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Der Bruder hinter dem Schlagbaum

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Die Tatsache, daß im Verlaufe der letzten drei, vier Generationen der innere Abstand breiter Massen der industriellen Arbeiterschaft von der Kirche sehr weit geworden ist, läßt sich ohne weiteres an der sozialen Struktur der aktiven städtischen Pfarrgemeinde ablesen. Abgesehen von dem durch Jahrzehnte vorherrschenden geistigen Einflüsse des Freidenkertums und des vom Bürgertum übernommenen Antiklerikalis-7 mus. ist die Kirchenfremdheit der Arbeiter in beträchtlichem Umfange das Ergebnis eines soziologischen Prozesses und ein nachgeborenes Resultat der besonderen Verhältnisse im Räume der Habsburgermonarchie.

Nach der Liquidierung der mittelalterlichen berufsständischen und bedarfsdeckungswirtschaftlichen, paternali-stischen Ordnung und der folgenden Trennung von Arbeitsobjekt und Arbeitssubjekt erscheint der Arbeiter infolge der Entgüterung des Familienhaushaltes in der Marktwirtschaft nur mehr als Verkäufer seiner Arbeitskraft, die vertragsrechtlich dem Unternehmer übereignet wird. Ein Vertragsverhältnis setzt zwar gleichberechtigte Vertragspartner formell voraus, die ökonomische Ungesichertheit des Arbeiters wird aber vo.m Unternehmer des Kapitalismus zum Arbeits- und Lohndiktat genutzt, wenn auch nach außenhin das Vorenthalten des gerechten Lohnes — zum Unterschied vom Feudalismus — im Kapitalismus irgendwie legalisiert ist.

Je stärker sich der Arbeiter dann seiner tatsächlichen Stellung im Marktprozeß bewußt wird, um so eindeutiger wird auch seine Frontstellung zum Dienstgeber und Unternehmer. Die Unternehmer des Hochkapitalismus, sekundiert von willigen Exekutivorganen des Staates, bilden für den Arbeiter „die Gesellschaft“ schlechtweg. Die Kirche als Eigentümerin, insbesondere von Grundbesitz, ist für den Arbeiter des Hochkapitalismus ein Stück jener Gesellschaft, die er rundweg ablehnt. Sie ist Teil einer dem Arbeiter fremden Ordnung und steht auf dem anderen Ufer, zu dem es ohne Lösung der sozialen Frage und ohne Neuverteilung des Sozialprodukts für den Arbeiter keine Brücke zu geben scheint. So sieht der Arbeiter in der Kirche weitgehend nur die Besitzkirche, die Eigentümerin der Latifundien, den „Nur-Verbraucher“, den „Unternehmer“. Wenn er auch noch im Brauchtum weitgehend und unbewußt Verständnis für christliche Symybole zeigt, ist diese Haltung immer mehr eine unbewußte. Das Bekenntnis zur Kirche erscheint dem Arbeiter aus der sozialen Stellung heraus als ein solches zu einer ihm fremden Gesellschaft, zu dem ihm feindlichen Obrigkeitsstaat, zur Interessenpartei des Kapitalismus.

Der Entfremdungsprozeß wurde noch maßgeblich gefördert durch das nachhaltige Eintreten kirchlicher Autoritäten für das Privateigentum

und durch alle gesetzgeberischen und politischen Bestrebungen, die einer Sicherung des privaten Eigentums dienten. Daß die Kirche nur für das wohlerworbene Eigentum und da nur unter Annahme des ordnungsgemäßen Eigentumsgebrauches eintrat, wurde bedauerlicherweise nicht immer in der notwendigen Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, so daß Anlaß für eine verfehlte Klassifikation der kirchlichen Lehrmeinung durch die Arbeiterschaft gegeben war. 1

Nach der Ablösung der funktionsständischen Ordnung durch die besitzständische des Kapitalismus bildete sich die Interessentengruppe des „Bürgertums“ heraus. Politischer, staatsbejahender Konservativismus und Besitzbürgertum gingen, beide aus verschiedenen Gründen, in Furcht vor jeder Fonm revolutionären Umbruches, weite Strecken im politischen Raum gleichen Weges. Aus ihrer Anerkenntnis einer gewachsenen Ordnung vertrat die Kirche ein zur gegebenen Zeit notwendiges, „konservatives“ Programm, soweit es eben um Grenzfragen des sittlichen und öffentlichen Lebens ging. Aus der unglücklichen Verbindung zwischen Konservativismus und Besitrzbürgertum erwuchs im Parteienstaat durch die Kommerzialisierung des Geistigen die politische Bourgeoisie, welche die Ideen des Konservativismus im Interesse ihres ökonomischen Machtstrebens vernichtete. Die Kirche distanzierte sich von der neuen bürgerlichen Front, mit der sie weder institutionell noch geistig je etwas gemein hatte, nicht immer offensichtlich. In den Augen der nunmehr weitgehend in politischen und ökonomischen Kategorien denkenden Welt entstand der Eindruck einer Verbürgerlichung der Kirche und die Meinung, daß die Repräsentanten derselben mit ihren Sympathien weitgehend „rechts“ stünden. Sicherlich ein Widersinn, dem aber oft von christlichen Laien auf beiden Seiten Glauben geschenkt wurde. Die Kirche war in den Augen des ökonomischen Marxismus bei den Besitzenden gegen die Arbeiterschaft, beim ancien regime gegen die revolutionäre Neuerung der Gesellschaft, bei allem Gestrigen gegen das Heute und noch mehr gegen das Morgen. Sie schien schließlich dem durch die Schule des Freidenkertums gegangenen Arbeiter nur mehr Exekutivorgan der Obrigkeit und der herrschenden Klasse zu sein. Nun war die Frontstellung gegen die Kirche für den Arbeiter fast zu einer Ökonomischen Notwendigkeit geworden. Für die Stärke der Distanzierung der Arbeiter gegenüber der Kirche ist auch der Umfang der Verstädterung maßgebend. Mit der Erweiterung der Betriebsgrößen und der Abgrenzung der Stadt gegenüber der ländlichen Umgebung unter gleichzeitiger Schaffung einer großstädtischen Atmosphäre entwachsen die Städter einer dörflich-organischen Gesinnung. Sie werden zu Nomaden. Auf diese Weise werden ihnen die

Wer sich die bedachtsame Nüchternheit des Blickes bewahrt hat, wird zugeben, daß eine reinere Gestalt der Kirche hervorbricht. Eine österreichische Kulturpolitik wird daher — neutral ausgedrückt — christlichen Impulsen zum mindesten offen stehen. Die rechte Ordnung muß immer von neuem in lebendigem Vollzug verwirklicht werden. So müssen wir uns hüten, ohne weiteres eine christliche oder katholische Kultur als gegeben oder doch nach einem Programm verwirklichbar vorauszusetzen. Nur sofern der Christ seinen Glauben Im Hier und Jetzt bewährt, arbeitet er an der Wohnbarmachung der Erde, an der Humanisierung des Menschen.

Dr. Ignaz Zangerle: •Osterreichische Kulturpolitik“ 1336

Sprache der Kirche, ihr Brauchtum und ihre

Wortverkündung, die im wesentlichen an den erdverbundenen Bauern gerichtet sind, immer unverständlicher, je mehr sie zur Masse werden, zu jenem „absolut Formlosen“ (Spengler), dem kein nachweislicher Ursprung und keine Zukunft, daher auch keine Hoffnung, schon gar nicht eine christliche, eigen ist. So der geistesgeschichtliche Vorgang.

Wie stellt sich nun die Gegenwartssituation dar? Die erste Feststellung muß die sein, daß die Kirche im Räume des Industrieproletariats die Sprache des Arbeiters nur unvollkommen beherrscht. Bs kommt zu einem Anejnandervorbeireden. Die Missionare lernen unter unendlichen Schwierigkeiten die Dialekte der zu missionierenden Völker und suchen den Zugang zw ihrer völkischen Eigenart. Aber auch che Sprache und das Denken des Arbeiters sind ein eigenes, vom Betriebserlebnis und seiner Interessenlage geformt. Warum kann nicht auch dem Arbeiter des Abendlandes wie dem Neger im Busch das “Wort Gottes in seiner Sprache verkündet werden, ohne theologische' Fachausdrücke, ohne daß er ein theologisches Handlexikon benutzen muß, um eine Sonntagspredigt zu verstehen? Die Großstadtseelsorge ist bedauerlicherweise zum Teil noch weitgehend auf Kleinbürger und Intellektuelle ausgerichtet. Der Priester ist oft zu sehr Akademiker, während' hingegen der dörfliche Seelsorger in seiner Abgeschlossenheit die dauernde Berührung mit theologisch-akademischen Fragen entbehren und den theologisch-a praktischen„ auf das Landvolk abgestellten Fragen sich zuwenden muß. Aus diesem Grunde ist im außerstädtischen Räume der Typ des Landseelsorgers der normale, in der Stadt der Arbeiterseelsorger nicht die Regel.

Die Verbürgerlichung & es städtischen Christentums in Mitteleuropa bedeutet die Gefahr einer Identifizierung von Klasse und Glaubensbekenntnis. Bedenken wir, daß es beispielsweise heute in Wien Gruppen der katholischen Jugend gibt, in denen kein einziger Lehrling mit dabei ist! Das kirchliche Brauchtum hat seine Quellen im Organisch-Bätierlichen. Es ist gewachsen. Die Stack ist organisiert, ein Stück Zivilisation. In der Stadt ist das christliche Brauchtum, soweit es nicht überhaupt noch dörffich bestimmt ist, dem BürgerHch-Patriarcbalischen verhaftet. Aber auch die Zivilisation der großen Stadt, als Endergebnis des Kulturablaufes, bedarf ihre'r eigenen Formen nicht nur in den weltlichen, sondern mehr noch m den religiösen Bereichen. Wir brauchen die Stadtkirche. Die Gottesdienststätte,“ die nicht wie im Dorfe, im Zentrum steht, sondern unter der Fülle der Zinskasernen. Wir brauchen die Kirche des Bruders neben der dörflichen Kirche des Vaters. Im städtischen Räume muß die Seelsorge mobil werden, sie muß mit den Nomaden gehen und darf nicht warten, bis die Heimatlosen durch einen Zufall von ihrer Straße den Weg ssar abseitigen Kirche finden.

In ihrer Bestimmung ist die Kir.che der leidenschaftliche Protest gegen jede Form von Sklaverei und gegen jeden Abstrich an den Menschenrechten. Der Kapitalismus, nicht als Anhäufung von „mehrwertheckendem“ Vermögen, sondern als eine bestimmte Denkweise, bedeutet Versklavung. Es wäre notwendig, immer wieder und ohne Rücksicht auf christliche Reiche das au sagen. Und zu sage, daß um den gerechten Lohn nicht“ gebettah zu werden braucht, sondern daß er ein Recht ist. Der Lohnraub ist ebenso Verbrechen gegen Gottes Gebot wie etwa dk Unzucht. Nur in der klaren Absage an jede Form des Kapitalismus, auch den des Staates, kjmn sich efte Kirche nach außenhin vom vterrechtlichen Feudalismus lösen.

In ihrem Streben nach einer gerechten Ordnung wird che Arbeiterschaft nicht von einem kalt berechnenden Interessenhedoms-m geführt, sondern vom vitalen Bekenntnis z* den Grundsätzen der Gerechtigkeit. Halten wir uns vor Augen, daß nur da, wo christliches Gedankengut Volkseigentum geworden, ein Sozialismus entstehen “konnte. Bs gibt kaum irgendwo den Ansatz des SOZI alfetischen Protestes gegen die bestehend^ ökonomische Unordnung auf einem näht von Christen bewohnten Territorium, dk dr soziaKstische Protest notwendigerweise die Kenntnis einer vom Christlichen geformten Soll-Ordnung voraussetzt, in der jode Ungleichheit und Hierarchie vor Gott aufgehoben ist. Es ist zwecklos, päpstliche Enzykliken zu Tode zu komoierteren und zu diskutieren. Die sozialen Enzykliken

wurden wafirfrrii mcht deshaft der Weh

verkündet, um Anregungen für Disputationen oder für philosophische Diskusstonen zu liefern, sondern um eine ganze Weh, wie zur Zeit des Völkerapostels Paulus, zu revolutionieren, um den Widersinn des Kapitalismus, der lediglich die ökonomische Entsprechung des Individualismus und Materialismus darstellt, zu beseitigen, um neuerlich von höchster Stelle aus d i e A r-beit als Teilnahme am S c h 5 p-fungsakt zu klassifizieren.

Hier, in dem Bewußtwerden dieser christlichen Revolution, liegt der Beginn einer neuen Gemeinsamkeit zwisdien Kirche und Arbeiter, die fern jeder politischen Prose-lytenmacherei wachsen muß. Der revolutionäre Enthusiasmus des Christen muf? aber ein vom Politischen durchaus verschiedener sein, um so mehr als die Kirche in den Fragen des Weltlichen eine neutrale Haltung einnimmt und nur auf die Provokationen der Welt antwortet. Vor allem, und hier komme ich auf das Vorgesagte nochmals zurück, tut not, das Gotteswort in einer unmittelbaren Eindringlichkeit dem Arbeiter nicht allein im sakralen Raum, sondern bis in seinen Betrieb hinein zu proklamieren. Wenn der Arbeiter die Kirche meidet, darf der Priester nicht in der Geborgenheit des

Beichtstuhles oaer der Warrfcanzle? auf den

Arbeiter warten, der den Anruf der Seelsorge nicht hört, sondern muß zu ihm gehen: in seine Wohnung, in seine Versammlung. Vieles ist schon erreicht, wenn, wie dies in der „Furche“ neulich angeregt wurde, die Großpfarre in Kleinpfarren aufgelöst und damit die Wegstrecke zwischen Priester und Arbeiter verkürzt wird.

Zur Sprache dieser Zeit gehören auch cRe Formulierungen des ökonomischen Sozialismus. Wie immer man sich zu ihm stellen mag, wird ohne dessen Kenntnis vieles in der modernen Arbeiterbewegung und in der Arbeiterpsyche den Außenstehenden, zu denen heute auch noch der Priester gehört, in mythischer, fast kultischer Verborgenheit bleiben.

In der Bedeutung vor jeder Diskussfon und jeder Wortverkündung steht, wer wollte dies leugnen, das christliche Beispiel. Das des christlichen Unternehmers, des christlichen Besitzers. Können wir aber hoffen, daß die Welt auch in emem völligen und alle Grenzen übergreifenden Zusammenbruch wie diesem noch soviel christliches Leben in sich trägt, um eine in Abweisung und Mißtrauen erstarrte Arbeiterschaft von der Gültigkeit der Heilswahrheit durch das Beispiel allein zu überzeugen?

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