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Der Kreuzweg der Philosophie

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Die Frage nach der Daseinsberechtigung der Philosophie ist nicht von heute. Aber seit sie sich D i 11 h e y vor etwa siebzig Jahren angesichts der Relativität aller Systeme stellte und zugleich zur Grundlage seiner Weltanschauungskritik, machte, hat sie an Bedeutung keineswegs verloren. Und wenn das 20. Jahrhundert auch unverkennbar eine Wiederbelebung der Metaphysik in Gang gebracht hat, so darf dies darüber nicht hinwegtäuschen, daß ihr Ansehen nicht nur im Volksbewußtsein, sondern auch in weiten Kreisen der gebildeten Welt und der Wissenschaft auf das schlimmste erschüttert ist. — Wer erinnert sich hier nicht an das stolze Wort Piatons, daß in das Chaos des Staatslebens erst dann Ordnung gebracht werden könne, wenn die Philosophen selber das Ruder übernehmen, die Politiker also Philosophen würden. Und haben uns nicht gerade die beiden Staatsvölker ersten Ranges, die Römer des Altertums und die der Neuzeit, die Engländer, an klaren Beispielen immer wieder gezeigt, wie fruchtbar eine solche Ehe zwischen Philosophie und Politik sein könnte? Die* Reihe der Cicero, Seneca, Marc Aurel läßt sich zwangslos über Thomas Morus, Bacon, Hobbes u. a. weiterführen, alles Männer des öffentlichen Lebens, führende politische Persönlichkeiten oder deren engste Berater also, die aus der Philosophie Übersicht und Einsicht in ihr Tun geschöpft und selber umgekehrt die Philosophie mit bedeutenden Erkenntnissen beschenkt haben.

Heute aber scheint daraus so etwas wie eine Kathederangelegenheit geworden zu sein. Der Philosoph gilt als Sonderling, der sich sein Reich in den Wolken baut nnd bestenfalls auf wohlwollende Duldung Anspruch erheben darf. Dies mag noch in ruhigen Zeiten angehen, in ernsten und drängenden, wo jederman seinen Platz hat, muß auch der Philosoph seine Daseinsberechtigung erweisen.

Zweierlei Einwände sind es nun, die gegen ihn und seine Leistung erhoben werden, und sie lassen beide die Lage der Philosophie in zunehmendem Maße als paradox erscheinen: wenn sie erstens nämlich die legitime Instanz der bis zu ihren äußersten Grenzen vorgeschobenen Vernunft sein will und ihr zentrales Anliegen in der Diskussion der letzten Fragen' sieht, wie will sie diesen Anspruch rechtfertigen, da doch ihre . Antworten auf das beschämendste auseinandergehen? — Ein Mann in führender akademischer Stellung hat mir gegenüber kürzlich geäußert, er halte nicht viel von der Philosophie, denn man könne es immer wieder auf den Hochschulen erleben, daß sie im Parterre anders als im ersten Stock gelehrt werde und man da oft geradezu das Gegenteil vom Früheren zu hören bekomme. Handelt es sich da um eine Entartungserscheinung des akademischen

Lebens, um ein Abgleiten in Eitelkeit und Gedankenspielerei, die um jeden Preis „anders“, „originell“ sein will? Oder ist die Vielfalt der Antworten, (wie Dilthey etwa meinte) als Ausstrahlung bestimmter typischer Wesenhaltungen und Charakterprägungen zu verstehen, so daß der Satz Taines hier die Modifikation erfahren müßte: „Philosophie ist Wahrheit, gesehen durch ein Temperament“?

Der zweite Einwand zieht den Auftrag der Philosophie selber in Zweifel und hält sie für ein Wucherungsprodukt am gesunden Körper der praktischen Lebenshaltung. Sie diskutiert Probleme, die in der Unmittelbarkeit des Lebensvollzugs gar nicht bestehen.

Angesichts dieser Einwände, die sowohl von gläubiger wie von glaubensindifferenter

Seite in ähnlicher Weise immer wieder eingebracht werden, pflegt man dann je nadi dem Standort der Philosophie einen doppelten Ausweg zu empfehlen: die einen wollen sie in die Rolle zurückgewiesen wissen, die sie im hohen Mittelalter als eine „ancilla theologiae“ agierte und raten ihr, schleunigst den Anschluß an die Offenbarung zu suchen, wo doch die Vernunft so jämmerlich versage; die anderen aber lehnen eine Diskussion der letzten Fragen als aller rationalen Behandlung vorausliegend überhaupt ab und machen so die Philosophie zu einem dienernden Organ der Wissenschaft: in der Wissenschaftskritik und der Grundlagenforschung sehen sie die ihr noch' gebliebene Chance ihrer Behauptung. Wem es nun in zentraler Weise um die Erhaltung der Philosophie als Metaphysik, als Lehre von der Wirklichkeit, vom Sein geht, ganz so wie sie Aristoteles in seinem Entwurf einer „Ersten Philosophie“ verstanden hat, der wird diese Einwände um so ernster nehmen, als er sie sich selber immer schon gestellt hat und immer wieder stellt. — Wir wollen nun hören, was ein solcher Herzensanwalt der Philosophie zu ihrer Rechtfertigung vorbringen könnte:

Welche Mission also darf die Philosophie für sich in Anspruch nehmen? Sie ist die vernünftige Selbstorientierung des Menschen im Dasein, die höchste allgemeinverpflichtende Objektivität erstrebt. — Welc' er Mittel bedient sie sich zu diesem Zweck? Verschiedener: sie steht in engster Fühlungnahme mit den Wissenschaften, die sie von ihrem Ergebnis her zu überschauen und auszuwerten sich bemüht; sie öffnet sich aber ebenso 4?r theologischen Tradition, aus deren reicher spekulativer Erfahrung sie Gewinn ziehen kann, aber ihre letzte Evidenz kann sie nirgends anders haben als in der Vernunft selber. Wer daran rüttelt, rüttelt an den Grundmauern der Philosophie überhaupt.

Woher aber dann die verwirrende Vielfalt der Systeme, der oft bis zum äußersten zugespitzte Antagonismus der Meinungen? Sdieint es nicht manchmal so, als wären die letzten Fragen für die Philosophie stets nur der Anlaß für letzte Mißverständnisse?

Diese verwickelte Situation läßt sich nur entwirren, wenn der Nachweis gelingt, daß in der Geschichte der Philosophie, bei allen immer wiederkehrenden Irrtümern, eine Art Fortschritt festzustellen ist. Gibt es also — so muß die entscheidende Frage heißen — einen allgemein anerkannten neutralen Standort der Kritik, von dem aus ein Fortschritt nicht nur sichtbar gemacht, sondern auch planmäßig angestrebt werden konnte? Für eine solche Möglichkeit läßt sich nun folgendes anführen: Die Wirklichkeit, das Sein läßt sich nicht einfach und linear in die Rationalität der Begriffe übersetzen, sonst wäre dies längst schon gelungen und die ganze Philosophie damit abgetan, sondern sie liegt unserer Reflexion nun einmal irgendwie unüberholbar voraus. Diese Tatsache ist ja eben das „Kreuz“ der Philosophie und der Grund ihrer Para-foxien. Philosophie ist die legitimste Vertreterin der Vernunft und soll doch zugleich in der Erfüllung ihres Auftrages diese ihre eigene Grundlage transzenden-tieren, sie soll den Weg über ihre eigenen Grenzen hinausnehmen oder, schärfer gesagt, bis an jene Schwelle gelangen, an der. ihr das Sein, die “Wirklichkeit in der Weise der Abkehr spürbar wird.

Damit sind wir beim zweiten und entscheidenden Punkt: 3ie hat ihre ganze Potenz in die Entwicklung einer geeigneten Methode zu setzen, die der inneren Dialektik dieses Sachverhaltes gerecht wird; sie hat mit der Revision ihrer Grundlagen Ernst zu machen, aber so, daß sie sich nicht selber dabei überspringt, das heißt stillschweigend voraussetzt, sondern eben selber streng methodisch und schrittweise vorrückend zur „Aufhebung“ bringt: dieses dialektische Verfahren ist mit einem gewissen Recht durch Mißbrauch und Manier in Verruf gekommen, obgleich es auf eine uralte ehrwürdige Geschichte zurückblicken kann und in der Theologie vom Pseudoareopagiten bis zu Cues, Pasoal, Kierkegaard und seine Weiterdenker ebenso zu Hause ist wie in der idealistischen Philosophie. Man muß hier Vertreter und Sache scharf auseinanderhalten.

Das Wort R. Reiningers, daß heute Metaphysik ohne überzeugende erkenntniskritische Grundlegung nicht mehr ernst genommen werden kann, soll uns eine Mahnung sein: hier aber liegt die eigentliche Chance eines Fortschritts in der Philosophie: je ernster und schärfer sie sich das Methodenproblem stellt, um so weniger leicht läuft sie in Gefahr, entweder in dogmatische Bekenntnisse, die nicht verpflichten, oder in positivistische Askese, di( sich nicht bekennt, auseinanderzugeher

un.u im ci cigciiLin-iien ucsimuiiuug uuircu zu werden. Es geht hier also tatsächlich um nicht mehr oder weniger als die Rechtfertigung ihrer Mission, darum ob sie noch eine Funktion im Spektrum der Erkenntnis-weisen zwischen Theologie und Wissenschaften zu erfüllen vermag oder als ein historisches Schaustück in das Museum unserer Kulturgeschichte abgestellt zu werden verdient.

Eine Philosophie also, die heute noch ihren Standort behaupten will, muß universal sein: daß heißt sie muß sich der ganzen Tradition öffnen, muß sie im Schweiße ihres Angesichts gewissenhaft erarbeiten und sich nicht bloß die Rosinen aus dem Teig holen. Und bietet. nicht gerade die Philosophie der Idealismen eine unerschöpfliche Fundgrube methodischer Einsichten; sie muß sich aber auch — und damit gelangen wir zur traurigsten Ursache ihrer babylonischen Sprachverwirrung — endlich einmal auf eine allgemeinverbindliche Terminologie einigen; hier liegt für sie eine der wichtigsten Aufgaben in der Zukunft.

Die Diskussion über unser Problem wäre nicht abgeschlossen ohne die Frage, wie sich nun der Christ zur Philosophie zu stellen habe. Kann sie ihm in der Erfassung und Durchdringung der Heilswahrheiten helfen oder führt sie neutral an ihnen vorbei? Kurz, es geht hier um die Möglichkeit einer „christlichen“ Philosophie, wie sie Dempf scharfsinnig erörtert hat: Ist christliche Philosophie nur eine unter vielen anderen philosophischen Lehrmeinungen, nur ein bestimmtes, genau begrenzbares Stück Philosophiegeschichte selber, wie die Historiker behaupten, ist sie ein hoffnungsloser Irrweg der Philosophie, der von Gott ab-■ führt, wie die Schweizer Protestanten um K. Barth meinen, oder ist sie vielleicht gerade erst die letzte Chance und Erfüllung des Philosophierens überhaupt? Führt der Weg dialektischer Eingrenzung des Wirklichen nicht immer unmittelbar an die eigentlich religiöse Wirklichkeit Gottes heran? Tastet er sich nicht zur Schwelle vor, wo die historische Singuralität Christi überzeugend in die Lücke des Schweigens tritt und das entsunkene Wort wieder aufnimmt?

So aber vermag die Philosophie, wenn sie sich selber nicht unwürdig unterbietet, zu einem existentiellen Zeugnis der wahrhaft „von Natur aus christlichen Vernunft“ des Menschen (Tertullian) zu werden. Dann jedoch ist sie nicht mehr Sklavin der Theologie, sondern die „große Erzieherin zu Christus“ (Clemens) und erweist ihr mit ihrer verantwortungsbewußten Mündigkeit im Kreuzzug einer schmerzhaften Positionskritik einen besseren Dienst denn als Fland-langerin in der Exegese ewiger Wahrheiten

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