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Er war ein radikaler früher Zivilisationskritiker, der dem Individuum und der bürgerlichen Gesellschaft misstraute. Zum 300. Geburtstag des Philosophen Jean-Jacques Rousseau.

"Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird.“ Mit diesen selbstbewussten Worten beginnt die stilisierte Autobiografie von Jean-Jacques Rousseau. Der streitbare Philosoph beschreibt darin sein singuläres Projekt, sich ein authentisches Leben zu erarbeiten - ein Projekt, das höchsten Ansprüchen gerecht werden will. "Rousseau greift beständig nach hohen und höchsten Zielen“, bemerkte der deutsche Philosoph Ernst Cassirer in dem Aufsatz "Rousseau und Kant“, der im Suhrkamp Verlag wieder publiziert wurde, "aber er fühlt, dass er sie nicht erreichen kann und er sieht den Abgrund zu seinen Füßen nahe und drohend vor sich.“ Rousseaus radikaler Lebens- und Denkentwurf erfolgte gegen die Widerstände einer von ihm als korrumpiert und oberflächlich wahrgenommenen Gesellschaft, die er vom Konkurrenzkampf, von Heuchelei, Lüge und Neid beherrscht sah. Überall ortete Rousseau dieses wandlungsfähige Gespenst; es vergiftete die intellektuellen Salons in Paris, in denen er zeitweise verkehrte und verleidete ihm den Umgang mit der zeitgenössischen höfischen Gesellschaft, die ihm durchaus wohlwollend gesinnt war.

Der Mensch im Naturzustand

Mit dieser eindimensionalen Gesellschaft wollte Rousseau nichts zu tun haben. Das hatte auch biografische Gründe. Schon früh war der am 28. Juni 1712 geborene Denker auf sich allein gestellt. Die Mutter starb kurz nach seiner Geburt, der Vater verließ ihn nach einem Streit mit einem Offizier; die Erziehung des Kindes übernahm ein calvinistischer Pfarrer. Nach einer abgebrochenen Lehre entschied er sich für ein nomadisches Leben, das ihn nach Savoyen, in die Schweiz und nach Turin führte. 1742 ging er nach Paris, wo er seinen Lebensunterhalt als Hauslehrer und als Komponist bestritt. Hier lernte er auch verschiedene Philosophen kennen, die wie Denis Diderot zu den führenden Protagonisten der Aufklärung zählten. Das erste größere Aufsehen erregte Rousseau 1750 mit der Publikation der "Abhandlung über die Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“. In der Abhandlung, die nur wenige Seiten umfasst, verneinte Rousseau diese Frage. Im Gegensatz zu den Vertretern der philosophischen Aufklärung, die wie Diderot oder Voltaire von der Notwendigkeit überzeugt waren, das natürliche Wesen des Menschen durch Bildung und Wissenschaft zu kultivieren, betrachtete Rousseau den Zivilisationsprozess als einen Dressurakt, der das ursprüngliche Wesen des Naturmenschen verändert und deformiert habe. "Unsere Seelen sind in dem Maße verdorben“, schrieb Rousseau, "in dem unsere Wissenschaften und Künste vollkommen geworden sind.“ Dagegen stellte er den Naturzustand des Menschen, den er in die Frühgeschichte der Menschheit projizierte. In dem fiktiven "goldenen Zeitalter“, das Rousseau in dem 1755 publizierten "Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ enthusiastisch schilderte, beschrieb er "l’homme naturel“ - den Naturmenschen - als ein glückliches, selbstgenügsames Wesen, das in bescheidenen Hütten lebte, sich in Felle hüllte und auf Tätigkeiten verlegte, die es selbst ausführen konnte. "Der Naturmensch war so frei, gesund, gütig und so glücklich, als es seine eigene Natur erlaubte“, schwärmte Rousseau. Dieser paradiesische Zustand verändert sich radikal durch die Sesshaftwerdung der Menschen und die Entwicklung der Landwirtschaft. Ein folgenschweres Ereignis markiert den Übergang vom Natur- zum Kulturzustand: "Der Erste, welcher ein Stück Land umzäunte und der sich in den Sinn kommen ließ, zu sagen: dieses ist mein, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft.“ So entsteht eine Gesellschaft von Egoisten, die hemmungslos ihre Bedürfnisse ausleben, ohne Rücksicht auf die Folgen ihres Handelns zu nehmen.

Unterwerfung unter den Allgemeinwillen

Die Menschen empfinden für den anderen nicht mehr Mitleid, sondern sehen ihn als unliebsamen Konkurrenten, den es zu bekämpfen gilt. Dieser Prozess der Zivilisation kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Rousseau war nicht so naiv zu glauben, dass eine Rückkehr in das verlorene Paradies des Naturzustands möglich wäre. Seine Überlegungen gingen dahin, wie man das ursprünglich gute Wesen des Menschen in der aktuellen Gesellschaft bewahren könnte. Das würde durch die Unterzeichnung eines gerechten "Gesellschaftsvertrags“ erfolgen, in dem jeder Einzelne zustimmen sollte, seine Rechte an die Gemeinschaft abzutreten. Man wird selbst Teil eines gesetzgebenden, politischen Körpers, der die individuellen Interessen mit der Sorge für das Allgemeinwohl verbindet. Indem nun der Einzelne sich bedingungslos dem Allgemeinwillen - der "volonté générale“ - verpflichtet, verwandelt sich der selbstsüchtige Mensch in ein moralisch verantwortungsvolles Wesen.

Die Radikalität von Rousseaus Reflexionen und seine eigenwillige Persönlichkeit, die Kompromisse stets ablehnte, stießen auf wenig Gegenliebe. Er zerstritt sich mit seinem guten Freund Diderot, brüskierte den englischen Philosophen David Hume, der ihn nach England eingeladen hatte und attackierte Voltaire, den er als Prototyp des eitlen Philosophen verurteilte. Sich selbst sah der zum Verfolgungswahn neigende Philosoph als Opfer einer dekadenten Gesellschaft, die nichts unversucht ließ, um seine Existenz zu zerstören. Rousseau zog sich immer mehr zurück, lebte auf der St. Petersinsel im Bieler See als Einsiedler, der den Tag damit verbrachte, die Natur zu beobachten und botanische Untersuchungen anzustellen.

"Jenes köstliche far niente“

Am Ende seines Lebens, das sich durch eine außergewöhnliche literarische und philosophische Produktivität auszeichnete - so verfasste Rousseau den Roman "Julie oder Die neue Heloise“ und entwarf eine Verfassung für Korsika - stand er völlig isoliert da. Er flüchtete sich in die Konzeption seines Buchs "Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, das nach seinem Tod am 2. Juli 1778 veröffentlicht wurde. Der in München lehrende Philosoph Heinrich Meier sieht in den "Träumereien“ das "schönste und gewagteste Buch“ Rousseaus, in dem "das Glück eines philosophischen Lebens“ - so der Titel von Meiers umfangreicher Studie, die im C. H. Beck Verlag erschien - geschildert wird. Dieses Glück ist nur wenigen gegeben und stellt sich erst ein, wenn man den Sprung vom oberflächlichen Leben der zivilisierten Gesellschaft in die Privatekstasen des Solipsismus gewagt hat. Dann ergibt sich die Möglichkeit, das "ganz Andere“ aufzusuchen, "jenes köstliche far niente“, das Rousseau auf der St. Petersinsel erlebt hat. Theodor W. Adorno war wohl mit diesem solitären Glücksgefühl vertraut, das selbst in der verwalteten Welt des "ganz Falschen“ präsent ist. "Auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen“, heißt es im Aphorismus 100 "Sur l’eau“ von Adornos "Minima Moralia“, "sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung könnte anstelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten“. Es wäre dies ein Zustand, so Rousseau in den "Träumereien“, "der mir zur Ausfüllung meines Lebens genügt hätte, ohne auch nur einen Augenblick den Wunsch nach einem anderen Zustand in meiner Seele entstehen zu lassen“.

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