um dieses Modewort zu gebrauchen, des Sozialismus dokumentierte sich auch auf dem letzten Parteitag der SPOe. Wiewohl, in der Diskussion war es zu spüren, noch Karl Marx stiller Gast war. Aber trotzdem zeigte sich vor allem in den Hauptreferaten so etwas wie ein neuer sozialistischer Konservatismus, der keineswegs eine „Entartungserscheinung“ bürgerlicher Politik ist, sondern sich immer dann zeigt, wenn politische Gruppen, die an der Verantwortung sind, sich aus dieser Verantwortung heraus bemühen, Geschaffenes zu erhalten. Das neue Oesterreich ist nun ein auch von den Sozialisten mitgeschaffenes Gebäude und von ihnen als erhaltenswert klassifiziert.

Die Sprache des Parteitages bediente sich da und d<jrt noch des alten Vokabulars, war aber im Grunde „revisionistisch“. Den wirtschaftlichen Realitäten wurde weitgehend Rechnung getragen, und dem Besitzbürgertum, das nun zu jeder Gesellschaftsordnung gehört, ein Lebensrecht zugebilligt und eine Reservation für die Praktizierung eines Rest-Kapitalismus eingeräumt. Freilich: Die Entwicklung geht, wie gerade im Schlußwort eindeutig festgehalten wurde, in Richtung auf die Bildung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Der Einkommensbürger wird in Hinkunft die Repräsentanz . einer geläuterten bürgerlichen Gesellschaft ein, und dies in jenem Ausmaß, als der Sozialismus ein innerbürgerliches Problem geworden ist.

Die Verstaatlichung, zu der sich der Parteitag bedingungslos bekannte, wird nicht mehr, als „Sozialisierung“ gekennzeichnet, sondern einer, „echten Nationalisierung“ gleichgesetzt, die im Interesse der Sicherung der Selbständigkeit unseres Vaterlandes geboten erschien. Wer kann diese Feststellung übrigens heute, angesichts der unverkennbaren Versuche von Ausländern seit 1955, sich des österreichischen Vermögens zu bemächtigen, leugnen?

So am Rande beschäftigte sich der Parteitag auch mit dem Problem der Automation. Den glanzvollen Referaten von Carlo S c h m i d und Leo Brandt auf dem Münchner Parteitag zur Frage der neuen Produktionsweisen und der Freizeitchancen dieser Zeit konnte übet auf dem Wiener Parteitag nichts Gleichwertiges entgegengesetzt werden.

Vom offiziellen Marxismus aber war kein Wort zu hören. Der Sozialismus bedarf nicht mehr des tröstlichen Zuspruchs von der naturgesetzlichen Heraufkunft des sozialistischen ausbeutüngslosen Gottesreiches, dies um so weniger, je mehr er sich der Tatsachen des Oekonomischen und Sozialen bewußt ist. So findet der moderne Sozialismus in einen Denkansätzen und Motiven zu den Anfängen,, zum Frühsozialismus, zurück. Vielleicht auch, weil er meint, sich des Marxismus schämen zu müssen: Haben doch der Parteisozialismus auf dem Kontinent und der Kommunismus bislang die gleiche Bibelausgabe benutzt: „Das Kapital“ von Karl Marx. Die Interpretationen waren verschieden, aber die Gründthesen die gleichen. Nun aber wird Wert darauf gelegt — und dies in Form nachdrücklicher, geradezu beteuernder Feststellungen —, daß mit dem Kommunismus so gut wie keine Gemeinsamkeiten bestehen. So schien der Parteitag eine Eidgenossenschaft wider den Kommunismus. Aus diesem Grund fehlte auch das rechte Behagen an Angriffen gegen die OeVP, die man einmal lediglich als Konservative ansprach. Die Attacken gegen den Gefährten im Kampf um die österreichische Unabhängigkeit waren geradezu dosiert und hatten den Charakter sportlicher Angriffe, wie sie auf jedem Parteitag zum Rahmenprogramm gehören: Schon um einer Grenzschichte von Zuhörern erkennen zu lassen, welchem Parteitag sie beiwohnten. Niemand von denen, die um die Geschichte der Zweiten Republik wissen, wird etwa die Behauptung, daß die OeVP die Volksrepublik wollte („Es schien öfter als einmal, als ob die OeVP das Beispiel der Kleinen Landwirte in Ungarn nachahmen wollte“) tatsächlich ernstnehmen. Daher war es gut, daß ein Kärntner (Luptowits) die Forderung aufstellte, daß man das „Denken fördere“. Gerade am Beispiel Ungarn hat es sich gezeigt, daß jeder Partei gewichtige Parteigegner gleichsam zugeordnet werden müssen. Die der Natur des Menschen entsprechende Spontaneität soll auch im Politischen gesichert bleiben. Das aber verlangt die Anerkennung der Notwendigkeit eines Mehr- (wenn auch keines Viel-) Parteienstaates. Daher wird nun einmal eine demokratische Partei das Vorhandensein eines das eigene Handeln begrenzenden Gegners zur Kenntnis nehmen müssen.

Jedenfalls zeigte aber der Parteitag, daß man derzeit im sozialistischen Lager den Gegner zur linken Seite nicht fürchtet, ihn nicht einmal b e achtet, sondern nur v e r achtet. Dabei geht man wohl von der Annahme aus, daß das Gros der KP-Wähler von gestern nunmehr der SPOe zuzurechnen ist. Wie sehr man von der Richtigkeit der schon bisher gegebenen „Rechtsabweichung“ des österreichischen Sozialismus überzeugt war. zeigt der Umstand, daß die e r-,w„ä r-1 e t e A u s w e c h s 1 u n g d e r F ü h r e r-garnitur nicht vorgenommen wurde. Die Auseinandersetzungen um Bundesminister Waldbrun ner sind — relativ — unbedeutend, ganz abgesehen davon, daß eine starke Gruppe um den Wiener Nationalrat M a r k die Entfernune des Ministers aus der Parteiführung nachdrücklich bekämpfen konnte. Was sagen Spannungen um einen Mann bei einer kollektiv geführten Partei, die an die 700.000 Mitglieder hat?

Im Mittelpunkt des Parteitages stand die freimütige Rede von Nationalrat Pittermann. Womit sich Pittermann beschäftigte, das war im Wesen nicht die OeVP, nicht die KP, sondern die Kirche. Der letzte Hirtenbrief, der auch Feststellungen zur Frage des demokratischen Sozialismus enthielt, fand im Referat eine die anderen Ausführungen überragende Beachtung, schon deswegen, weil (nach Pittermann) der Sozialismus nicht mehr Glaube ist, sondern eine politische Kampfgemeinschaft (wogegen sich M. Pollak verwehrte). In diesem Zusammenhang proklamierte Nationalrat Pittermann ein neues „Toleranz-e d i k t“, die Möglichkeit der Konstituierung eines gewandelten Verhältnisses zur Kirche. Es ist nun tatsächlich so, daß auf Grund der sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, einfach aus den Fakten heraus, Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Nur-Sozialisten sichtbar geworden sind, praktische Kooperationen auf dem Gebiet der Sozialpolitik etwa, auf dem die im orthodox-liberalen Lager ungemein verdächtigen, weil auf Zuständereform bedachten Christen und die in ihrem Handeln nunmehr auf den konkreten Menschen gerichteten freiheitlichen Sozialisten mehr gemeinsam haben als bekennende Christen und die faktischen Atheisten aus dem „bürgerlichen“ Lager.

Wenn von „Toleranz“ die Rede ist, muß freilich verlangt werden, daß der Sozialismus durch Taten erläutert, was er mit dem großen Wort von der Duldsamkeit meint. Was soll es bedeuten, wenn der Redner unter anderem sagte: „Für die staatliche Ordnung von Bereichen, in denen staatliches und kirchliches Recht miteinander in Berührung treten, muß daher unserer Meinung nach der Grundsatz gelten: das staatliche Recht muß so gestaltet werden, daß es allen Religionsgemeinschaften gleich entspricht.“

Wie soll eine solche Frage in positives Recht übertragen werden? Sind doch die Religionsgemeinschaften in | ihrem Wesen sehr unterschiedlich und haben aus diesem Grund eine jeweils andere Bezeichnung ihres kirchlichen Rechtes zum gegebenen staatlichen Recht. Oder will man eine Einheitskirche? Mit einem Recht, das staatlichem Recht nachgeordnet ist?

Beachtung verdient auch der Vorschlag des Referenten, sich bei Verhandlungen in Schulfragen keiner „Zwischenhändler“ zu bedienen (womit wohl die OeVP gemeint ist). Damit deklariert sich die SPOe freilich als „Gegen-Kirche“. Auf der anderen Seite wäre es sicher ab und zu leichter, in ein Gespräch zu kommen, wenn manche Ressentiments, wie sie aus dem lange Jahre dauernden Zusammenleben zwischen OeVP und SPOe entstanden sind, die Diskussion zum Beispiel um das Konkordat nicht belasten würden.

Dagegen ist es eine starke Zumutung, die Kirche aufzufordern, jene Politiker, die bisher mannhaft die Rechte der Kirche im öffentlichen Leben verteidigt haben, aufzugeben. Es gibt den Mißbrauch des Christentums zur Verdeckung etwa von Profithandeln. Aber gibt es nicht auch den Mißbrauch des Sozialismus und des Gewerkschaftsgedankens zu Zwecken, die mit der Sicherung der Wohlfahrt der Massen nichts zu tun haben? Ist nicht die von der Gemeinde Wien bei der Eheschließung verteilte Anweisung zum Ehebruch eine ungeheuerliche Blasphemie und hat mit dem Sozialismus und mit der Toleranz nichts, aber schon gar nichts zu tun? Soll sich die Kirche jener Menschen entledigen, die ihr bisher auch auf dem glatten Boden der hohen Politik die Treue gehalten haben und sich nun einem mächtigen Gegner — selbst ohne Macht — stellen? A

Die SPOe ist „grundsätzlich tolerant“ und kann daher nicht die Forderungen einer „einzigen Religionsgemeinschaft“ begünstigen! Soll das heißen, daß — was erfreulich wäre — nun die Forderungen aller Religionsgemeinschaften „begünstigt“ werden? Oder keiner?

Wenn festgestellt wird, daß erst nach 66 Jahren „des Bestandes einer sozialistischen Partei“ erstmals eine „autoritative“ Proklamation der Kirche den gemäßigten Sozialismus „als gut bezeichnet“, so kommt das auf eine Verwechslung von Ursache und Wirkung hinaus. Weil der Sozialismus „gemäßigt“ ist und in seinen sozialen Forderungen jenen der Kirche sehr, sehr nahe kommt (nicht jederzeit, aber immer häufiger), kann die Kirche ihre Meinung ändern. Lieber den Kampf der alten und keineswegs „gemäßigten“ Sozialisten gegen die Kirche ließe sich ungemein viel Material vorlegen und der Beweis führen, daß die Kirche die Haltung einer Partei nicht hatte billigen können, deren Führer fast ohne Ausnahme „Schöpfung, und Vorsehung überhaupt“ ablehnten.

Da wird gesagt: „Hätten sich die österreichischen Bischöfe nach 'dem Hainfelder Gründungsparteitag der Sozialdemokratischen Partei zu dieser Feststellung (das heißt zur Klassifikation von Sozialisten als ,gut') entschlossen, wäre es nie zu der von ihnen beklagten Entfremdung gekommen.“ Wenn wir schon beim Hainfelder Parteitag sind: In der Prinzipienerklärung dieses Parteitages wird unter Punkt 6 der konfessionslose Unterricht in den Volksschulen gefordert, die Trennung der Kirche vom Staat und die Erklärung der Religion als Privatsache. (Um diese Forderungen ins rechte Licht zu setzen, muß man die geschichtliche Situation von 1888/89 beachten!) Genosse Holzhammer trat in Hainfeld für die vollständige Trennung von Kirche und Schule ein und nahm gegen den „finsteren, freiheitsfeindlichen und kulturfeindlichen“ Einfluß des „Klerikalismus“ Stellung. Wer die parteiamtlichen Darstellungen des Hainfelder Parteitages heute liest, wird verstehen, daß die Kirche nicht Auslassungen der angedeuteten Art zum Anlaß nehmen konnte, den Sozialismus als „gut“ zu bezeichnen.

Wenn der Kirche geraten wird, den Trennungsstrich gegenüber jenen zu ziehen, die ihren Namen mißbrauchen, so muß gesagt werden, daß die Kirche das von ihr Geforderte seit zwei Jahrtausenden tut. Gerade da, wo aus der Bedrohung ein politischer Katholizismus entsteht, ist die Gefahr der Diffamierung der Kirche durch christlich etikettierte Atheisten eine besonders bedrohliche. Es würde daher der Kirche vom Sozialismus her ein wertvoller Dienst erwiesen, vermöchte dieser die Bedingungen zu beseitigen, die das Entstehen eines politischen Katholizismus begünstigen. Das kann der Soziaiismus, wenn er von sich aus auch Trennungsstriche zieht gegenüber jenen, die unter dem Deckmantel eines Antiklerikalismus (wie er auch auf dem Parteitag demonstriert wurde) neue Despotien aufzurichten und die Kirche auf die Funktion einer Kult-Kirche zurückzudrängen versuchen.

Von seiten der Christen wurde seit 1945 oft und oft versucht, das Gespräch mit „links“ zu beginnen. Es war nicht die Schuld der Christen, wenn es nicht dazu gekommen ist. Dafür sind Beweise da.

Sollen die, wie wir annehmen müssen, parteiamtlichen Ausführungen des Herrn Nationalrates Pittermann aber mehr sein als höfliche Gesten gegenüber einem Hirtenwort der Bischöfe, dann war der letzte Parteitag der SPOe ein verheißungsvoller Anfang! B.

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