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Der Existentialismus: Zeitkrankheit, letzte Wahrheit oder chronisches Übel?

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Zum Buch von Fritz-Joachim v. Rintelen: Philosophie der Endlichkeit als Spiegel der Gegenwart. Westkulturverlag, Meisenheim. 490 Seiten.

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Zum Buch von Fritz-Joachim v. Rintelen: Philosophie der Endlichkeit als Spiegel der Gegenwart. Westkulturverlag, Meisenheim. 490 Seiten.

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Rintelen, der ausgezeichnete Mainzer Philosoph, einfühlsamer, in der Form milder und in der Sache unbestechlicher, unbetrügbarer und beinahe stets untrüglicher Kritiker des Existentialismus, hat in seiner Auseinandersetzung mit dem, was er als „Philosophie der Endlichkeit" definiert, sehr richtig den Spiegel der Gegenwart erkannt, das Erzeugnis und das Abbild einer jener Zeiten der Uebergänge und der Untergänge (mit oder ohne Würde), die der bedauernswürdigen Menschheit von Aeon zu Aeon verhängt sind, auf daß aus Schmerzen und Zerstörungen wiederum Neues und, oft, Besseres werde. Durch die glänzende Darstellung, die häufig über das engste Fachgebiet hinaus auf die Domänen der Kunst und weithin auf die der Dichtung übergreift — Rilke ist, neben Heidegger, Jaspers, Gabriel Marcel, einer der Hauptzeugen, auf die sich der Autor bei seinem Urteil über die ganze, ihm so wenig passende Richtung beruft —, durch das gesamte Buch schimmert der geschichtliche, politische, soziologische Hintergrund hindurch, auf dem ich das geistige Drama abspielt. Rintelen ufiternimmt es nicht, ihn zu schildern. Sein Anliegen ist es, sich erkenntnismäßig mit den Postulaten der Endlichkeitsphilosophie zu beschäftigen, eben diese Behauptungen und Forderungen aus der häufig verworrenen, stets in gespreizter Sprache dargebotenen Lehre der existentialistischen Meister herauszuschälen und endlich — bei allem ironischwohlwollendem Lob einzelner verdankbarer Anregungen und Errungenschaften Heideggers und, in höherem Grade, Jaspers’, in geringerem Maße Sartres — die Unhaltbarkeit der Grundpositionen der durchs Chaos geprägten Schule darzutun. Daß dieses Ergebnis nicht, oder nur wenig, die christlichen Existenzphilosophen, von Gabriel Marcel und dem vor einigen Jahren verblichenen Blondei zu Berdjajev- und Wust trifft, versteht sieh von selbst: s i e sind ja nicht in der Endlichkeit gefangen und befangen.

Einiges Bedauern wird in uns wach, daß sieh der feinsinnige Philosoph, der in früheren Werken über Goethe, über die „Dämonie des Willens" und „Von Dionysos zu Apollon" nicht nur seine musische Hellhörigkeit, sondern auch seine Aufmerksamkeit gegenüber den seelischen Mächten der Tiefe bekundet hat, daß Rintelen einen Gesichtspunkt, offenbar absichtlich, ausschaltet: Sachlich, allzu sachlich, vermeidet er es, die persönlichen Wurzeln aufzuzeigen, aus denen die Philosophie der Endlichkeit, der Existentialismus, bei seinen maßgebenden Schöpfern und Verfechtern mindestens ebenso zu erklären ist wie aus der allgemeinen Zeitlage. Verfallenheit rührt nicht selten davon her, daß ihre Beklager einem inneren Dämon verfallen waren; Gescheiterte sprechen vom großen Scheitern und aus der Bahn Geworfene vom Hinausgeschleudertwerden. Psychopathen spüren und erspüren die Angst; unbefriedigte, vom Sexus geschüttelte Melancholiker oder Masochisten-Sadisten jaulen und jauchzen in Todessehnsucht.

Es gilt zu unterstreichen, daß der Nährboden des Existentialismus nicht nur in einer fiebergeschüttelten Epoche, sondern auch in siechen Seelen zu finden ist. Von diesem Einwand abgesehen (der im Grunde keiner ist, sondern nur ein Wink sein will, auch andere Aspekte des Problems zu betrachten), pflichten wir Rintelens scharfsinnigem Werk mit Freuden und aus tiefster Ueberzeugung bei. Mit unerbittlicher Konsequenz entwickelt er, wie sich aus einer, dem Entwerten aller Werte und dem Chaos entspringenden Grundposition alles weitere herausbildet. Der ungeborgene, unbehauste Mensch sieht sich in ein endliches, ihm zum verhaßten Gefängnis werdendes Universum ohne Gott, ohne Jenseits eingeschlossen. „Das Sein des Menschen ist verkettet mit der verfallenen Nichtigkeit der Welt, in die er geworfen wurde und in deren Grenzen er sich bescheiden muß." Hier lebt er ein „Sein zum Tode ". „Das Nichts, davor die Angst bringt, enthüllt die Nichtigkeit, die das Dasein in seinem Grunde bestimmt, der selbst ist als Geworfenheit in den Tod. Das Nichts west als das Sein.“ In dieser Welt, die Heidegger in derlei, ihn durch ihre grammatikalische Mehrdeutigkeit und durch ihre hermeneneutisch verkleidete Wirrnis verratender Sprache schildert, ist alles relativ. Unüberwindbarer Skeptizismus verwehrt, uns selbst übersteigernde Wahrheiten anzuerkennen. Durch Stimmungen bestimmt — und, so fügen wir hinzu, äls Instrumente der inneren Musik gründlich verstimmt —, sehen wir als Ausweg der Existenz nur ein Bejahen der Endlichkeit, in Trotz und in heldischer Resignation.

Rintelen, durch das heroisierende Geschwätz unverbiendet, sieht nun die wahrhaft „trostlose" Existenz des heutigen Menschen durch fünf Haupteigenschaften charakterisiert: entpersönlichende ungläubige Versachlichung; massenmäßige Einebnung; innere Aushöhlung durch glänzenden Vordergrund; Unechtheit; stumpfe Triebhaftigkeit. Mit anderen, mit Karl Kraus’ — des bedauerlicherweise nie Zitierten, Worten: das technoromantische Abenteuer oder auch „Kultur im Dienste des Kaufmannes" oder der „ver- broigte Loibusch" (welches dritte, durch den Druckfehlerteufel geschaffene, an sich unver ständliche und doch so arationell einleuchtende, „lichtende" Wort am helldunkelsten die Situation darstellt). Und unser Autpr erfühlt als das Problem der Probleme: wie der Mensch wieder zum Menschen werde; wie die „Existenz" — um diesen vieldeutigen, vielgedeuteten Begriff endlich zu fixieren: wie „das entscheidende Jasagen zum eigenen Selbst" — nicht etwa „angesichts der erkannten Nichtigkeit des endlichen Daseins", sondern im Hinblick, im Hinaufblick zum erkannten Wert des absoluten Seins, lebenswert und liebenswert werden kann. Existenz, so fährt Rintelen fort, muß Sinn für Tiefe und Rang haben. Sonst blüht aus dem Zweifel Verzweiflung, das Dasein wird zur fragwürdigen Last. Trauer, Schwermut, Sinnlosigkeit senken sich auf uns nieder. Der Verfasser zeigt mit Fug, daß derlei tragisches Empfinden, Unamunos „Sentimiento trägico de la vida", nicht selten aus einer Art sittlich-denkerischem Masochismus stammt. Man will unglücklich sein, denn das ist dem so Fühlenden zum Glück nötig. Der morbide Rilke wirft einmal, auf den Einwand „Gott", schaudernd hin: „Dann gibt es keine Tragik." Und in der Tat, so wie wir an echte Transzendenz, an überweltliche Bezüge, an eine waltende Vorsehung glauben, wird die menschliche Tragödie zur göttlichen Komödie. Allerdings, und hier müssen wir ausnahmsweise Rintelen widersprechen, ist auch ein zweiter Ausweg aus der Tragik und dem Chaos möglich. Der Autor schreibt: „Tragische Haltung ist keine Dekadenz untergehender Bürgerlichkeit; alle Volksschichten, soweit sie nicht metaphysisch geborgen sind, stehen in skeptischer, illusionsloser Welt des Mißtrauens gegen sich selbst, gegen den anderen und gegenüber dem Dasein" (S. 190) . Das trifft auf den Marxismus und seine optimistische Grundhaltung nicht zu. Die von diesseitiger Gläubigkeit erfaßten Volksschichten hegen Mißtrauen — oder genauer: Vertrauen in die Bosheit und Minderwertigkeit — nur gegenüber den Klassenfeinden. Sie sind auch frei von der morbiden Todesmystik. Rintelen erörtert ganz vortrefflich das Verhalten, die Haltung gegenüber dem Sterben. Er unterscheidet sechs mögliche Antworten auf die für den Menschen wichtigste Frage: Wir stehen vor dem Nichts (Materialismus älteren Stils, Nihilismus). Wir gehen in ein Ganzes ein und leben in ihm fort (gewisse asiatische Philosophien und Religionen, aber auch, ungeachtet ihres grundsätzlichen Materialismus die marxistisch-leninistische Doktrin, für die der einzelne ja nur eine Zelle des Gesellschaftsorganismus ist). Wir wenden uns vom Tode ab (Vogelstraußphilosophie der Renaissance, der Aufklärung, mitunter des Positivismus). Beruhigende Idealisierung des Todes

(Pantheismus, Idealismus, Romantik), samt einer zur Unsterblichkeit hinüberweisenden Zwischenlösung (Rilke dafür ein Beispiel). Endlich die Hoffnung (metaphysische Religionén). Der Verfasser betont die reinigende Kraft der Besinnung auf den Tod, der die Sorge um den Sinn des Lebens entquillt, doch auch die Einsicht ins Notwendige einer Transzendenz. ‘ Er beweist das Widerspruchsvolle einer innerweltlichen Transzendenz und er verwirft die Rückfälle ins Heidnische, zum Numinosen und Naturgöttlichen. Ein Satz von Jaspers wird gewissermaßen zur Brücke, die vom überheblichen, nur auf den Menschen ausgerichteten, Existentialismus zu einer echten Transzendenz führt. Das „Scheitern" jeder Gestalt der Wahrheit in der Welt klingt bei Jaspers an einen Gottesbeweis an. — Wiederum verrät hier die Sprache den, der sich ihrer bedient; das Bild, aus der Schiffahrt entlehnt, zeigt den Philosophen, wie er auf brandendem Meer, unsicher, vom steten Versinken bedroht, und nicht auf festem Feld gründet, dem begegnend seine Gedanken zerschellen können. — Jetzt aber holt Rintelen zum entscheidenden Angriff auf die Philosophie der Endlichkeit aus, auf „die Philosophie vollendeter Unseligkeit." Er wendet -sich m wider die Verschmelzung von Subjekt und Objekt, verteidigt die Rechte der Person, die subjektiv-geistig-seelisches Leben und Tun ist und dazu konkrete Geisteswirklichkeit. Er verficht ihre geistige Freiheit, die den Bezug zum Du, zum Außerpersönlichen ermöglicht, und auf der die Fähigkeit zum Entscheid gründet. Nochmals gruppiert er in einer Schlußübersicht die Ergebnisse der Gegenwartsphilosophie der Endlichkeit, die in Klages’ so wagnerisch tönenden Satz mündet: Trotzender Mut aus schwellender Lust und tödlichem Weh. Er fügt noch die sittlichen Thesen der Amoral hinzu: es gebe nichts a priori Gutes und die Tat geht vor dem Sein; zuletzt bleibt nur die Haltung. Dann summiert er in zwanzig Thesen seine, Rintelens, Resultate. Hinter ihnen aber erstrahlt, zwar nicht angerufen, doch erhaben leuchtend, der Satz, in den René Groussets, des genialen und nun schon heim- gegangenen Historikers „Bilan" gipfelt: „Ave

Crux, spes unica!" Pflanzte der Mensch nicht noch am Grabe die Hoffnung auf, dann erführe er eben nur in Sorge und Angst oder im Trotz ein sinnloses Sein zum Tode.

Demgegenüber hat Rintelen die Ursachen verteidigt, aus denen wir vernünftigerweise — nicht nur, wie die Marxisten, im Namen eines neuen Mythos von der Gemeinschaft — glauben, lieben und hoffen sollen. Aus einer Zeit des Zornes geboren, erweist sich die Philosophie der Endlichkeit nur insoweit als chronisches Uebel, daß sie in jeder Epoche der Uebergänge urjd der Untergänge wiederkehrt, doch als zeitbedingt, da sie, ein furchtbarer Alpdruck, verschwindet, sobald die Atembeschwerden am sozialen Körper beseitigt sind. Was freilich mitunter erst durch den Tod des Patienten geschieht. An den berufenen Aerzten ist es, zu heilen und nicht zu heulen.

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