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Der Aufbruch der neuen Bourgeoisie

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Was in Österreich vor sich geht, um sich greift, in stiller Selbstverständlichkeit geschieht, was in diesem vergangenen Jahr 1970 mit dem Wahlsieg Bruno Kreiskys einen ersten sichtbaren Höhepunkt erreicht hat: der Aufbruch der neuen Bourgeoisie, ist keine gar so spezifisch österreichische Erscheinung, wie es die Nabelbeschauer aller Richtungen glauben könnten. Die Eigenart liegt im Atmosphärischen, liegt im Stil, in der Form; der Vorgang selbst jedoch ist für viele Länder charakteristisch, und zwar ungeachtet ihrer herrschenden Ideologien.

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Was in Österreich vor sich geht, um sich greift, in stiller Selbstverständlichkeit geschieht, was in diesem vergangenen Jahr 1970 mit dem Wahlsieg Bruno Kreiskys einen ersten sichtbaren Höhepunkt erreicht hat: der Aufbruch der neuen Bourgeoisie, ist keine gar so spezifisch österreichische Erscheinung, wie es die Nabelbeschauer aller Richtungen glauben könnten. Die Eigenart liegt im Atmosphärischen, liegt im Stil, in der Form; der Vorgang selbst jedoch ist für viele Länder charakteristisch, und zwar ungeachtet ihrer herrschenden Ideologien.

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Denn an diesen, an den dogmati-sierten Wunschträumen und an den spekulativ erstellten Parteiprogrammen, ist die Wirklichkeit einfach vorbeigewachsen, nicht unbeeinflußt von den Ideen, sondern diese als Denkformen, also als Realitäten, in sich auflösend. Die romantische Heilslehre von einer Gesundung, die aus dem Bauerntum ausgehen sollte, ist ebenso wenig ohne Wirkung geblieben wie die angeblich wissenschaftliche Doktrin über die Rolle der Arbeiterklasse als revolutionäre Avantgarde, doch erweist sich diese Wirkung letztlich als sekundär, an den fundamentalen Fakten der ethnischen Existenz gemessen und an der Souveränität des soziologischen Geschehens. Zudem sind die schwärmerischen Ideologien durch die Tyrannei von Hitler und von Stalin kompromittiert worden, wenigstens für zwei oder vielleicht sogar drei Jahrzehnte. Nicht für alle Ewigkeit. Denn mit jedem neugeborenen, von jenen grauenhaften Erfahrungen unbelasteten, euch von Skepsis freien Menschen, mit jeder neuen Generation entsteht der Anspruch wieder: die Forderung nach einer Ideologie, die vorgibt, die profunde Misere der menschlichen Kreatur durch Änderungen des Gesellschaftssystems beseitigen zu können. Man will das Wunder.

Das Bedürfnis nach einer gewissermaßen säkularisierten Metaphysik ist zwangsläufig um so stärker, je mehr die Kirchen auf die Befriedigung dieses menschlichen Anspruches verzichten. Ein erster Verzicht dieser Art innerhalb des Christentums ist im Zeichen des Weltbildes der Renaissance und getragen durch ein ausgereiftes, städtisches Bürgertum vollzogen worden: durch Luther und Calvin. Es scheint nun so, als hätte diese Lust am Verzichten heute auch weite Kreise der katholischen Kleriker erfaßt, ebenso wie manche katholische Denker, die die Idee der Göttlichkeit leugnen, und zwar paradoxerweise, um dadurch gerade der geleugneten Göttlichkeit näherzukommen. Doch wird das Paradoxon sogleich verständlich, wenn es nicht als isolierte Erscheinung gesehen wird, sondern als Widerspiegelung ganz bestimmter soziologischer Umschichtungen und folglich eines ganz bestimmten Weltgefühls. Als Ursache ist das Wiedererstarken jenes in der Renaissance geprägten Denkmodells leicht ersichtlich. Getragen wird es von einem neuen Bürgertum, das entsteht teils durch den schrumpfenden Anteil der Bauern und der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung, teils durch che Vereinheitlichung der Lebensform. Die Bauern und die Arbeiter werden zu Bürgern. In gewisser Hinsicht vollzieht sich eine Renaissance der Renaissance.

Indizien und Analogien gibt es mehr als genug. Einige seien hier aufgezählt: Das selbstbewußte Cefühl der eigenen einzigartigen Persönlichkeit, die der patriarchalischen Familie ebenso übergeordnet wird, wie dem Lokalpatriotismus oder der Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat. Der Kult des Individualismus als Ablehnung festgefügter und rationell nicht gleich erklärbarer Autoritäten, als Abscheu vor allen in sich disziplinierten, hierarchisch gestalteten Gruppen, wie es etwa die Armeen sind. Die Hinwendung zum Materdellen, also die Freude an der Auseinandersetzung mit der Technik oder mit den Finanzen. Der Anspruch auf Spontaneität und geradezu animalische Aufrichtigkeit etwa in der Sprache oder in der Entblößung des Körpers als einfachstes Sinnbild der Natürlichkeit und als Instrument der Lust. Doch steckt freilich in all diesen Empfindungen auch die Forderung nach der freien Möglichkeit von praktizierten Antithesen: nach dem Recht auf Gruppenbildung, auf eine materiell, nämlich mit chemischen Mitteln, erkämpfte Illusion der Metaphysik, auf ein Bekenntnis zur technischen Primitivität und zur Armut, auf eine Geziertheit, auf eine sogenannte Abstraktion der Sinneseindrücke, auf eine Kostümierung des Körpers im Spiel mit launenhaften Moden.

Nicht die Entrechteten und die Darbenden sind es, die ihr Recht auf die eigene Persönlichkeit auf solch zwiespältige Art artikulieren, nein, Bürger sind es, die in den Status ihrer

Bürgerlichkeit gerade eingetreten sind. Neureiche? Nur zum Teil. Die meisten stehen erst auf der Schwelle, wollen den neuen gesellschaftlichen Status erobern Doch liegt nicht im Erreichten die Dynamik, sondern im Streben.

Diesem Streben hat in Österreich die von Bruno Kreisky angeführte, sich scheinbar oder wirklich wandelnde sozialdemokratische Partei ein immer noch vages, jedoch gerade in seiner Schemenhaftigkeit anziehendes Leitbild gegeben. Sie entspricht nicht nur einem städtischen, einem kosmopolitischen Lebensgefühl der Beweglichkeit in der technischen Fortbewegung und im gesellschaftlichen Verkehr; sie bietet dem aufstrebenden neuen Bürgertum zudem die Möglichkeit, sich einerseits materiell und mental zu etablieren, und anderseits dem früheren sozialen Status scheinbar, wenigstens gefühlsmäßig, die Treue zu halten. Ihre Fortschrittlichkeit mag relativ oder gar fragwürdig sein; für das neue Bürgertum ist sie gewiß Sinnbild des eigenen sozialen Fortschreitens. Bruno Kreiskys Art der Sozialdemokratie bietet einem wesentliehen Teil der Bevölkerung eine ganz bestimmte Form der gesellschaftlichen Selbstverwirklichung: die Eleganz und Eloquenz eines neuen Liberalismus. Die als bürgerlich deklarierte Gruppierung, die sich im Zeichen der beiden Enzykliken „Kerum nova-rum“ und „Quadragesitno anno“ als eine Zusammenfassung dreier Ständevertretungen formiert hat, die

österreichische Volkspartei, scheint einem Weltbild verhaftet zu sein, das der Wirklichkeit vielleicht vor der stillen und raschen Entstehung der neuen Bourgeoisie entsprechen mochte. Sie scheint nun unter einem Fluch der mentalen Beschränktheit zu leiden. Ihr zaghafter Wunsch nach Erneuerung bleibt letztlich unerfüllt, da er aus einer Wirklichkeit ausgeht, die keine Wirklichkeit mehr ist (keine im Sinne der sozialen Dynamik), und da er die eigenen veralteten Bindungen nicht sprengen kann, ohne sich, wenn auch nur vorübergehend, politisch zu lähmen.

Die traditionellen Stützen eines aufgeklärten, eines geistig fruchtbaren

Konservativismus sind nahezu verschwunden: die noch bestehende Aristokratie hat sich weitgehend in eine innere politische Emigration zurückgezogen, und ein wesentlicher Teil des Wiener Großbürgertums ißt während des Dritten Reiches aus rassischen Gründen verjagt, getötet, zerschlagen worden. Die Anhängerschaft der Volkspartei besteht vorwiegend aus Bevölkerungsschichten, die aus wirtschaftlichem Interesse, aus traditioneller Bindung oder gefühlsmäßig einer Welt anhängen, wie sie vor dem Aufbruch der neuen Bourgeoisie existiert hat: einer Welt der patriarchalischen Beschaffenheit der Familie und der Wirtschafteeinheit, einer Welt des allseits geförderten oder wenigstens geschützten Privatunternehmens im Sinne eines spätbarocken Christentums, einer Welt der verdienten oder unverdienten Titel, Privilegien und

Ehrungen, einer Welt Im Zeichen der stabilen Hierarchien, wie sie durch die Gegenreformation entstanden sind. Die Vitalität oder wenigstens die Virulenz .all dieser Elemente steht außer Zweifel, aber: sie ist eine Vitalität der Stagnation. So kommt es, daß gerade die große bürgerliche Partei den neuen, den dynamischen Teil des Bürgertumes nicht oder nur kaum repräsentiert.

Die Stimmen dieser neuen Bourgeoisie sind der Sozialdemokratie zugeströmt, weil sie der stürmischen sozialen Umschichtung mehr oder weniger entsprechen konnte. Die Volkspartei aber ist in einer früheren Form der Bürgerlichkeit steckengeblieben. Sie war nicht fähig, da® Weltbild des neuen Bürgertumes zu begreifen, geschweige denn mitzu-prägen, obwohl sie als Auftakt bloß auf ihre eigene (allerdings vielleicht längst verschwendete) Erbschaft hätte zurückgreifen müssen: auf das Lebensgefühl des klassischen Liberalismus, in seiner reinen, also etwa von großdeutschen Schwärmereien freien Form.

Mit dem Aufbruch der neuen Bourgeoiisie scheint ein Phänomen zusammenzuhängen, das die frei gewordenen Energien politisch zum Teil paralysiert: Es ist dies eine gewisse Kleinlichkeit, die sich als Sachlichkeit tarnt, eine Verwandlung des Staatsmannes in einen Spezialfachmann auf dem Gebiet der Gesetzgebung, ein platter und phantasieloser Pragmatismus, mit anderen Worten: ein radikaler Verzicht auf jede Art von Größe. Die derzeit höchst formlos wirkende Außenpolitik ist das sichtbarste Indiz für diese Haltung. Und als könnte sich der Aufbruch der neuen Bourgeoisie leicht in einen Abbruch verwandeln: in einen Abbruch des Prozesses einer allmählichen Demokratisierung des Gemeinwesens. Auch an Klein-kariertheit kann man untergehen, und die besondere Gefahr dabei besteht in der Stille und der lieblichen Ruhe, die solche sang- und klanglosen Katastrophen zu umhüllen scheint, und zwar bis zum ersten Augenblick des schmerzvollen Erwachens.

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