6760448-1968_13_12.jpg
Digital In Arbeit

Das „sanfte Gesetz“ eine Utopie?

19451960198020002020

STIFTERS WITIKO. Vom Wesen des Politischen. Von Georg Welpmrl. Im Verl&e für Geschichte und Politik, Wien. 383 Seiten.

19451960198020002020

STIFTERS WITIKO. Vom Wesen des Politischen. Von Georg Welpmrl. Im Verl&e für Geschichte und Politik, Wien. 383 Seiten.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Weg zur Erkenntnis der wahren Größe Adalbert Stifters ist weit, für das allgemeine Leserpublikum ebenso wie für den Einzelnen. Die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Schicksal des Dichters, eine intensive Forschungs- und Editionsarbeit, selbst eine massive Beeinflussung der öffentlichen Meinung in der besten Absicht — aber im Widerspruch zu Stifters Prinzipien — vermögen sicher das Interesse zu steigern. Zuletzt bleibt doch auch im hundertsten Jahr nach dem Tode des Genies der poetischen Ordnung der Versuch, dem Werk zu begegnen mit allen seinen Schwierigkeiten. Da helfen nicht Ehren, noch Feiern, Reden und Artikel: die Schönheit ist spröde wie je, das alte Vorurteil vom Idylliker kommt zur Hintertüre wieder herein, bietet Fadheit, Unrealistik und Utopie als Alibis an — und Stifter wandert zu den Bildungsrepräsentanten, auf die der Staub des 20. Jahrhunderts fällt. Was bleibt ist bestenfalls die Gruselgeschichte vom Rasiermesser, über dessen Bedeutung die Ärzte und Historiker streiten.

Es gibt keinen Zugang zur Dichtung außer der Dichtung. Aber war denn, so spekulieren die Stifter- Eiferer, der geliebte Dichter nicht noch mehr? Weiß man nicht von Goethe, daß er der Naturwissenschaft und der Staatskunst so viel Raum und Bedeutung in seinem Leben und Schaffen gab. daß sich seine Dichtung über diese Gebiete, die dem praktischen Leben von heute näher stehen, erschließen läßt? Könnte man etwas Ähnliches nicht mit Adalbert Stifter versuchen? In der Tat: Man braucht die Oberfläche nur anzukratzen und die Konturen eines großen Pädagogen und Konservators, der Stifter war, treten hervor. Und — so paradox das scheint — Stifter erweist sich auch als politischer Mensch, als Lehrer und Künder sozialer Beziehungen. Wie voll von Vorurteilen das geläufige Stifter-Bild ist, zeigt sich etwa an der Bestürzung, mit der man vernimmt, der Dichter habe allen Ernstes einen Robespierre-Roman schreiben wollen. Stifter und Robespierre! Das klingt wie Brecht und Mondsee. Und ist doch beides möglicher als wir meinen.

Es blieb, was den Robespierre- Stoff anbelangt, bei Briefen Stifters an Heckenast. Entstanden ist ein anderer, nicht minder „politischer“

historischer Roman, ein Epos am Beispiel der böhmischen Geschichte: der „Witiko“. Die Analyse dieses Werkes läßt erkennen, daß es eine Fülle politischer Ideen enthält, ja eine ganze staatsethische Konfession. Adalbert Stifter hatte nicht die Absicht, im „Witiko“ seine politischen Ansichten gewissermaßen zu verstecken oder zu verschlüsseln. Es entspricht seiner künstlerischen Konzeption, die er mit größter Gewissenhaftigkeit verfolgt, daß er hier politisches Denken und Handeln im Exempel so überzeugend und folgerichtig vorführt, daß es dem Leser kaum als tragende Linie zum Bewußtsein kommt. Das politische Weltbild ist, um im modernen Jargon zu sprechen, in Stifters „Witiko“ vollkommen „bewältigt“.

Wird man darauf aufmerksam gemacht, so sieht man den „Witiko“ mit neuen Augen. Ein solcher Hinweis in aller Gründlichkeit ist das vorliegende Buch von Georg Weip- pert. Der Autor, zuletzt Ordinarius für Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Erlangen, beschäftigte sich zeit seines Lebens begeistert und kritisch mit Adalbert Stifter. Man merkt dem Buch, das aus dem Nachlaß des 1965 verstorbenen Gelehrten von Christian Thiel herausgegeben wurde, das Herzensanliegen an. Sogar der Stil, bei Soziologen nicht immer die reine Freude, hat bei Weippert ein wenig verhaltene Musik. In einigen seltenen Fällen, „so man feststellt“ (Seite 74). ..so sie einmal entschlossen sind“ (Seite 131), „so man einmal den Kreis der Witiko- Dichtung betreten hat“ (Seite 302), spürt man die Einfühlung bis in die interpretierende Sprache.

Das Anliegen Weipperts ist klar. Er weist nach, daß das „sanfte Gesetz“ für Stifter ein oberster Ordnungsgrundsatz nicht nur für die Natur, sondern auch für das Zusammenleben der Menschen im Gang der Geschichte war. Das Gewissen erscheint daher stark auf gewertet. Kunst und Religion dienen ihm als Substrat. Gewalt und Leidenschaft sind Übel, denen mit Verachtung, aber in Geduld zu begegnen sei.

Weippert glaubt daran, daß Stifter mit diesem politischen Konzept dem im 19. Jahrhundert aufkeimenden und von der Literatur geförderten Machtdenken entgegentreten wollte. Auf lange Sicht erweist sich die Unrealistik der Stifterschen Metapolitik tatsächlich als realistischer als manche Theorie und Glorifizierung der Macht.

Ein reiches Maßwerk geistiger Verstrebungen stützt in Weipperts Werk diese Theorien gewissenhaft. Trotzdem lassen sich die Ansätze noch weiterführen und es drängt sich geradezu auf, einmal zu prüfen, wieweit beispielsweise in der christlichen Soziallehre mit ihren Grundsätzen der Subsidiarität oder der Verantwortungsethik, wieweit auch m den modernen Appellen an das soziale Gewissen Elemente enthalten sind, die schon in Stifters „Witiko“ poetisch vorgeformt wurden.

Nicht, als ob nun einer hemmungslosen nachträglichen Stopfinterpre- tation eines wehrlosen Toten das Wort zu reden sei! Aber man kann der ethischen Wahrheit, auf daß sie leuchte, gar nie genug an Reizen abgewinnen. Stifters „Witiko“ wäre dann um so mehr einer gegenwärtigen Lektüre wert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung