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DER BLINDE MONSIEUR POUQET

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Im Verlag Herold, Wien, erschien vor kurzem in deutscher Uebersetzung das Buch von Jean Guitton „Synthese des Christlichen” (268 Seiten, 132 S). Das Buch schildert Leben und Lehre eines der originellsten Bibelgelehrten Frankreichs, des im Jahre 1933 verstorbenen blinden Lazaristenpaters Monsieur Pouget.

Frankreich besitzt zwei erblindete Priester, die als religiöse Denker und Seelenführer bekanntgeworden sind. Der Dominikaner Joseph-Marie Perrin lebt noch und hat sich als Exerzitienleiter und vor allem als Verfasser von wertvollen Abhandlungen über das Laienapostolat einen Namen erworben. Der andere, der Lazarist „Monsieur Pouget”, ist 1933 im hohen,Alter von 83 Jahren gestorben. Er war weitaus der originellste und gelehrteste, und obwohl er in seinen letzten dreißig Lebensjahren blind war, verfolgte er noch immer die wissenschaftlichen Fortschritte, nicht nur in der Theologie, der Exegese und den Geisteswissenschaften, sondern auch in der Physik und besonders in der Biologie.

Monsieur Pouget war ein typischer Gelehrter: zerstreut, genügsam, bescheiden und auch ein wenig sonderbar. Er kannte fast das ganze lateinische und griechische Neue Testament auswendig, ebenso ganze Teile des Breviers, vor allem die Psalmen und auserlesene Stücke des Alten Testaments im hebräischen Urtext. Er war ein echter Bibelgelehrter, der schon sehr früh die damals gangbare Theorie des „Konkordismus nicht mehr vertrat und sich also dagegen wehrte, dafj alle Aussagen der Bibel auch auf naturwissenschaftlichem und biologischem Gebiet mit den neuesten Erkenntnissen „konikordieren” müßten. Lebhaftes Interesse zeigte er für die biblischen Theorien des Modernismus. Er kannte Loisys Schriften, vor allem sein „Autor d’un petit livre” über die Entstehung des 4. Evangeliums, aber obwohl er für Loisys Schwierigkeiten und Bestrebungen tiefes Verständnis aufbringen konnte — was damals in katholischen Kreisen eine Ausnahme war —, so lehnte er doch seine Theorien ab. Die Bibel war für Pouget kein offenes Buch; sie enthielt für ihn grofje Rätsel, und er stiefj überall auf Schwierigkeifen, weil er ein grofjes Wissen und einen sehr kritischen Geist besal). So trachtete er, nicht nur die einzelnen problematischen Texte oder die bekannten „Widersprüche” zu lösen, sondern er suchte auch nach einer neuen umfassenden Erklärungsmethode. Langsam entwickelte sich eine ganz persönliche Auffassung über die Bibelinspiration, wobei -er die erst später sich, durchsetzende Erkenntnis der literarischen Gattungen vorwegnahm. In diesem Zusammenhang baute er eine ganz eigene Theorie über die „Mentalität” der Bibel auf sowie über die naturwissenschaftlichen, moralischen, geschichtlichen und philosophischen Ansichten der Heiligen Schrift. Sehr originell ist die von ihm entworfene „Regel des Mindestmaßes” sowie die Theorie der inneren Entwicklung, die zum Beispiel Newman für die kirchliche Lehre ausbaute. Nur scheint Pouget das Werk des englischen Kardinals nicht gekannt zu haben. Das erste, was man jedoch seiner Ansicht nach für die Bibelerkfärung nöfig hatte, war eine fachlich begründete Kenntnis der einzelnen Texte und eine liebevolle, wenn auch kritische Beschäftigung mit ihnen. Viel Schwierigkeiten lassen sich durch eine gewissenhafte Vergleichung der einschlägigen Texte unter Heranziehung der ältesten Bibelübersetzungen lösen.

Auch mit anderen, besonders philosophisch-theologischen Fragen befaßte er sich. Er schrieb nicht nur biblische, sondern auch kleine theologische Abhandlungen, die jedoch niemals veröffentlicht wurden. Aber sie enthalten wertvolle und tiefe Gedanken über die Entstehung der Welt, die Evolution, die Glaubensgeheimnisse, die Lehre der Erlösung, das christliche Moralsystem und über das geistliche Leben.

Jean Guitton, der bekannte Philosoph und Bibelgelehrte — er verfaßte u. a. eine wertvolle Erklärung des Hohenlieds —, hat das alles eingehend und mit tiefem Verständnis dargestellt in seinem Buch; „Portrait de M. Pouget”‘, einem Werk dpj soeben in deutscher Ueberträgung erschienen rsJ, nachdem die französische Fassung bereits ihre 27. Auflage erlebt hat. Es ist ein faszinierendes Buch, nicht so sehr durch die Darstellung von Pougets Theorien, sondern durch die Schilderung des Menschen Pouget, besonders in der Periode nach seiner Erblindung. Guitton beschreibt das Zimmer, wo Pouget arbeitete, und wie er mit Hilfe seiner nichts ahnenden und kaum etwas verstehenden Mitbrüder zum Beispiel ein hebräisches Wort zu bestimmen versuchte. Er beschreibt, wie Pouget dachte und sprechend seine Gedanken weiterentwickelte, wie er lebte, ganz bescheiden, ohne Bedürfnisse, eigentlich arm, inmitten seiner dunklen und doch vom Glauben erleuchteten Welt, vielleicht mit einem Luxus, indem er sich gelegentlich — und dann noch wissenschaftlich begründet — ein Stück Zucker erlaubte. Ursprünglich war er für das Lehramt bestimmt, aber als Lehrer und Professor war er zu gelehrt und zu originell, und schließlich wurde ihm die Lehrtätigkeit genommen, wozu sein General sich mit Tränen in den Augen entschloß, aber über diese Entscheidung hat M. Pouget sich niemals beklagt, im Gegenteil, er machte es seinem Vorgesetzten leicht und erklärte, daß er die Entscheidung gerecht fand.

Mit zunehmendem Alter entwickelte er sich mehr und mehr zu einem Privatgelehrten, der in seinem Zimmer hockte, erst noch mit einer Lupe die Texte entzifferte und inzwischen so viel Texte memorierte, daß er sich für die dunkle Zukunft einen Materialschatz sammelte, den er in seinem mächtigen Bauernkopf bewahrte. Wenn auch seine Lösungen in konkreten Einzelheiten manchmal nicht mehr haltbar sind, so waren viele seiner Grundprinzipien schon damals so richtig, daf) sie später durch die neuere katholische Bibelwissenschaft bestätigt und in den jüngsten Bibelenzykliken empfohlen bzw. gestattet wurden. Das Geheimnis seiner exegetischer Arbeit ist zuerst in seinem unerschütterlichen Glauben zu suchen, wodurch se’ne innere Sicherheit — trotz aller wissenschaftlichen Zweifel — niemals gefährdet wurde, zweitens in seiner phänomenalen Beherrschung der Texte. Er brauchte keinen Mandelkern, Brook-McLean oder Dutripon, die drei großen Konkordanzen für den hebräischen, griechischen und lateinischen Bibeltext. Ihm fielen von selbst die Stellen ein, in denen das gleiche Wort, ein analoger Satz und ein ähnlicher Gedankengang Vorkommen, und so war es ihm ein leichtes, die Zusammenhänge aufzuspüren und besonders den Entwicklungsweg einer Idee innerhalb der Bibel nachzuweisen.

Je älter er wurde, um so mehr fand er — wenn auch in einem sehr beschränkten Kreis — Anerkennung. Er war Vertrauensmann von jungen Missionären und Beichtvater von Studenten, sogar von einigen Soldaten. Schon jahrelang war er mit den Philosophen Chevalier — dem Pascal-Kenner — befreundet, und er scheint sich in späteren Jahren um das persönliche Schicksal und das Seelenheil des einen oder anderen Modernisfen gekümmert zu haben. Rührend ist die Begegnung, die er ein Jahr vor seinem Tod mit dem alternden Lord Halifax hatte. Guitton schildert die Zusammenarbeit dieser zwei großen Männer, äußerlich so verschieden und doch von einem Geist beseelt. Als Halifax am Ende der Unterredung von Pouget den Segen erbat, erwiderte dieser: „Ich bin nur ein armer Priester; wir wollen einen anderen bitten, uns zu segnen” — und da sie beide schlecht sahen und die Entfernung nicht abschätzen konnten, stieben sie mit den Köpfen aneinander. Lord Halifax küf)te beim Aufstehen M. Pouget die Hand, wie er es manchmal bei Damen zu tun pflegte. Guittons Schilderung des Besuchs, den Pouget dem ebenfalls sehr alten Bergson absfattete, ist ein Kabinettstück. Der blinde Priester, der kaum von dem ißm angebotenen Champagner nippte, muf) um das tiefe Seelengeheimnis des Philosophen gewußt haben.

Mit menschlichen Augen gesehen, scheint dieses Leben beinahe nutz- und fruchtlos verlaufen zu sein. Zu Pougets tiefer Gläubigkeit und Hilfsbereifschaft fanden nur sehr wenige den Zutr’ t, seine Schriften wurden nicht veröffentlicht, und seine immensen Kenntnisse lagen scheinbar brach in seinem mächtigen Kopf, ohne daf) sie den direkten Weg in die Wissenschaft, die Verkündigung oder die Erbauung fanden. Aber Gott geht seine eigenen Wege. Was während des Lebens Pouget verborgen blieb, wurde nach seinem Tode bekannt. Er spricht tatsächlich nach seinem Tod: defunctus ad’huc loquitur. Wir hören den blinden Priester jetzt sprechen im wundervollen Buch, das vielleicht sein einziger richiiger Schüler, Guitton, ihm gewidmet hat.

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