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Das Zeitproblem bei Augustinus

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Am 28. August des Jahres 430 verschied in der von den Vandalen belagerten, nordafrikanischen Stadt Hippo der große Bischof und Kirchenlehrer Augustinus. Mit ihm, der, am Ende der Antike stehend, noch einmal deren ,geistige Tradition überschaute und in der ersten Synthese mit der jungen christlichen Geistigkeit aufhob, hatte nicht nur die vielleicht bedeutendste, afrikanischem Boden entstammende geistige Persönlichkeit der Geschichte, sondern gleichzeitig auch der erste abendländische Philosoph die Augen geschlossen. Augustinus war von einem wahrhaft platonischem Eros des Wahrheits-dringes ein halbes Leben durch die geistige Wirrnis seiner Zeit getrieben worden, ehe er, bereits 32 Jahre, sich endgültig für das Christentum entschied. Er hatte an seiner Zeit gelitten, wie die edelsten Geister der Menschheit an der ihren gelitten haben mochten. So wurde er zum Denker und Künder von Gedanken und Wahrheiten, deren Echo sich noch in der Ferne neuzeitlicher Jahrhunderte brechen sollte. Wegbereiter der späteren christlichen Philo-sophia perennis Thomas von Aquinos rückte er zugleich erstmalig Fragen in den Kreis der philosophischen Diskussion, denen im Verlaufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung erst das philosophische Denken der Nachrenaissance eine zentrale Stellung zuwies, wie etwa den Descartes vorwegnehmenden Ansatz des Schlusses auf die Seinsgewißheit von der Gewißheit des sie bezweifelnden Denkens. Eine andere, vielleicht weniger oft beachtete Leistung des augustinischen Denkens ist seine Fragestellung nach Wesen und Wirklichkeit der Zeit, ein Problem, das seit Kant und neuerdings auch in der Existenzialphilosophie eine so bedeutende Rolle spielt.

Den Ausgangspunkt des von Augustinus im elften Buch seiner Confessiones angestellten Betrachtungen über die Zeit bildet der gegen die Genesis gerichtete Einwand, was Gott wohl vor der Schöpfung getan hatte und wie sich die Tatsache eines einmaligen göttlidien Schöpfungsaktes mit der Unver-änderlichkeit des göttlidien Wesens, die Entstehung eines neuen Willens mit der Ewigkeit göttlichen Wollens oder die Ewigkeit dieses Willens mit der Zeitlichkeit der Krea-Mr in Einklang bringen lasse, wenn diese doch durch jenen göttlichen Wiilen im Dasein erhalten werde. Es mag als kulturhistorisch interessant vermerkt werden, daß dieser auch zu anderen Zeiten erhobene Einwand auch in der islamischen Theologie aufgetaucht ist, die ja die Schöpfungslehre der Genesis übernommen hatte, und zum Teil sogar auf demselben Boden, der dem Abendland inzwischen verlorengegangen war, auch dort zu weittragenden Auseinandersetzungen geführt hat. Augustinus unternimmt die Beantwortung des Einwurfs durch den Hinweis auf den qualitativen Untersdiied von Zeit und Ewigkeit. Um zu zeigen, daß Maß und Begrifflichkeit der Zeit auf die letztere keine Anwendung finden könne, schreitet er zur Erörterung dieser Begrifflichkeit fort.

Vom theozentrischen Standpunkt ausgehend, zeigt er zunächst die GeworJenheit der Zeit zusammen mit ihrem Inhalt — der Schöpfung — auf und gewinnt so eine vorläufige Bestimmung der — göttlichen — Ewigkeit nicht in der unermeßlichen Dauer der Zeit, sondern in der Zeitloüigkeit. „Deine Jahre sind unbeweglich und daher alle gleichzeitig, die unsrigen hingegen erreichen erst ihre ganze Vollendung, sobald das letzte von ihnen verflossen ist. Deine Jahre, mein Gott, sind nur ein einziger Tag. Dein Tag ist heute und Dein Heute ist die Ewigkeit. Darum konntest Du zu Deinem Sohne sagen; Heute habe Dich ich gezeugt.“ (Conf. XI, 13.)

Es geht Augustinus nunmehr darum, dies durch Erläuterung vom anthropozentrischen Standpunkt aus begreiflich zu machen. Er beginnt mit der Zergliederung des dem Sprachgebrauch entstammenden, unrellek-tierten Zeitbegriffes. Was ist die Zeit? Die Vergangenheit ist nicht mehr, die Zukunft ist nodi nicht, die Gegenwart bleibt in ihrer Ausdehnungslosigkeit nicht eigentlich erfaßbar. Er betrifft die Zeit in der geistig vollziehbaren Gegenwärtigkeit ihrer Vorstellungsinhalte. Hiemit ist eine klare Hinwendung zu einer erkenntnismäßigen Bewußtseinstheorie gemacht, die ihm freilich den göttlichen Seinsgrund nie verdunkelt. Diese Haltung Augustinus scheint auch an anderen Stellen seines Werkes auf, etwa, wenn er von seiner frühen Kindheit spricht und ansteht, sie seinen Erdentagen zuzuzählen, da er nach dem Dunkel seiner Erinnerungs-losigkeit nur durch die Versidierungen anderer von ihr weiß und aus dem Beispiel anderer Kinder glaubwürdig schließen kann, daß er damals war. (Conf. I, 7.) Sie darf demnach im Sinne der abendländischen Philosophie bereits als ein kritischer Realismus bezeichnet werden.

Br wirft sodann die Frage auf, wie die außerhalb ihres Verfließens durch die umfanglosen Augenblicke der Erlebntsgegen-wart unwirkliche Zeit in Zahl und Dauer gemessen werden kann. Der Gegensatz zwi-sdien Meßzeit und Erlebniszeit scheint kurz gestreift, wird aber, weil abseits liegend, nicht weiter verfolgt. Die Erkenntnis, daß die Zeit eine Art Ausdehnung ist, bringt ihn dazu, sie als Maß der Bewegungen und Bewegungsintervalle neben die Dimension des Raumes zu stellen. Im Bestreben, das tertium comperationis zu lokalisieren, welches dem Vorgange der Zeitmessung zugrunde liegt, stößt er schließlich zur Bestimmung der Zeit als kategorialer Anschauungsform des Geistes vor. Der Prozeß unseres Durchganges durch zeitliches Erleben wird durch drei zusammenwirkende Zuständlichkeiten der Seele bestimmt: Erwartung, Aufmerksamkeit und Erinnerung. Zwisdien ihnen rollt die einzelne Handlung, das Leben und endlich die Geschichte als Ganzes ab. Das augustinische Denken hält bei einem virtuellen Sdiluß auf die Idealität der Zeit.

Nichtsdestoweniger bleibt der Blick Augustinus auf Gott als den transzendenten Hintergrund mensdilicher Existenz geheftet. Das rein erkenntnistheoretische Ergebnis tritt so hinter der Ausführung seiner ersten Absicht, der Klärung des Verhältnisses von Zeit und Ewigkeit, zurück. Nur ein Mißverstehen des göttlichen Wesens, eine Interpretation von unrichtigen, weil inadäquaten Denkvoraussetzungen her, kann in der Zeitlichkeit der Weltschöpfung einen Einwand gegen die Ewigkeit ihres Schöpfers ersehen. „Gäbe es einen Menschen“, schreibt er, „dem alles Vergangene und Zukünftige enthüllt und bekannt wäre, bliebe seine Aufmerksamkeit doch eine zerstreute, gleichsam zwischen sein Wissen um das Verflossene und das Kommende geteilte. In Gott aber kann nichts auf diese Weise wechseln. Seine Ewigkeit ist Unveränderlichkeit. Sein Schöpfungsakt hat nicht die geringste Änderung in seinen Gedanken erzeugt.“ Mit dieser, der Theologie der späteren Mystik vorausgehenden Formulierung des Gottesbegriffes beschließt Augustinus seine, in ihren Gedanken Jahrhunderte späterer Geistesgeschichte übergreifende Betrachtung des Zeitproblems.

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