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„Das Wahrheitsserum”

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Vor einiger Zeit erfuhr die staunende Öffentlichkeit, daß es „der Wissenschaft” gelungen sei, ein Wahrheitsserum zu ent-, decken, dessen Anwendung ungeahnte Möglichkeiten für die Aufdeckung von Verbrechen zur Folge haben werde. Es genüge, dem verstockten Beschuldigten dieses Serum zu injizieren, um ihn sofort zu veranlassen, die Wahrheit, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Nach der Kriminalstatistik zu schließen, scheint die abschreckende Wirkung dieser Entdeckung nicht übermäßig groß gewesen zu sein. Mit Recht. Denn wie sich nunmehr herausstellt, ist das sogenannte Wahrheitsserum weder ein Serum, noch zwingt es dazu, die Wahrheit zu sagen. Es handelt sich vielmehr um ein intravennös einzuspritzendes Narkotikum, über dessen nähere Zusammensetzung mir leider keine pharmakologische Literatur zur Verfügung stand. Unter dem Einfluß dieser hypnagogischen Substanz soll es gelingen, die behandelte Person zur Äußerung von Gedanken, Gefühlen oder Tatsachen zu veranlassen, die sie bei klarem Bewußtsein entweder absichtlich oder infolge einer Verdrängung ins Unterbewußtsein verheimlicht hätte. Wie man sieht, soll das Pentothal, das ist der Name des Wundermittels, in wenigen Minuten das leisten, was der Psychoanalitiker durch geduldiges Ausfragen des Patienten in monatelangen Bemühungen ans Licht zu bringen hofft. Die Anwendung des Pentothals und ähnlicher Mittel wird denn auch in deutlicher Anlehnung an die bisherigen Methoden zur Erforschung des Unbewußten Narkoanalyse genannt. Im Grunde genommen ist die chemische Methode der Wahrheitserforschung alt. Bei gewissen preußischen Regimentern und auch in deutschen Studentenverbindungen war es von jeher üblich, neue Kameraden zwangsweise unter Alkohol zu setzen, in der Hoffnung, dadurch’ den wahren Charakter des Bewerbers kennenzulernen.

Über das Anwendungsgebiet des Pentothals seien hier zwei der französischen Literatur entnommene Fälle zitiert.

Im ersten Falle handelte eis sich um einen Mann, der des Totschlages an seiner Geliebten beschuldigt wurde und sich auf Grund eines Schusses in die Stimgegend in einem psychischen Schwächezustand befand und behauptete, sich an nichts mit dem Vorfall - Zusammenhängendes erinnern zu können. Nachdem er — übrigens gegen seinen Willen — mit Pentothal behandelt worden war, manifestierte er gegenüber seiner Geliebten eine feindselige Haltung, die er zuvor niemals kundgetan hatte. Ohne ein positives Geständnis zu machen, gab er doch zu erkennen, daß er etwas absichtlich verheimliche. Man konnte also schließen, daß die angebliche Gedächtnislücke in Wirklichkeit auf einem bewußten Verschweigen beruhte.

Im zweiten Falle handelte es sich um eine Frau, die wegen psychisdier Störungen interniert worden war. Sie hatte während der Besatzungszeit mit einem deutschen Soldaten verkehrt und war nach der Befreiung von ihren Nachbarn behelligt worden, worauf sie mit einer atypischen Amnesie reagierte. Auch in diesem Falle führte die Anwendung des Pentothals • zur Schlußfolgerung, daß es sich nicht um echte und unfreiwillige Gedächtnisstörungen handelte, wobei allerdings zusätzlich ein mit schizophrenen Symptomen gekoppelter Depressionszustand in Erscheinung trat. Zusammenfassend scheint es also, daß die Wirkung des Pentothals darin besteht, daß zwir Tatsachen, die die Versuchsperson mit Entschiedenheit verheimlichen will, verheimlicht bleiben, daß aber dieser Wille, etwas zu verheimlichen, sich unter der Wirkung des Pentothals kund tut. Auf der anderen Seite scheint das Pentothal zu bewirken, daß sfth Gefiihlskompl.exe, die von der Versuchsperson entweder verheimlicht werden oder ihr selbst unbewußt sind, sich manifestieren.

Die französische Gesellschaft für gerichtliche Medizin hat im Jahre 1945 eine Kommission eingesetzt, um die praktischen Folgen, die sich aus der Anwendung der Narkoanalyse für den gerichtlichen Sachverständigen ergeben, zu studieren2. Diese Kommission befürwortete die Anwendung des Pentothals durch den gerichtlichen Sachverständigen, jedoch nur als diagnostisches Hilfsmittel unter der Voraussetzung, daß der Sachverständige verpflichtet sei, unter dem Einfluß des Pentothals gemachte Angaben über die materielle Tat zu verschweiß gen, so daß die kriminelle Verantwortlichkeit niemals allein auf Grund der Einwirkung des Pentothals festgestellt werden könne. Erfreulicherweise und nicht zuletzt unter dem Eindruck eines Protests der in der französischen Widerstandsbewegung tätig gewesenen Ärzte3 machte sich die Gesellschaft den Vorschlag der Kommission nicht zu eigen, sondern schickte den Enwurf zur weiteren Prüfung an die Kommission zurück. Hervorragende Juristen, wie der Ge- neralstaytsanwalt des Appellationsgerichtes in Lüttich, Reni Tahon4, wiesen mit Recht darauf hin, daß der Sachverständige ein Gehilfe des Richters und daß es eine völlige Verkennung seiner Aufgabe sei, wenn man ihn veranlassen wolle, ein Gutachten abzugeben, ohne gleichzeitig die Tatsachen und die angewandten Methoden bekanntzugeben, auf deren Grund der Gutachter zu seinen Schlußfolgerungen gelangte. Mit-Recht wurde ferner geltend gemacht, daß die körperliche Integrität ein vom Staat zu respektierendes Gut darstelle und daß es eine schwere Beeinträchtigung der verfassungsmäßig garantierten individuellen Freiheit bedeuten würde, wenn ein Beschuldigter gezwungen werden könnte, sich eine Einspritzung gegen seinen Willen machen zu lassen.

Selbstverständlich beherrscht dieser Grundsatz auch das österreichische Recht. Selbst ein alle Symptome der Trunkenheit zeigender Kraftfahrer kann die Entnahme einer Blutprobe verweigern, die zur quantitativen Bestimmung des Alkoholgenusses dienen würde, obwohl es sich hiebei um einen physiologisch völlig belanglosen Eingriff handelt. Noch viel weniger kann einem Beschuldigten zugemutet werden, sich seines Bewußtseins und seines Willens zu ent- äußem, um dazu noch gegen sich selber Belastungsmaterial zu liefern. § 202 der österreichischen Strafprozeßordnung schreibt denn auch eindeutig vor, daß kein Zwangsmittel angewendet werden darf, um den Beschuldigten zu irgendwelchen Angaben zu bewegen. Erst recht besteht keine gesetzliche Handhabe, einen nicht ganz vertrauenswürdigen Zeugen zu zwingen, sich mit Pentothal narkotisieren zu lassen. Hierüber braucht kein weiteres Wort verloren zu werden.

Wie aber ist es, wenn der Beschuldigte oder ein Zeuge - sich freiwillig erbieten, sich der Behandlung mit Pentothal zu unterziehen, wie dies angeblich in Deutschland von einer der Personen, die wegen des verschwundenen Schmucks der Kaiserin Hermine in Untersuchung gezogen wurden, geschehen sein soll? Wie gezeigt, besteht die Wirkung des Pentothals unter anderem darin, das Unterbewußtsein zu „befreien” und die Funktionen des Willens und des Bewußtseins zu hemmen. Es scheint sich also die Frage aufzudrängen, ob das Unterbewußtsein „wahrer” sei als das Oberbewußtsein. Ist zum Beispiel die Liebe des zärtlichen Sohnes im Oberbewußtsein „wahrer” als der Ödipuskomplex im Unterbewußtsein?

In Wirklichkeit ist die Frage falsch gestellt, Im Strafprozeß soll der Beschuldigte und muß der Zeuge die Wahrheit sagen. (1 199, Abs. 1, und 427, Abs. 1, Satz 2, StPO.) Wahr ist aber eine Aussage nur dann, wenn der Bewußtseinsinhalt des Aussagenden mit seiner Aussage übereinstimmt. (Wahrheit im subjektiven Sinne.) Beim Fehlen dieser Übereinstimmung ist die Aussage falsch, mögen die mitgeteilten Tatsachen auch objektiv wahr sein. Denn der Zeuge sagt über seine Wahrnehmungen, also Bewußtseinsvorgänge, aus, mag er dies auch nach dem Sprachgebrauch in die Form kleiden, daß dies oder jenes tatsächlich geschehen oder nicht geschehen sei. Wenn aber vom Aassagenden die Prüfung seines Bewußtseinsinhaltes verlangt wird, ist es widersinnig und darum unzulässig, Mittel anzuwenden, die sein B e-w ußtsein beeinträchtigen oder hemmen könnten.

Es ist also leider nichts mit dem Wahrheitsserum. Schade! Von der Probe mit dem glühenden Eisen über die Folter zur Injektionsspritze: welcher Triumph für den Fortschrittsgläubigen!

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