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Das Reich: Idee und Realität

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1.

Je vielfältiger und bedeutender ein Phänomen ist, um so zahlreicher sind die Möglichkeiten, dazu Stellung zu nehmen; alles, was man über das Kaisertum schreibt, muß enttäuschen, es muß subjektiv und der Größe des Gegenstandes kaum, angemessen erscheinen. Die Gipfel der abendländischen Geschichte zeichnen sich schöner und klarer am Horizont ab, als wenn man in dieses Gebirge eindringt, um es mit den Augen des Wissenschaftlers zu durchforschen. Vor allem ist es schwierig, gleichsam mit der Richtlatte des Geometers jenen Gegenständen zu Leibe zu rücken, die ihre Wurzeln in einer archaischen Zeit haben: Schon die Begriffe von einst widerstreben einer sauberen Definition, sie sind vielschichtiger und bedeutungsschwerer als die unseren. Die andere sich bietende Möglichkeit ist ein Nachfühlen und Nacherleben mit dem Herzen, wie es die Romantik versucht hat — beide Wege zu vereinen, bleibt ein ideales Ziel, dem der nistoriker kaum jemals vollkommen gerecht wird.

Voltire sagte einmal, das Heilige Römische Reich scheine ihm weder heilig noch römisch noch ein Reich zu sein. Hier spürt man, wie das rein rationale Denken in die Irre führt, obwohl man für jeden der Teile des Satzes auch heute noch eine Rechtfertigung finden könnte. Vom Heiligen Reich hat man zum Beispiel erst seit 1157 gesprochen, und der Titel meint einen sakralen Nimbus weit unbestimmterer Art, als es die wohldefinierte Heiligkeit der „sancta ecclesia“ ist. Am Beginn der zweiten schweren Auseinandersetzung zwischen Sacerdotium und Imperium suchte dieses seine unmittelbare Herkunft aus der Hand Gottes zu verteidigen, in Anlehnung an die im Vorchristlichen wurzelnde Reichstheologie der Spätantike. Unter Barbarossa, und auch sonst oft, besann,man sich auf ein „Römertum“, das .wiederum sehr yeiir schiedenes bedeuten'konnte — die Be wohner Roms verstanden darunter etwas anderes als der deutsche Reichsklerus, und von der Betonung einer geistigen Verwandtschaft aus dem Besitz des lateinischen Erbes reicht der Bogen bis zu genealogischen Konstruktionen, die den Kaisern oder auch deutschen Stämmen altrömische Vorfahren gaben. Der Zusatz „Deutscher Nation“, der erst im 15. Jahrhundert manchmal den Titel des Reiches ergänzte, ist noch fragwürdiger und wird darum von den Historikern gerne gemieden. Er bezeichnete vorerst nur einen Teil des Reichsverbandes, die deutschsprachigen Gebiete, und bekam dann einen nationalistischen Klang, als man in ihm eine Proklamation der Tatsache erblickte, daß die Deutschen Träger der imperialen Würde seien, und nicht die Franzosen.

War derlei dem Denken Voltaires und -seiner Zeitgenossen von Natur aus fremdartig und ein Ärgernis, so noch mehr der Charakter des ausgehenden Reiches im ganzen, als Fabelwesen der Vorzeit inmitten des aufgeklärten Jahrhunderts. Das Wort Imperium, Empire — im napoleonischen ebenso wie im britischen Sinn — umgreift auch für unser eigenes Denken andere historische Tatbestände, als „das Reich“ selbst des hohen Mittelalters. Forschern des europäischen Westens ist dessen Eigenart so fremd geblieben, daß noch vor wenigen Jahren ein englischer Historiker behaupten konnte, das mittelalterliche Reich sei nichts anderes gewesen als ein Staat unter anderen Staaten, ohne irgendwelche Befugnisse über diese und ohne Aufgabe für die Christenheit. Derlei anzunehmen, sei bloß ein Traum der Romantiker.

II.

Diesen selbst ging es nicht um die klare Begrifflichkeit politischer Juristen, sondern um Glanz und Größe der Idee und das tragische Schaltern ihrer Träger an einer Realisierung inmitten dieser, unserer Welt. Geschichte mit dem Herzen zu schreiben, die Kaiser als Heroen herauszuheben aus der Atmosphäre des Kleinen und Alltäglichen, die man in der eigenen Zeit nur widerwillig ertrug, das war ein echtes Anliegen des beginnenden

Romantik hat gelehrt, in den Einzelheiten das Ganze und in der Ganzheit den einzelnen zu erblicken; sie eröffnete einen neuen Zugang zur Religiosität des Mittelalters und damit einen Zugang zu seinem Kaisertum; in ihr lebte ein starkes musisches Element, die Reichsgeschichte wurde zum Epos und damit populär.

Ein solcher Aufschwung war freilich etwas, das sich nicht auf die Dauer festhalten ließ. Von den Romantikern sind die einen iii die Paulskirche gezogen, um einen neuen Kaiser zu erwählen, und ihre Nachfahren wurden politische Aktivisten verschiedener Prägung. Die anderen gingen in Bibliotheken und Archive, um die Quellen der Vergangenheit zu durchforschen, und viele von ihnen wurden hier zu Positivisten. Deren Leistung, in einer neuen innerweltlichen Askese, schuf großartige Fundamente, aber nicht mehr, für ein Gebäude, dessen Errichtung man immer wieder einer nächsten Generation überließ. Wenn es inzwischen zu provisorischen Synthesen kam, waren sie zumeist getragen vom Geist eines Historismus, der die Zeitgebundenheit aller geschichtlichen Erscheinungen betonte und in dem Kaisertum des Mittelalters nicht mehr einen Leitstern für das eigene Jahrhundert erblicken konnte. Von der Romantik hat man die Liebe zur Vergangenheit und die Hinwendung zum Ideellen in ihr übernommen, vom Positivismus die nüchterne Technik der Quellenbeherrschung. Jetzt, in der Sicht des Landvermessers, mußten sich Reich und Reichsidee in eine Reihe von Teilerscheinungen und Teilideen auflösen, denen man schließlich in Anlehnung an die Soziologie ein gemeinsames gesellschaftliches Fundament geben wollte. •

III.

Das ist der Punkt, an dem wir heute stehen, mit neuen Hoffnungen und neuen .Gefahren, Hoffnuagen, weil da.Zeitalter vorüber scheint, in dem man allen' Wertennnr:einen • relativen Charakter zumessen wollte, wechselnd von Epoche zu Epoche. Gefahren, da der alleinige soziologische Ansatz die Geschichte um ihr eigentliches Wesen bringt und ein rein säkulares Weltbild, dem auch in der Krise des Historismus so viele Historiker anhängen, kaum jemals den gemeinsamen Bezugspunkt erstellen kann, von dem aus sich die Fülle der registrierten Erscheinungen ordnen läßt. Nirgends wird dies so deutlich wie an der Erforschung des mittelalterlichen Kaisertums. Nur zwei Beispiele für die auflösende Tendenz der modernen Forschung können hier gegeben werden, die Kaisererhebungen der Jahre 800 und 962 betreffend; dann soll versucht werden, sie auf einen gemeinsamen-Nenner zu bringen.

Seit 1945 hat man sich mehr als früher mit dem Kaisertum Karls des Großen beschäftigt, den schon Zeitgenossen den „Vater Europas“ nannten. Die Rückbesinnung auf die Anfänge des Abendlandes hat zu verschiedenen Meinungen der Gelehrten geführt, nicht nur der europäischen; selbst in Neuseeland ist eine Studie über Karls Kaisertum entstanden. Ihre Thesen seien hier angeführt, nicht weil sie richtig sein müssen, sondern weil sie den Typus der neuen Forschung gut vertreten. Nach Peter Münz hatte Karl der Große die Vorstellung, er sei ein Nachfolger der alttestamentarischen Könige; sein angelsächsischer Berater Alcuin brachte aus der Heimat Vorstellungen von einem imperialen Oberkönigtum mit; eine „Aachener Gruppe“ bestand aus Praktikern und Realisten, die aus der tatsächlichen Herrschaft über weite Teile Europas die Notwendigkeit eines kaiserlichen Titels ableiteten; Papst Leo III., der die Krönung vornahm, vertrat das römische Element, das über die anderen Tendenzen am Weihnachtstag des Jahres 800 den Sieg davontrug.

Für Otto den Großen und seine Umgebung will C. Erdmann ein ähnliches Nebeneinander verschiedener Standpunkte feststellen. Noch habe es den Gedanken eines fränkischen „Aachener Kaisertums“ gegeben, den Gedanken eines Großkönigtums germanischer Prägung als „nichtrömische“

Kaiseridee, und daneben die historische Tatsache einer römischen, das heißt, an Rom gebunden und auf den Schutz der römischen Kirche bezüglichen imperialen Herrschaft. W. Ullmann sieht dabei einen grundsätzlichen Antagonismus in der päpstlichen Auffassung vom Kaiser als einem „Beamten“ des Papstes, der mit seinen Aufgaben von einem Übergeordneten betraut wurde, und dem imperialen Gottesgnadentum, das den Papst seinerseits als eine Art Reichsbeamten auffaßt. Für den religiösen Gehalt der Vorstellungen über die imperiale Würde in Ottos Umgebung hat man als Quelle die Reichsinsignien dieser Zeit herangezogen, von denen sich das Hauptstück, die Reichskrone, bis in unsere Zeit erhalten hat; dabei fand man Deutungen der Symbolik, die einerseits das Alte Testament, anderseits die Apokalypse in den Mittelpunkt gestellt“ wissen wollten. Hier der hohepriesterliche Charakter des Kaisertums, dort das himmlische Jerusalem der Endzeit, das im Dienste Christi vorbereitet werden sollte. Auf einer wissenschaftlichen Tagung der jüngsten Vergangenheit wurde /übrigens die Beziehung der Reichskrone zum Jahre 962 neuerlich in Frage gestellt; sie ist wahrscheinlich, aber ebenso wenig endgültig gesichert wie sehr vieles andere, das auf das Kaiser- ; tum Bezug hat.

Während die Literatur über das' Kaisertum ins Unübersehbare anschwillt, mag so mancher daran ver- l zweifeln, zu wirklicher Klarheit über ! diesen Gegenstand zu gelangen, -i Immerhin hat man gelernt, daß dort, 1 wo wir nach unserer Denkungsart ' gerne ein Entweder-Oder sehen möch- i ten, von den Menschen des Mittel- 1 alters kein wirklicher Gegensatz i empfunden wurde. Das gilt von den l Begriffen ebenso wie von ihren In- : halten; sie zu intellektualisieren, führt i in die Irre, wenigstens was die Zeit i vor dem Heraufkommen eines neuen , juridischen und scholastischen Den- ' kens betrifft. Aber auch'dann lebte in i den Herzen vieler das Alte weiter, i und darum ist der Zugang der Ro- I mantik zu den Phänomenen unserer i Vergangenheit gewiß nicht ohne Berechtigung, i IV.

Die Romantik sah das gelobte Land des Mittelalters vor sich, und doch i konnte sie es nicht wirklich betreten: ' Ihr fehlte zumeist das, was den Weg : geöffnet hätte, um den Menschen von i damals nahezukommen — ihr fehlte deren schlichte und massive, wenig reflektierte Frömmigkeit. Von diesem ] zentralen Punkt aus kann man nun i wirklich einen großen Teil der Probleme, die sich uns stellen, als nicht existent für sehr viele Menschen des Mittelalters erkennen. Ein Beispiel: i

Der Geschichtsschreiber Widukind vor Korvei, ein Sachse, übergeht in seinen: Werk vollkommen die Kaiserkrönung des Jahres 962 und meldet dagegen schon zum Jahre 955, Otto der Große sei nach der Schlacht auf dem Lechfeld zum „Vater des Vaterlandes“ und Kaiser ausgerufen worden. Widukind wäre erstaunt, könnten wir ihm sagen, er sei der ottonische Hauptrepräsentant einer germanischen, nichtrömi-schen Kaiseridee — warum übrigens bediente er sich dann einer altrömischen Terminologie? Vielleicht würde er uns antworten, zwischen Sächsischem und Römischem finde er nicht allzu große Differenzen und in der Tat, die Zeit ist vorbei, in der mar als “ Forscher zwischen Germanischem und Altrömischem eine unüberbrückbare Kluft sehen konnte; die archaischen Ordnungen der „Staatsgesellschaften“ gleichen einander gerade in wesentlichen Dingen, und das ist auch der Grund, warum dem Mittelalter das Alte Testament so durchaus vertraut sein konnte. Widukind würde weiter berichten, in dem Ausgang der Ungarnschlacht sehe' ei ebenso ein direktes Eingreifen Gottes und die Kundmachung Seines Willens, wie in der von Ihm inspirierter Erkenntnis 'der Kriegerversammlung auf dem Lechfeld, und das Ganze finde er durchaus ähnlich dem anderen Ausdruck des göttlichen Willens, dei römischen Kaiserkrönung, die das Ganze nochmals besiegelte und darum weniger wichtig sei. Hier werden die Menschen zu Statisten, ebenso Krieger und Reichsklerus auf dem Lechfeld, wie dann römischer Klerus und Reichsfürsten am Sitz der Apostel.

In einem, derart einfachen und darum höchst aktionskräftigen Weltbild lösen sich noch andere Antagonismen auf. Für uns besteht ein krasser Gegensatz zwischen der räumlichen Beschränkung des Ottonischen Kaisertums und seinem prinzipiell universalen Charakter, zwischen dem wenig erfreulichen Bild von Aufständen und Familienintrigen gegen Otto und dem Gedanken an das himmlische Jerusalem, das auf Erden durch einen kaiserlichen Hpbepriester vorbereitet werden sollte. . Ö.ie Spannung zwischen Idee und Realität wurde gewiß nicht geleugnet, aber als selbstverständlich ertragen, als Teil eines gottgegebenen Zustandes. Daher der Optimismus, daß alles gut gehen werde, wenn man nur das Seine dazu tat — Deus providebit.

Wir wissen, daß die Eliten von einst, die das Kaisertum schufen und trugen, keine Versammlung von Heiligen waren; das Streben nach Ruhm und Ehre, Macht und Besitz mischt sich in ihre Aktionen. Was diese Zeit von der unseren unterscheidet, ist etwas anderes: Daß es völlig ausgeschlossen war, Egoismen und Gruppeninteressen als obersten Wert zu proklamieren. Vor hundert Jahren, zur Zeit der Schlachten von Magenta und Solferino, stritten zwei Gelehrte um Wert oder Unwert der mittelalterlichen Kaiserpolitik; man sprach von den Italienzügen und meinte die österreichische oder die preußische Lösung: das übernationale Kaisertum als verkleinertes Abbild des mittelalterlichen, oder den kaiserlichen Nationalstaat. Es ist nun sehr bezeichnend, daß beide Historiker von der Frage der Nützlichkeit der einstigen Kaiserpolitik und damit der Institution des alten Reiches ausgingen, genauer gesagt von dem Nutzen für das deutsche Volk. Das hätte kein Kaiser und kein Adeliger des Mittelalters verstehen können. Dienst an der Christenheit, als guter oder vielleicht auch schlechter Dienst, so lautete einstmals die Parole.

“ V.

Nochmals sei es gesagt, daß die Nachtseiten der menschlichen Psyche an diesem Tun des ganzen Menschen nicht unbeteiligt bleiben konnten; daß außerdem bei aller Klarheit des Zieles die Wege recht mannigfaltig und unklar blieben; daß drittens die Kraft zum Handeln aus so mancher Verkürzung und Vereinfachung der Realitäten gefördert wurde, einer politischen Theologie und religiösen Politik, die uns .sehr fremd geworden ist. Immerhin war damals das Wissen um eine Hierarchie der Werte in der ganzen Staatsgesellschaft lebendig, und man hatte den Mut, sich für die obersten Werte mit ganzer Kraft einzusetzen. Das bleibt ein Beispiel für unsere Zeit, an das wir uns. in diesen Tagen besonders erinnern mögen.

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