6633973-1957_03_11.jpg
Digital In Arbeit

Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft

19451960198020002020

Theresienstadt 1941 bis 1945. Von H. G. Adler. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen

19451960198020002020

Theresienstadt 1941 bis 1945. Von H. G. Adler. Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen

Werbung
Werbung
Werbung

Scheinbar Unvergleichbares zu vergleichen kann, über alle Gefahren der Gewaltsamkeit hinweg, manchmal auch zu größerer Einsicht führen. So hat das „Tagebuch der Anne Frank“, das in der dramatisierten Fassung (deren mögliche Anfechtbarkeit hier nicht zur Diskussion steht) an so vielen Bühnen zu stärkster Wirkung gelangte, in letzter Zeit wieder einmal deutlich gemacht, daß eine Schilderung des Schicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus durch ein bestimmtes Medium gebrochen und für das Begriffsvermögen der Menschen „aufbereitet" werden muß. Zuviel Un-Menschliches und daher im wahren Sinn des Wortes Un-Faßbares ist in jenen Jahren geschehen. Anne Frank besorgt die „Brechung“ in ihrem Tagebuch unbewußt, und vor dem Hintergrund unseres ganzen Wissens erst nehmen die Aufzeichnungen des jungen Mädchens ihre ganze tragische Dimension an. H. G. Adler geht mit vollem Bewußtsein, auch mit vollem Verantwortungsbewußtsein daran, die Geschehnisse in der „Zwangsgemeinschaft Theresienstadt" durch das Medium wissenschaftlicher Erkenntnisse zu leiten — und Gott allein mag ermessen, wieviel Selbstverleugnung ihn, der 32 Monate selbst an dieser Gemeinschaft teilhatte, eine solche Distanzierung gekostet hat. Das Ergebnis jahrelanger sorgfältigster Arbeit, die allen Ansprüchen gerecht wird, die nur irgend an Quellenstudium und Objektivität, an Sichtung und Auswertung von Material, an historische Treue und soziologische und psychologische Deutung gesteift werden können, hat der deutsche Verlag Mohr als ein 750 Seiten starkes Kompendium in seiner Schriftenreihe „Civitas Gentium“ herausgebracht. Die Reihe führt den Untertitel „Schriften zur Soziologie und Kulturphilosophie“, und deT Gesellschaftslehre unserer Zeit hat sich nun allerdings in Theresienstadt ein Studienobjekt ohne Vergleich geboten. Es ist eine Gemeinschaft, erschaffen, um unter abnormalsten Umständen und Belastungen den Schein des Normalen aufrechtzuerhalten, eine Lüge, die von außen diktiert wird und der man von innen her erliegt, eine Entwicklung, die in jagendem Ablauf Entstehung und Verfall sozialer Formen nachzeichnet. Das alles im Bereich einer für 7000 Menschen erbauten altösterreichischen Festungsstadt, die in dreieinhalb Jahren für mehr als 150.000 Juden zum „Zwischenbereich zwischen Leben und Tod“ wird. Was kann der „Kulturphilosophie“ sich in solchem Bereich erschließen? Von der unheimlichen Aussagekraft der Lagersprache, die für ein empfindliches Ohr bereits die ganze Problematik des Lagerlebens enthält, gelangen wir in Adlers Darstellung zu den geheimen Beziehungen, die zwischen Verfolgern und Opfern bestehen, Widerspiegelungen der Naziorganisationen etwa im Aufbau Theresienstadts oder Entsprechungen, nach denen dem Führer als „summum bonum“ notwendigerweise das im Juden verkörperte „summum malum“ gegenübergestellt werden muß. Dabei wird der metaphysische Hintergrund der Ver-

folgungspolitik, der Charakter einer pseudoreligiösen Heilslehre, der ihr anhaftet, in vollem Umfang deutlich. Aus solcher Sicht aber ergibt sich unweigerlich, daß das Faktum Theresienstadt nicht allein im spezifisch jüdischen Problem und Schicksal wurzelt. Theresienstadt ist möglich geworden in einer Welt, die den Menschen entwürdigt, die „Vermassungsmechanik“ betreibt und Ideologien besitzt, die diese Mechanik unterbauen. Es ist möglich geblieben, auch wenn wir uns heute in dem Glauben wiegen mögen, die Extremsituation der Theresienstädter, der Anne Frank, gehörten bei uns der Vergangenheit an. Hat das „Tagebuch" unbewußt alles dazugetan, in unseren Gefühlen Abwehrstimmung zu erzeugen, so gibt das Werk H. G. Adlers und mit ihm sein Verleger unserem Geist bewußt die Waffen der Erkenntnis, die zur Abwehr eingesetzt werden können.

Lilly S a u t e r

Verschleppt — Verbannt — Unvergessen. Von

Ferdinand R i e f 1 e r. Forum-Verlag, Wien-Frankfurt. 300 Seiten. Preis 65 S.

Ein österreichischer Abgeordneter, den tausende Wähler zum Anwalt ihrer Intetessen gemacht haben, wird 1946 von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet, zu Zwangsarbeit verurteilt und nach Sibirien verschleppt. Warum? Weshalb? Müßige Fragen! Er war eine „Nummer im Debet des Menschenraubes“. 1952 kehrt er nach unglaublichen Entbehrungen und Leiden heim in ein noch immer besetztes Land. Deshalb konnte erst jetzt sein Bericht über diese sibirische Passion erscheinen. Ohne Ressentiment versucht der Verfasser gerecht zu sein, so daß man der ethischen Haltung, die hinter solcher Nüchternheit steht, nur mit größter Hochachtung gegenüberzutreten vermag. Wohl kaum einer, der das Buch liest, kann sich dem Nacherleben des Schicksals Ferdinand Rieflers entziehen. Da sich in ihm gleichnishaft das ganze Dezennium der Rechtlosigkeit unseres Landes widerspiegelt, erhält es zeitgeschichtlichen Wert. Wertvolle Erkenntnisse, die bereits in anderen Berichten, so in jenem Margarete Ottillingers, auftauchten, finden sich hier bestätigt: Einzig die Hoffnung wird in der sibirischen Nacht zur ungeahnten Energiequelle, und nur die unablässige Betonung des Rechts gegenüber dem Unrecht hat letztlich Aussicht, Gehör zu finden. Jede sklavische Haltung, und sei es um momentaner Vorteile “willen, rächt sich später bitter. Es scheint, als zittere selbst noch rechtlose Macht vor machtlosem Recht. Dessen soll man stets eingedenk sein, weil die Massen der Furchtsamen mit ihrer Neigung zur Unterwerfung unter jeden hinreichend brutalen Willen die Erfolgsaussichten politischer Gewaltlehren unverhältnismäßig vergrößern und die Gegenwirkung der Tapferen auf diese Weise unverhältnismäßig erschweren.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung