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Der Denker zwischen den Zeiten

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Am 11. Februar 1650 starb am Hofe der Königin Christine von Schweden Rene Descartes, der größte Philosoph | Frankreichs, Begründer der modernen Philosophie, Wegbereiter der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung, die den Aufstieg der modernen Naturwissenschaft begründet, Denker der Selbsterkenntnis und Selbstvollendung des Einzelmenschen, Denker der Zeitwende zwischen der Gotteswelt des Mittelalters und der prometheischen Menschenwelt moderner Technik und Zivilisation: Denker zwischen den Zeilen.

Früh fließt das aus Leben, Gegnerschaften und Intrigen erfahrene Gegensatzgefüge von Welt und Ich in sein Weltdenken ein. Der Gegensatz von Welt und Ich, von Außen- und Innenwelt, gibt seiner Auffassung die eigentümliche Prägung. Kein Denker hat die zwei Welten, die durch die Sinnesorgane aufgenommene Außenwelt der körperlichen Dinge und die innere Welt der Gedanken, Gefühle und Willensakte so scharf voneinander geschieden wie Descartes. Die äußere Welt zeigt die Eigenschaft der Ausdehnung (ens extensum); alle Dinge der äußeren Welt erstrecken sich in die Richtungen des Raumes und können daher der Länge, Breite und Höhe nach gemessen, ihre Verhältnisse demnach als ein System von Größenbeziehungen in Zahl und Zahlenverbindungen dargestellt werden. Die innere Welt entzieht sich solcher Messung und zahlenmäßiger Bestimmung: wir können nicht von einem zwei Meter langen Gedanken, einem fünf Kilogramm schweren Gefühl und einem zehn Meter breiten Entschluß sprechen. Denken, Fühlen und Wollen sind aber nicht minder wirklich als die Dinge, die wir messen, zählen und wägen können. Den Zugang zu der inneren Welt gewährt nicht der Maßstab in meiner Hand, sondern mein Selbstbewußtsein, durch das ich unmittelbar, wenn ich denke, auch weiß, daß ich denke, und so in meinem Denken mich selbst als denkendes Wesen (ens cogi-tans) und die Welt als meinen Gegenstand erfahre: Die neuzeitliche be-wußtseins - philosophische Entwicklung, insbesondere das Denken Kants, haben hier ihre Wurzel.

Die objektive Erkenntnis der äußeren Welt, der Natur, erfolgt durch Feststellung genauer Meßergebnisse auf Grund exakter Beobachtung mit Hilfe des Experiments. Descartes, der absolute Gewißheit in Inhalt und Form der Erkenntnis anspricht, glaubt diese nur in der Form der analytisch-mathematischen Methode (more mathematico) erlangbar, schreibt er doch, daß „die, welche den rechten Weg zur Wahrheit suchen, sich mit keinem Gegenstand beschäftigen dürfen, von dem sie nicht eine den arithmetischen und geometrischen Beweisen gleichwertige Gewißheit zu erlangen imstande sind“ (disc. II, 3, I, 33). Es ist die Frage, ob alles unstreitig und sicher Erkennbare auf diesen More-mathematico-Nenner zu bringen ist und wenn nicht, ob wir dann berechtigt sind, eine anders strukturierte Erkenntnisweise als nicht objektiv, unmethodisch und unwissenschaftlich abzulehnen. Ein totalitärer Anspruch ist überall, auch auf dem Gebiete der Methode, ein dogmatisches Postulat, das mit dem kritischen Beginnen Descartes' in seltsam paradoxer Weise kontrastiert. '

Descartes, der als Entdecker .der analytischen Geometrie gezeigt hat, wie geometrische Figuren in mathematische Gleichungen übergeführt werden können, will in überspannter Entdeckerfreude das Schema des mathematischen Denkens auf alle Wissenschaften übertragen und die Philosophie als die

Universalmathematik (mathesis universalis) konstituieren. Das vorzügliche und paradigmatische Anwendungsgebiet der mathematischen Methode ist das Gebiet der empirischen Naturwissenschaft, deren Anfänge in den Leistungen Tychos, Ko-pernikus', Galileis und anderer die bewundernde Anerkennung unseres Philosophen gefunden hatten. Descartes macht hier die Probe seiner Methode und leitet aus wenigen einsichtigen Elementaransätzen, aus der durch die Ausdehnung gegebenen Teilbarkeit der Materie und der mechanischen, das heißt durch Druck und Stoß erzeugten Bewegungen der Materieteilchen .die Entwicklung des ganzen Universums ab: auch des Lebens der Pflanzen und Tiere (die für ihm Automaten sind) — einschließlich des menschlichen Körpers. Die Welt gestaltet sich in seinem Geiste zu einer Riesenmaschine, die nach einfachen Gesetzen das Weltall produziert. Dieser kosmische Produktionsapparat der neuen mechanistischen Weltauffassung ist das Urbild, das bis in die wirtschaftliche, gesellschaftliche und Lebensgestaltung des modernen Menschen hinein schicksalhaft bestimmend wirkt. Ausgenommen von der totalen Weltmechanik ist noch bei Descartes der menschliche Geist, das denkende Wesen, das, weil denkend, nicht ausgedehnt, weil nicht ausgedehnt, nicht teilbar und weil nicht teilbar, nicht eine mechanische Zusammensetzung sein kann. Doch selbst das denkende Wesen, das geistige Ich, kann nur durch die analytische Methode des allgemeinen Zweifels entdeckt und gesichert werden. Wir müssen nach Descartes' Anweisung so lange an allem zweifeln, alle Behauptungen analysieren und in Frage stellen, bis wir etwas finden, woran sich nicht mehr zweifeln läßt und dies ist der unbestreitbare Sachverhalt: cogito ergo sum, ich denke, also bin ich. Mag ich objektiv, richtig oder falsch denken, daß ich subjektiv überhaupt denke, kann ich nicht bezweifeln, denn wenn ich daran zweifle, so denke ich, und wenn ich denke, bin ich. Damit haben wir den „archimedischen Punkt“ gewonnen: die unbedingt sichere subjektive Ausgangsposition für alle Erkenntnis und dies durch die methodische Analyse. Nun hatte schon Augustinus diesen Fixpunkt der Gewißheit gegen die Skepsis aufgewiesen, allerdings ohne die problematische Systemfolgerung, die Descartes daraus ziehen zu können glaubte. Wir verstehen aber, daß Descartes den Tag und den Augenblick, da ihm die umstürzende Tragweite seiner Methodenerkenntnis aufging, als den Höhepunkt seines Lebens empfand. Er befand sich damals in dem süddeutschen Städtchen Neuburg an der Donau, wohin er als Soldat im Heere Tillys zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges gelangt war. Es war dies wirklich der weltgeschichtliche Augenblick, mit dem eine neue Ära des europäischen Denkens beginnt, die durch die ichhafte Selbst-gegründetheit des Menschen und das naturwissenschaftlich akzentuierte Methodenbewußtsein gekennzeichnet ist.

Doch steht in der entzweiten Welt Descartes' der Mensch in der tiefsten und letzten Fragwürdigkeit seiner Existenz. Mit dem Körper ein Teil der ausgedehnten Welt, mit dem Geiste aber dem denkenden Sein angehörend, zerfällt er in zwei grundverschiedene, einander ausschließende Bereiche. Sein eigenes Sein wird durch den entzweiten Kosmos dividiert. Diese wahrhaft kosmische Auflösung des Menschen vollzieht sich in der auf Descartes folgenden und von ihm aufgelösten Entwicklung der abendländischen Philosophie bis in die letzte Konsequenz. Um diesen Weltwiderspruch zwischen Geist und Materie zu beseitigen, wird entweder die geistige Natur fallen gelassen (Materialismus) und der Mensch ganz als Maschine begriffen (so La Mettrie: l'homme machine), oder in Reaktion auf diesen Mechanismus in ein Bündel von Naturtrieben, Lebenstrieb bei Schopenhauer, Machttrieb bei Nietzsche, aufgelöst. Oder aber, es wird der Mensch als reines Bewußtsein und Geistwesen angesetzt, ohne die Eigengesetzlichkeit des körperlichen Daseins zu berücksichtigen. Diese monistischen Einseitigkeiten fordern und bedingen einander. Sie bilden die destruktive Dialektik des Geistes, den ständigen Streit und Kampf der Weltanschauungen, der die geistige Substanz des Abendlandes zerrieben hat und uns dem Nihilismus überantwortete, der unser uhheilr voller und endgültiger Schicksalsanteil zu werden droht. Descartes selbst wußte noch genau, daß die Welt aus.den Fugen gehen muß, wenn sie nicht von der Exjstenz Gottes zusammengehalten wird. Darum hat er sich um ihren Erweis bemüht, darum hat er Gott seiner Welt zugeordnet und als Konstruktionselement und Sicherheits-koeffizientfcn seinem Weltgebäude einzufügen gesucht. Gott wird zur Weltangel, indem die beiden selbständigen Weltflügel des Geistes und der Materie ineinandergreifen. Welch eine Verblendung und Verkennung, die Gottesfrage in einem welthaften Rechen- und Konstruktionsbeispiel „lösen“ zu wollen. Diese rationale Verweltlichung Gottes bedeutet das Ende der Gottesidee im abendländischen Denken. So hatten in der Folge Spinoza Gott als „mathematisches“ Gleichheitszeichen, und Leibniz als deisti-schen Uhrmacher angenommen, der sein Weltuhrwerk, nachdem er es geschaffen und aufgezogen, der eigenen Automatik überlassen kann, bis schließlich der französische Existentialist J. P. Sartre mit letzter Folgerichtigkeit Gott die „kostspieligste Hypothese“ nennt, die fallen kann, ohne daß sich an der Welt und an dem menschlichen Schicksal das geringste ändern könne, denn der Mensch sei einzig und allein“ auf sich angewiesen. Dies die geradlinige Entwicklung vom Dualismus (Descartes) zum Deismus und schließlich zum Atheismus. Nietzsche hat den ganzen Sachverhalt in die denkwürdige Feststellung gekleidet, daß „Gott tot ist“.

Mit Descartes begann ds Sterben Gottes, aber gleichzeitig das Sterben der Menschen. Es ist nur folgerichtig, daß wir auf dem Höhepunkt der von Descartes eingeleiteten naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung in der Symbolgestalt der Atombombe gleichzeitig die tiefste Bedrohung der menschlichen Existenz erfahren. Die kartesianische Vernunft, die Gott in den Griff bekommen will (und dadurch verliert), enthüllt heute ihre ganze Fragwürdigkeit in der apokalyptischen Doppelgesichtigkeit einer existentiellen Daseinspanik angesichts des drohenden Untergangs und einer gleichzeitig triumphierenden Dämonie des brutalsten Technizismus. Wir stehen heute im Prozeß einer großen, wahrhaft existentiellen Demonstration, in der sich die unlösbare Verbundenheit der göttlichen und menschlichen Existenz erweist, die auch dem großen Descartes nicht fremd blieb, der den ererbten Gottesglauben mit dem Anspruch des kritischen Geistes zu versöhnen strebte, als Denker zwischen den Zeiten.

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