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Der Komponist und sein Publikum

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IM GEGENWÄRTIGEN MUSIKSCHAFFEN ist die klarste Aeußerung des humanen Charakters der Kunst, des ,,vom Menschen zum Menschen“, zu suchen. Sie wird nicht so leicht gefunden werden, wie man annehmen sollte. Seine hervorstechendsten Merkmale sind die durch Interessenskollektive bestimmten divergierenden Richtungen wie das Vorherrschen der Charakteristik dieser Richtungen durch angewandte Technik. Nicht sosehr die Gruppierung von Persönlichkeiten, sondern die dogmatisch oder logistisch bestimmte angewandte Schaffenstechnik im Interessenskollektiv bestimmt seinen Charakter und seine Position. Die Auseinandersetzung im Schaffen erfolgt nicht sosehr im Pro- tagonismus wesensverschiedener Persönlichkeiten, sondern verschieden gearteter verabsolutierter Techniken. Um sie geht der Streit, und die Frage, ob eine Technik noch innerhalb oder schon außerhalb des musikalisch Möglichen liege, ist bestimmend. Diese Problemstellung erscheint anfechtbar. Technik kann ihrer Natur nach, solange sie im Bereich des Humanen bleibt, nicht wesentlich, sondern immer nur Instrument des Wesentlichen sein. So hat der Streit in und um die neue Musik etwas vom Wettkampf von Instrumenten an sich, die sich ihrer Spieler entledigt haben, etwas also von entfesselten Robotern.

DIESE FESTSTELLUNG beschränkt sich aber nicht auf den Bereich des Avantgardistischen, sondern gilt ebenso oder stärker für den Bereich des sogenannten Konservativen, das sich auch nicht im Wesentlichen, sondern im Technischen ausdrückt. Nur aus solcher Mißverständlichkeit konnte das Schlagwort atonal entstehen, das willkürlich auf das oder jenes angewandt wird, je nachdem der Bereich des Tonalen als musikbedingend gezogen wird, und im Wortsinn nur die Beziehungslosigkeit von Klängen aufeinander bedeuten kann. Atonal wird eine Musik erst dann, wenn diese Beziehungslosigkeit gegeben ist. Angesichts der Tatsache, daß jedes Tonmaterial und jede Tonordnung nicht natural, sondern spirituell bedingt sind, kann aber nicht einmal die Musikbezogenheit elektronischer Klangexperimente grundsätzlich bestritten werden. In diesem Falle liegt die Problematik anderswo, in der Ausschaltung des menschlichen Vermittlers, im Ersatz der musizierenden Persönlichkeit durch die Maschine, in der Dehumanisierung der Uebung, die eine Dehumanisierung oder mindestens Entindividua- lisierung der geistigen Strukturen mindestens naheliegend, freilich keineswegs zwangsläufig erscheinen läßt. Das ist das bestürzend Neue, nicht das neu erschlossene Tonmaterial oder die serielle Technik seiner Gestaltordnungen, die grundsätzlich auch nichts anderes ist als die allein mögliche Voraussetzung alles Musikschaffens, nämlich geordneter Tonraum. Der Verlust der Prävalenz und des Profils der Persönlichkeit im Kollektiv, das ist die Gefahr in der Problematik auch im heutigen Musikschaffen.

DER STREIT geht gar nicht um das Werk Schönbergs, Bergs oder Weberns, sondern etwa darum, ob Dodekaphonie atonal und damit aus dem Bereich des Musikalischen gerückt ist oder nicht. Wenn man heute einen musikalisch anteilnehmenden Laien über seine Meinung zur musikalischen Gegenwartslage fragt, so wird er, wenn er eine hat, in 99 von 100 Fällen mehr oder weniger seltsame Theoreme entwickeln oder eine mehr oder weniger sachlich fundierte Meinung zu solchen Theoremen darlegen, anstatt zur schaffenden Persönlichkeit Stellung zu suchen, oder, er wird eine solche Stellung wieder lediglich über das Theorem suchen, etwa in der Art: Schönberg schrieb dodekaphon, also atonal, also scheußlich. Oder: Hindemith ersetzte die harmonische Kadenz durch ein anderes geordnetes Gefälle von Klangkomplexen, das ist atonal, weil tonal die Tonartgebundenheit im Dur-Moll-Sinn bedingt, also ist es verwerflich. Er kann alles, was er will, nur sollte er es nicht wollen, wie ein Kritiker sagte.

ABER AUCH AUS DEM MUNDE VON KOMPONISTEN, die sich konservativ dünken, weil sie im Umkreis des Gewohnten bleiben, kann man sehr oft die Meinung hören, sie seien konservativ, weil sie nicht in Techniken schreiben, die von der aus klassisch-romantischem Bereich übernommenen abweichen, also atonal und daher verdammenswert sind. Sie leiten also ihren Konservativismus nicht aus persönlichen Wesenshaltungen, wo er aber allein nachzuweisen wäre, sondern aus handwerklichen Praktiken ab. Tatsächlich aber stellen sie sehr oft Serienmusik für entpersönlichte Kollektivbedürfnisse her, sind also alles andere als konservativ im Sinne eines humanistischen Persönlichkeitsideals, also des angeblich so differenzierten Subjektivismus, sondern durchaus auf der Höhe des Anspruches einer sehr zeitnahen Quantitätsdynamik. Und Handwerker noch ungewohnter Praktiken des Komponierens, welche sich dieser mit bürokratischer Umständlichkeit bedienen und sich nicht nur über jeden Ton Rechenschaft geben, was ihre Gottespflicht ist, sondern darüber auch schreiben und publizieren, was für Verlagswaschzettel nützlich erscheint, so daß man im musischen Bereich ganze Stallungen voll Amtsschimmel aufwiehern zu hören glaubt, bilden sich ein, Avantgardisten zu sein, weil sie neue Techniken anwenden und wären wahrscheinlich besser schrecklich starre und humorlose, also verläßliche und tüchtige Verwaltungsbeamte geworden.0

AUS QUANTITÄTSDYNAMIK kommt auch der Vorwurf, die Musik des Gegenwartsschaffens habe ihr Publikum verloren, weil sie aus einem differenzierten Subjektivismus Anforderungen stelle, welche für die Mehrheit der Menschen, das Volk, den nicht durch fachliche Verstiegenheit verdorbenen Kunst- und Bildungsintellektualisten, sondern schlicht gebliebenen Normalmenschen unerfüllbar seien. Ich halte diesen Vorwurf für falsch, weil er an den schaffenden Musiker Anforderungen stellt, denen dieser nie entsprechen kann und auch in der Vergangenheit nicht entsprechen konnte. Auch verbirgt sich hinter dieser Berufung auf Normalität ein kollektivierender Anspruch. Das Wesen des Normalen ist, darauf nicht zu pochen, sondern es als selbstverständlich vorauszusetzen, und das Normale im Menschen ist der Mensch. Die Grenze des Verständnisses wird durch die Enge des Schemas gezogen, nach welchem etwas als normal bestimmt erscheint. Je mehr Menschen als Material für ein solches Schema herangezogen werden, desto geringer ist das allen Gemeinsame, also das, was als normal gelten kann, desto geringer werden die schöpferischen Möglichkeiten, solcher Voraussetzung gerecht zu werden. Das kann gar nicht der Sinn und die Aufgabe des Kunstschaffens sein, das in seinen Werken immer die Wirkung sucht, den Empfangenden vom Normalen ab ins Einmalige zu heben.

DIE GLEICHGÜLTIGKEIT aller Musik gegenüber, die Gefahr, die sie am meisten bedroht, kommt nicht aus der Exklusivität irgend welcher Künstler, sondern ist eine Folge der Problematik des Individuellen im Massenhaften. Es ist nachweisbar, daß jedes Kunstschaffen seiner Gegenwart Minderheitsangelegenheit gewesen ist, selbst wenn es zu sofortigem Erfolg führte, daß von Mehrheiten immer Gewohnheit und Schönheit, Annehmlichkeit und Wahrheit verwechselt wurden und daß es nie Wesensaufgabe großer Kunst gewesen ist, in diesem Sinne schön und wahr, das heißt ihren Zeitgenossen angenehm und gewohnt zu sein. Keine Gegenwart kann dem, was in ihr geschaffen wird, apodiktisch nachsagen, daß es nicht bestehen kann, oder daß es bestehen wird, und noch jede tat es, wissenschaftlich beweisend, temperamentvoll bilderstürmend oder begeistert bejubelnd oder spießerisch blasiert oder achselzuckend, und jede irrte. Man täusche sich nicht. Auch das Ungewohnte wird gewohnt, ich ahne schon elektronisch serielle Klischees von Mittagskonzertmusik und höre schon dodekaphonische Boogie- Woogies, an denen sich der Massengeschmack entzündet. Das Banale liegt nicht im Handwerk, sondern im Gehalt, und ungewohnteste Handwerkstechnik wird banale Form liefern — und liefert sie — wenn der Gehalt Klischee ist.

EBENSO WIRD DER VORWURF ERHOBEN, die Musik habe ihre nationalen und landschaftlichen Bereiche verlassen und daher den Anschluß an das Publikum verloren. Sie sei gleichsam schablonisiert, aber nicht durchblutet. Ich glaube nun. daß dies heute ebensowenig wie eh und je der Fall ist. Die Bindungen des Menschen an seine Art, auch des Künstlers, sind viel zu fest, als daß sie zerbrechen könnten. Die bewußte Absicht, Ausdruck des Nationalen und Landschaftlichen zu sein, hat aber die Musik erst im vorigen Jahrhundert im Nations- und Landschaftserlebnis der Romantik gewonnen. Das hört einmal auf, wie es einmal begonnen hat, und es wird nachher Musik geben, wie es vorher Musik gab. Glauben wir doch nicht, daß wir den Artcharakter des uns Gegenwärtigen so erkennen könnten wie den des Vergangenen. Hier fehlen doch die objektivierenden Momente der Distanz, des Todes, der Vergangenheit. Man kann nicht sagen: Etwas, was heute in der Steiermark geschrieben wurde, klingt auch nicht anders, als wäre es in Frankreich geschrieben worden und das sei problematisch, denn es deute auf Entwurzelung. Hier gilt allein die Tatsache, daß es in der Steiermark geschrieben wurde und nicht in Frankreich, daß der Autor ein Grazer ist und etwa Bloch heißt und kein Pariser mit Namen Boulez oder Schweizer mit Namen Honegger. Was irgendwo geschrieben wurde, konnte nur dort geschrieben werden, weil Schaffen einmalig ist. Alles weitere ist haltlose Ideologie. Anderseits muß man auch heute einsehen, daß die Beziehung des Menschen zur Kunst mit allen ihren irrationalen und inkommensurablen, ihren vernünftig nicht faßbaren und unmeßbaren Urgründen nur über die Brücke einer auch das Wissen um Kunst in erheblichem Maß umfassenden Bildung, einer durch diese Bildung erreichten Zugeneigtheit und Aufgeschlossenheit dem Erlebnis der Kunstgestalt, erreicht wird.

DIE GANZ WENIGEN ZEITGENOSSEN, die die letzten Quartette Beethovens empfingen und Ahnherren des Umstandes wurden, daß heute jeder Snob das Programm eines Kammermusikabends erst dann interessant findet, wenn es letzten Beethoven enthält, während er über op 18 oder gar Haydn oder Dittersdorf die Nase rümpft, waren wahrhafte Kenner. Sie begriffen zwar weder wie groß das war, was ihnen da der Zeitgenosse Beethoven als letztes Ergebnis eines einmaligen Prozesses schöpferischer Humanisierung bot, noch begriffen sie die Aspekte für die Technik des Komponierens, die jenes Ergebnis eröffnete, und sie haben das bestürzt und verwirrt zugegeben. Ihre guten Manieren verboten es ihnen, über Unfug und Verstiegenheit zu krakeelen, aber ihre menschliche Bildung, zu der auch ihr Wissen um das Geschehen, das Kunst heißt, gehörte — es war, wie wir wissen, viel höher als man es heute auch bei der Mehrzahl der Menschen, die ihnen an gesellschaftlich-funktioneller Bedeutung in unserer Gegenwartsgesellschaft gleichzuhalten wären, findet. Ihre Aufgeschlossenheit und Zugeneigtheit dem Phänomen des Kunstwerkes ermöglichten es ihnen, mit Interesse, ja mit Staunen auch dem zu begegnen, was unbegreiflich und jedenfalls weder schön im Sinne des Gewohnten, noch wahr im Sinne des Bequemen war, und daran nicht die Geduld zu verlieren, die die erste Voraussetzung ist, dem Neuen künstlerischer Gestalt zu begegnen, es zu begreifen, es zu ehren und schließlich zu lieben.

DER ÜBERWIEGENDEN MEHRZAHL der Menschen unserer Gegenwart fehlen diese Voraussetzungen, die Bildung hinsichtlich des Kunsterlebnisses und vor allem die Geduld. Denn ihre Erziehung ist bedingt durch die Gesellschaft, der sie angehören, und mitgeformt durch die Erscheinungen, die diese Gesellschaft charakterisieren. Die heute so starken Mächte, die rationalistische des Oekonomismus und Utilitarismus, die dynamische der Massenhaftigkeit bestimmen Formen der Gesellschaft, Schule, Erziehung, Berufsaufbau, bestimmen Bedürfnisse und Ordnungen und schaffen Probleme. Hier liegt die Wurzel auch der Problematik im Bereich des Musikschaffens, in seiner Auftrag- losigkeit, in seiner Verlorenheit in Einsamkeiten, die nur ein Teibjener Einsamkeit sindildie darin liegt, daß, je größer die Massen von Menschen sind, zunächst, ich sage ausdrücklich zunächst, desto weiter die Entfernung vom Menschen zum Menschen wird. Hier liegt auch die Wurzel der Problematik in Musikerziehung und Uebung. Die Existenz der Kunst hängt gewiß davon ab, daß das Schaffen aus dem Zustand der Auf- tragslosigkeit geführt wird. Aber ihm ist kein vernünftiger Auftrag aufzulasten, nämlich, Ungebildete und Unbereite zu gewinnen. Das hat Kunst nie getan und nie gekonnt. Nie lief sie hinter Menschen und Kollektiven her, die sich abwandten und propagierte sich, immer war sie für die da, die den Ruf vernehmen konnten und zu ihr kamen. Hier handelt es sich also um ein Problem, das gar nicht mehr dem Bereich des Schaffens angehört, sondern dem der Erziehung: die menschliche Bildung zu erzielen, wozu auch das Wissen um das Geschehen, das Kunst heißt, gehört, die Aufgeschlossenheit und Zugeneigtheit dem Phänomen des Kunstwerkes, die Fähigkeit zum Interesse, zum Staunen und zur Geduld diesem Phänomen gegenüber, also eine human abendländische Gesamthaltung, die in Wahrheit eine musische ist.

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