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Das ewige Gesetz

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Während die meisten Kulturpessimisten in unserem technisierten Zeitalter den Rückgang des philosophischen Denkens beklagen und einen Weltuntergang befürchten, äußert sich der frühere Wiener Ordinarius für Philosophie optimistischer — ohne jedoch die bedrohliche Lage zu verkennen. Seiner Ansicht nach lassen manche Anzeichen, auch auf dem Gebiet der Naturwissenschaft (vor allem der theoretischen Physik und Biologie) vermuten, daß ein Wiederaufleben der Metaphysik gerade in unserer tZdt gegeben, ist. Das gedankenschwere, aber sehr anregende -WefTc nennt Sich -.'Kritik der historischen Vernunft“ und geht von der Tatsache aus, daß die philosophische Reflexion jetzt und besonders in der Vergangenheit zu einem beträchtlichen Teil durch die Totalität der Wirklichkeit nach der Zeitlage bestimmt wird, denn die historische Vernunft ist die Menschenvernunft in der Zeit, und ihr Reich sind die geschichtlichen Geisteswelten. Diese These findet in einer verschwenderisch nuancierten Analyse des abendländischen Denkens ihre Bestätigung, aber gleichzeitig entdeckt man, daß sich neben dieser zeitbedingten Vernunft eine reine (theoretische) und praktische Vernunft durchsetzt, die eine metaphysische Seinswelt von unvergänglichen Wesenheiten, Wahrheiten, Werten und von ewigen Gesetzen als der Wirklichkeit entsprechend aufstellt. Dempf bietet uns jedoch keine Geschichte der Philosophie im üblichen Sinn, sondern eher eine geschichtsphilo-sophische Rückschau auf historischer Basis oder besser noch eine Geistesgeschichte, die den Primat vor der zeitbedingten Staats- und Wirtschaftsgeschichte innehat. Weltgeschichte ist nämlich wesentlich Geistesgeschichte: „Der Vorrang der Metaphysik über die Ethik und Nomologie und erst recht über die Politik und Wirtschaft ist evident“ (S. 75). Gestützt auf dieser Ueberzeugung entwirft der Verfasser eine neue Einteilung der Welt- bzw. Geistesgeschichte in sechs Zeitalter, die der Entwicklung des abendländischen Denkens besser .gerecht wird als die übliche. Gleichzeitig greift er auf jene Ergebnisse zurück, die er in seinem Werk „Selbstkritik der Philosophie. Vergleichende Philosophiegeschichte im Umriß“ (1947) dargelegt hat und die jetzt weitergeführt werden. Im Hinblick auf die großen tragenden Ideen und die damit zusammenhängenden zeitbedingten Wandlungen durchleuchtet er die ganze abendländische Geistesgeschichte, die sich nicht nur im rein philosophischen, sondern auch im politischen, wirtschaftlichen und religiösen Denken offenbart, wobei überraschende Streiflichter vor allem auf die Dogmengeschichte fallen. So kommt er positiv zu einer neuen Bewertung des sogenannten „zweiten“ und „dritten Aristoteles“, Marius Victorinus und Leontios von Byzanz, negativ zu einer Abweisung Luthers, der das metaphysische Denken des Mittelalters über die Heiligung und Begnadigung durch die heils geschichtliche Rechtfertigung und durch den historischen Christus er-, setzt hat. Für Luther ist das positive, göttliche Gesetz wichtiger als das eckhartsche ewige Gesetz. Dasselbe gilt mutatis mutandis für Marx, den „Zeitphilosophen der automatischen Aenderung der Lage“ (S. 221) sowie für die ganze Philosophie des historischen Materialismus, die geistesgeschichtlich gesehen nicht nur vollständig veraltet ist, sondern bereits von einer noch im stillen verborgenen, jedoch unweigerlich auflebenden Metaphysik überholt wird.

Die Darstellung gewinnt an innerer Kohärenz und damit an Ueberzeugungskraft durch den persönlichen Einsatz des Verfassers für die Seinsphilosophie, da er die Verbindung der Geistesgesetzlichkeit und der Seinsgesetzlichkeit niemals so faszinierend hätte vertreten können, wäre er nicht von der Richtigkeit seiner Anschauung überzeugt gewesen. Vielleicht wird man nicht allen hier vertretenen historischen Verbindungen und Zusammenhängen beipflichten können, auch fehlt es anscheinend an Einheitlichkeit über das Individuationsprinzip (einmal die Person S. 41, sonst die Materie S. 274, 283), Tauler und Seuse gehören nur in einem sehr erweiterten Sinn zur „devotio moderna“ (S. 194), vor allem aber stören die sonderbaren lateinischen Wortgebilde wie „possest“ (S. 62, 195, 255), „prudentum“ (S. 91), „itio“ (S. 95) und „praetor“ (S. 250).

Wie jede richtige Philosophie dient auch diese Abhandlung dem Zweck, die ganze abendländische und morgenländische Metaphysik nach Eliminierung der Zeitfaktoren und gesellschaftlichen Bedingtheiten als eine geschlossene Einheit zu verstehen (S. 235) und eine ewige Wahrheit zu erfassen, denn die Stunde der Metaphysik und Ethik, der reinen Vernunft ist gekommen. Eine Philosophie also, die von ihren geschichtlichen Bedingtheiten gereinigt ist und von unabänderlichen Prinzipien geleitet wird, wie z. B. von der konsequenten Durchdenkung des Prinzips „agere sequitur esse“ sowie vom Axiom: „das empfangende Sein wird aufgenommen nach der Weise der aufnehmenden Wesenheit“. Dempfs Denken wird im wesentlichen vom platonisch-aristotelischen Erbe sowie von der philosophia perennis gespeist, ohne jedoch die Befruchtung durch Kant und Scheler auszuschließen — und gerade von diesen Standorten aus gelingt ihm die meisterhafte Durchleuchtung der Geistesgeschichte. Die großen Ideen über Gott, Mensch, Wahrheit und Gesetz, die sich der Menschengeist im Laufe der Geschichte als gemeinsamen, unabänderlichen, ja ewigen Besitz zu eigen gemacht hat, sind kaum mehr „zeitbedingt“ zu nennen. Und wenn das Wort „ewig“ uns zu pathetisch klingt, so müssen wir im Bewußtsein unserer Verantwortung für die eigene Selbstbestimmung und die der Mitmenschen unsere Kleinmütigkeit überwinden, denn „es gibt kein anderes Heil aus eigener Kraft für unsere Zeit, als die Anerkennung des ewigen Gesetzes“ (S. 57).

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