6562409-1949_09_11.jpg
Digital In Arbeit

Das „Wahrheitsserum“

Werbung
Werbung
Werbung

Durch den Budapester Prozeß ist die wissenschaftliche Klärung von Problemen dringlich geworden, die ebenso die Jurisprudenz wie die Psychiatrie angehen. Klare Grenzziehungen werden sich als notwendig erweisen. Im Nachstehenden nimmt das Wort ein am kriminologischen Institut der Grazer Universität tätiger Wissenschafter, der an den psychologischen Instituten der Universitäten Tübingen und Jena in den einschlägigen Forschungsbereichen tätig war und hier aus seiner Schau eine sachliche Begriffserklärung unternimmt pje

Da gegenwärtige rege Interesse der Öffentlichkeit an dem Problem des sogenannten Wahrheitsserums macht es notwendig, diese Frage einmal von der wissenschaftlichen Seite her zu beleuchten. Wie bei allen Erregungszuständen der Massenpsyche, ist der Gegenstand der Debatte in dem Wirbel der Meinungen fast nicht mehr zu erkennen. Im folgenden soll nun versucht werden, unser bisheriges Wissen darüber kurz zusammenzustellen. Geschichtliches:

Di Beobachtung, daß ein Berauschter mehr sagt, als er sonst sagen würde, ist uralt. Schon früh glaubte man, daß er bevorzugt die Wahrheit sage. Dieses Verhalten nicht nur bei Wein, sondern bei allen möglichen Rauschmitteln, wurde natürlich frühzeitig ausgenützt. Fast modern mutet es an, wenn in der mexikanischen Kultur zur Zeit der Eroberung Mexikos ein Rauschmittel (Skopolamin) benützt wurde, um sowohl hysterische Krankheitserscheinungen günstig zu beeinflussen, als auch Angeschuldigte zu Geständnissen zu bewegen. (Berichte aus der Praxis der Hexenprozess lassen den Verdacht hochkommen, daß dabei auch Skopolamin etwa auis europäischen Nachtschattengewächsen eine Rolle gespielt haben mag.) Seitdem haben Gedanken dieser Art sowohl innerhalb als auch außerhalb des europäischen Kulturkreises nie ganz aufgehört. Die erste Erwähnung im neuzeitig wissenschaftlichen Denken erfolgte in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wenn dabei auch alle möglichen Mittel im Laufe der Zeit in Erwägung gezogen wurden, so handelt es sich doch immer um die gleichen grundsätzlichen Rausch Wirkungen: Enthemmung, .Willens beeinflussung, Verstärkung der Überred- barkeit (Einfluß fremden Willens), Freilegung von Erinnerungsinhalten, Halluzinationen und endlich Bewußtseinstörungen bis zum Aufhören des Bewußtseins überhaupt. Natürlich sind die letztangeführten Komponenten für eine Befragung störend.

Die beiden Seiten de' Problems:

Schon bei der ersten empirischen Verwendung des Befragens im Dämmerschlaf in Mexiko treten die beiden Hauptverwendungsgebiete des Verfahrens klar hervor:

Einmal die Verwendung des Dämmerschlafes zur Beseitigung von Hemmungsimpulsen, die dem Aufsteigen der unbewußten Seeleninhalte entgegenstehen. Nun ist aber gerade die Seelenheilkunde von der primitiven Kunst bis zur modernen Psychiatrie immer wieder daran interessiert, latente seelische Konflikte (die dann oft bis ins Körperliche hineinwirken) dadurch zu lösen, daß man die sdiädlichen „Einklemmungen“ erkennt und beseitigt. Dieses Verfahren führt dann zur modernen „Nar koanalyse". Dabei werden hauptsächlich die enthemmenden und tiefere Schichten freilegenden Wirkungen von Betäubungsmitteln interessant sein, wahrend die Willensbeeinflussung nur so weit wichtig ist, als sie eventuell hilft, im Woge stehende Abwehrreaktionen zu beseitigen.

Die modernen Verfahren der Narkoanalyse sind übrigens nicht mehr ganz neu, sie sind schon zur Zeit des ersten Weltkrieges und vorher an verschiedenen Stellen fast gleichzeitig vorgeschlagen worden.

Die zweite Verwendung der Dämmerschlafbefragung ist seit jeher für die Kriminalistik interessant. Das Bestreben, die objektive Wahrheit zu finden, um darauf basierende objektiv riditige Urteile fällen zu können, führt immer wieder dazu, zu versuchen, wenigstens den subjektiven Wissens- und Erinnerungsinhalt des Beschuldigten oder Zeugen eindeutig bloßzulegen. Man ist daher mehr oder weniger auf den guten Willen angewiesen, ob die beiden die Wahrheit, das heißt das, was sie subjektiv für Wahrheit halten, sagen, damit dann die Beweiswürdigung daraus die objektive Wahrheit aufbauen kann. Da alle modernen Rechtssysteme Erforschungshandlungen, die die Person des Angeklagten zum Objekt machen, nicht zulassen, wurde der erste Versuch, das Verhör im Dämmerschlaf praktisch auszunützen, in der gerichtlichen Psychiatrie gemacht. Nach einigen kleineren Fällen erfolgte die Anwendung in den zwanziger Jahren in einem Sensationsprozeß in Turin. Ein Handwerker hatte sich für einen Universitätsprofessor ausgegeben, der durch Kmgseinwirkirng. einen totalen Gedächtnisverlust erlitten habe. Da mehrere Zeugen den angeblichen Professor wieder erkannten, jedoch auch sehr vieles dagegen sprach, so wurde der zweifellos psychopathische Betrüger in einer Ätherhalbnarkose ausgefragt, wobei er dann ohne weiteres seinen wirklichen Namen, seinen wirklichen Geburtsort und seine wirklichen Lebensumstände nannte. Später ist das Verfahren immer wieder geieigentlich von Untersuchungsbehörden in Erwägung gezogen worden. Dabei kommt zunächst neben der enthemmenden Wirkung eine Willensbeeinflussung in Frage, nämlich die Beseitigung eines Widerstandswillens gegen den Untersuchenden. Abgesehen von der rechtlichen Problematik, taucht dabei eine sachliche Problematik auf: mit abnehmendem Widerstandswillen sinkt auch der Wille zum Festhalten der subjektiven Wahrheit, das heißt der eigenen Wissensinhalte. Wenn das Mittel dazu noch die Suggesti- bilität erhöht, ist die Gefahr eines beabsichtigten und unbeabsichtigten Mißbrauches naheliegend.

Höchst unglücklich ist die journalistische Bezeichnung „Wahrheitsserum“ für den ganzen Vorgang, da sie den Eindruck erweckt, als ob man aus dem Erinnerungsinhalt sozusagen die subjektiven oder sogar die objektive Wahrheit herausfiltern könne. Davon kann natürlich keine Rede sein.

Die modernen Methoden:

Für die beiden vorerwähnten Verfahren, das Dämmersdhlafverhör und die psychiatrisch Analyse im Dämmerschlaf (Narkoanalyse) kommen heute drei Gruppen von Narkosemitteln in Frage:

1. Äther und ätherähnliche Stoffe. Diese Substanzen wenden als Dampf mit oder ohne Zufüguntg von anderen Gasen (Sauerstoff) eingeatmet. Im Gegensatz zur eigentlichen Narkose wird dabei das Stadium vor dem Einschlafen, also vor dem völligen Bewußtseinsschwund, durch entsprechende Dosierung längere Zeit (bis zu einer Stunde) aufrechterhalten. Von den vorher angeführten Wirkungskomponenten ist bei Äther die enthemmende Wirkung besonders groß, der willensbrechende Anteil wahrscheinlich mittel, die Wirkung hinsichtlich erhöhter Suggestibilität und posthypnoti-

sdier Prägungen sehr klein, cfagegen werden unbewußte Erinnerungsinhalte besonders gut ans Licht gebracht.

2. Barbitursäure und ihre Derivate. Dazu gehören außer den durch den Mund zu verabreichenden Schlafmitteln, wie Luminal und ähnliche, die ganze Gruppe der intravenösen Narkosemittel, wie Evipan, Pen- totalnatrium, Narkonumal, Amytal und ähnliche. Wie schon aus den Namen ersichtlich, 6ind all die viel diskutierten „Wahrheitssera“ im Grunde in der Chirurgie schon lange verwendete Narkosemittel, nur daß man eben für die Zwecke der Bewußtseinsforschung im Dämmerschlaf es nie bis zur vollen Narkose (Vollbewußtlosigkeit) kommen läßt. Die Verwendung der luminal- ähnlidben Stoffe, die durch den Mund genommen werden, ist unzweckmäßig, weil sich die Wirkung dabei zu schlecht steuern läßt.

Für die Barbitursäuregrvppe im allgemeinen gilt, daß die Enthemmung nicht ganz so groß zu sein scheint, wie beim Äther, die Willensbeeinflussung stärker, stärker auch die Erhöhung der Suggestibilität. Das Aufdecken der unbewußten Zonen des menschlichen Seelenlebens gelingt dabei anscheinend ebenso wie beim Äther. Eine Sonderstellung nimmt dabei das Luminal ein, das besonders stark auf Erhöhung der Suggestibilität hinwirkt. Dabei ist die Wirkung bei Luminal sehr viel länger als bei den intravenösen Narkosemitteln, deren Wirkungsdauer maximal eine Stunde umfaßt.

3. Die Skopolamingruppe. Es handelt sich dabei um injizierbare Mittel, ganz selten wird Skopolamin als Dampf durch Zigarettenrauch oder ähnliches zugeführt. Das Skopolamin und seine Verwandten wirken ausgesprochen bei verhältnismäßig nicht allzu großer Enthemmung auf den Willen ein. Größer als bei allen anderen Mitteln ist auch dabei die Suggestibilität. Außerdem hat die Skopolamingruppe die Neigung, Wahrnehmungsinhalte zu verfälschen und zur Halluzination zu führen. Die Wirkung ist dabei länger als bei den beiden vorgenannten Gruppen.

Abschließend kann zu dem Problem gesagt werden, daß die Erforschung der Wirkungen erst am Anfang steht und zahlreiche Fragen auf ihre Aufklärung warten, bis die gesamten damit zusammenhängenden Probleme für eine entscheidende Diskussion reif sind. Wie bei so vielen anderen Fragen ist hier zunächst allein der Sektor der prak- tisdien Verwendung bearbeitet worden, ohne die empirisch gewonnenen Kenntnisse in ihren größeren Zusammenhängen zu erforschen. Diese Forschung dürfte zweifellos zu einer Reihe neuer Vorstellungen über die Struktur des Schichtenaufbaues d r Psyche führen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung