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Der Mensch und sein Ziel

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HEILSPLAN UND NATÜRLICHE ENTWICKLUNG; Formen der GegenwArtsbestimmung im Geschfchtsdenken des hoben Mittelalters. Von Arnos Funkenstein. Sammlung; Dialog Nymphenburger. 264 Selten.

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HEILSPLAN UND NATÜRLICHE ENTWICKLUNG; Formen der GegenwArtsbestimmung im Geschfchtsdenken des hoben Mittelalters. Von Arnos Funkenstein. Sammlung; Dialog Nymphenburger. 264 Selten.

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Die vorliegende Arbeit hat zwar ihren Schwerpunkt in der Betrachtung des Selbstverständnisses der hochmittelalterlichen Historie. Natürlich drückt die Art der Behandlung vergangener Historiographie automatisch auch das Verhältnis der modernen Geschichtswissenschaft zu ihrem eigenen Selbstverständnis als Wissenschaft aus. Darüber hinaus geht aber der Verfasser aiuch der Voraussetzung und Entwicklung des ln die Zeit gesandten und dort sich selbst und der Welt überlassenen Christentums nach. Bei historischen Arbeiten ist es immer sehr interessant, wieweit Rechenschaft nicht bloß über die hilfswissenschaftiiche Untermauerung, sondern auch über die unumgänglich implizierte Geschichtsphilosophie gegeben wird.

Im 1. Kapitel werden die Schwierigkeiten aufgezeigt, in die die christliche Urgemeinde mit ihrer apokalyptischen Naherwartung des Eschatons geriet. Durch das Wissen, Vorläufer und Träger des endgültig neuen Äons und der endgültig neuen Heilsordnung zu sein, geriet die Gegenwart und alles Weltliche überhaupt in absolute Gleichgültigkeit. Als jedoch die plötzliche Verklärung und Beendigung der Weltgeschichte ausblieb, mußte das Christentum als Kirche mit der Welt als dem Staate in ein bestimmtes, wenn auch anfangs nur negatives Verhältnis eintreten. Dementsprechend änderte sich auch die theologische Interpretation der Welt und der Geschichte. An einigen paradigimatischen Denkern zeigt Funkenstein diese Entwicklung auf: Irenaus v. Lyon, Tertullian, Euseb v. Caesarea, Augustin usw.

Die Annäherung des Menschengeschlechts an sein gottgewolltes Ziel ist nicht mehr mit der plötzlichen Aufhebung der Geschichte identisch. Die Abgrenzung zu den Gnostikern trifft Irenaus dadurch, daß Veränderung wohl bei den Menschen, nicht aber bei Gott sei, obwohl das Ziel bleibt, ex aequo agere cum deo (Tertullian). Dabei wandle sich die entapokalyptisierte Eschatologie bei Euseb sogar in ein politisches Ideal (34).

Bei Augustin findet diese Gedankenentwicklung insofern ihren Abschluß, als die Gleichsetzung von abgeschlossener Verchristlichung der Welt und Ende der Geschichte überhaupt auf gegeben wird. Die naturhafte Betrachtungsweise der Entwicklung des Menschengeschlechts wird überwunden, weil das Neue nicht mehr bloß von außen kommt und als malum von vornherein diskriminiert wird, sondern als Entfaltung der menschlichen Freiheit überhaupt aufgefaßt wird. Dieses Selbstverständnis schlägt sich auch in der Historiographie nieder. Funkenstein nennt es etwas zu generell und mißständiich „rationale Geschichtsdeutung".

Das 2. Kapitel ist dem Entwick- lungsbegriff und den Formen escha- tologischer Gegenwartsbestimmung im Mittelalter gewidmet. Wir erfahren, daß im 10. bis 12. Jahrhundert der Entwicklungsgedanke eines pro- cessus in meliora allen Historiographen selbstverständlich war. Funkenstein trifft bereits hier die für ihn sehr wesentliche Unterscheidung von reflektierender Geschichtsschreibung und symbolischer Geschichtsdeutung (58). Darnach kennt die reflektierende Geschichtsschreibung keinen Unterschied mehr von Profan- und Heilsgeschichte, weil sie ihrer Methode nach „zur Gegenwartsbestimmung aus der Summe der Erkenntnisse, die ihr die historische Darstellung vermittelt“, gelangt (58). Die symbolische Geschichtsdeutung hingegen versuche, die Einzelgeschichte beziehungsweise deren Rück- oder Fortschrittsbewegung auf die gesamte Geschichte zu beziehen. (An der Behandlung Ottos von Freising wird diese Art dei Differenz noch deutlicher und geräl — wie wir meinen — unvermeidlich in die Aporie der neuzeitlichen Geschichtswissenschaft und ihres ge spaltenen Methodenbewußtseins.) Die Tatsache, daß die Ökumene eine christliche geworden war, brachte es mit sich, daß im einen Imperium Christi die weitreichende Differenziertheit erst nur nacheinander im Ablauf der Epochen, dann aber auch zu gleicher Zeit geduldet und sogar als Moment am Fortschritt begrüßt wird (Anselm von Havelberg).

Im 3. und letzten Kapitel ist nun eingehend von Entwicklungsbegriff und Gegenwartsdeutung in der reflektierenden Geschichtsschreibung die Rede. „Den eindeutigsten Beitrag des Entwicklungsgedankens zur historischen Gegenwartsdeutung erwarten wir von der Historiographie; nicht als unibewußte Handhabung selbstverständlicher Begriffe wie Wachstum, Zeitenfolge, allmähliche Veränderung, sondern als Teil einer reflektierenden Geschichtsschreibung, die den Wandel menschlicher Handlungen und Einrichtungen in eine Beziehung zum Ziel der Geschichte zu bringen weiß und sich dabei bewußt an die historische Darstellung zu halten versucht“ (69). Dazu muß bemerkt werden, daß die Geschichtsschreibung dies niemals als bloße Geschichtsschreibung, sondern nur dann leisten kann, wenn sie zugleich den Anspruch stellt, eine durchgeführte Geschichtsphilosophie oder -theologie zu sein. Nun heißt es aber weiter: „Für den mittelalterlichen Geschichtsschreiber gilt es vor allem, die facta zu erzählen, im Gegensatz zu den mysteria und flgurae, die der Auf deckung und explanatio bedürfen; die einen fallen in den Bereich der bloßen Wahrnehmung (videre), die anderen in den Bereich des Verständnisses Anteiligere): das historische Faktum ist, im Gegensatz zu den mannigfachen Deutungsmöglichkeiten der Exegese, eindeutig, unmittelbar wahrnehmbar; der Bericht über das historische Faktum ist demnach Simplex narratio gestarum und kann ohne Schwierigkeit dem ordo natu- ralis des Geschehens folgen. Alles historische Geschehen, so lautet die unausgesprochene Voraussetzung der mittelalterlichen (und antiken) Geschieh tsmethodologie, ist, zumindest in dar Zeit und am Ort seines Geschehens, restlos wahrnehmbar und — bei ausreichender Wahrheitsliebe, proprium des Historikers — auch lückenlos darstellbar; einer Immanenten Deutung bedarf es nicht; auch ist nicht jede Geschichtsschreibung eo ipso Interpretation. Einen Nachkäang dieses Postulats, der Historiker dürfe bloß Erzähler sein, ...Anden wir im Wort Burck- hardts: „historia scribitur ad narran- dum, non ad probandum, aber wenn sie dann durch ihre bloße Wahrheit der Darstellung beweist, so hat sie um so größeren Wert“ (70). Dies ist aber nun nicht die unausgesprochene Voraussetzung der mittelalterlichen, i sondern gegenwärtigen Geschichtsschreibung (nämlich der Unterschied von faktisch-exakten und interpre- tierend-erzählenden Wissenschaf- ; ten), weshalb Burckhardts Wort hier nicht Nächtelang, sondern Ausgangspunkt dieser Definition des histori- i sehen Geschehens ist, also der mittelalterlichen Geschichtsschreibung , die Probleme der modernen unterschoben werden.

Nach der Betrachtung einiger ; Historiographen (Rudolfus Glaber, . Frutolf von Michelsberg, Hugo von ! Fleury) findet der Autor in Otto von , Freising den Höhepunkt der reflek- . tierenden Geschichtsschreibung, in der Geschichtsdarstellung und Re- [ flexion ihre Einheit finden. Otto Į stelle einen Knotenpunkt auf dem . Wege des Geschichtsbewußtseins . vom apokalyptischen bis zu dem der . wirklichen Versöhnung Gottes und i der Menschen in der Geschichte dar. . Ottos Bemühungen, seine Zeit und . Dogmen in Einklang zu bringen, • sind wirklich höchst interessant. . Denn damals fochten Kirche und

- Staat — zusammengehalten von der j schon problematisch gewordenen ! Einheit des Reiches Gottes auf Er- . den — den größten Konkurrenz- j kämpf aus; und die civitas permixta i konnte unmöglich nur noch als das . trübe Wasser verstanden werden, a dessen Schmutz sich schon noch set- 5 zen werde. Die Vermischung gibt -[ vielmehr den Grad an, wieweit sich das Christentum der Welt schon ein- l gebildet, sich mit ihr vermischt habe. : Theologisch drückt dies Otto so aus, j daß sich der Heilsplan Gottes dem „ allmählichen Fortschritt menscbli- “ eher Erkenntnis anpaßt (105). i In der Schlußbemerkung faßt . Funkenstem seine Darstellung des i historischen Entwicklungsbegriffs

- erst historisch und dann methodisch

- zusammen. Der Weg der Geschichts- i. auffassungen geht nach Funkensteiri

- von der apokalyptischen Endzeiter- ä Wartung bis zur Auffassung der Ge- e schichte als freier Tat des Menschen- t geschlechts. Das mag inhaltlich stim-

- men und ist von der deutschen klassischen Philosophie, besonders Hegel, jederzeit so (und besser) begriffet worden; ohne sie ist die historische Wissenschaft des 19. und 20. Jahr-

” hundert nicht zu denken. Daß siel _ Funkenstein der Geschichtsphilosophie gegenüber zu krassem Undanl hinreißen läßt, macht die Unausgeglichenheit seiner Vermutunger über den eigenen Standort nicht noch deutlicher. Es wird mit Recht die Alternative des 19. Jahrhunderts: hier Geschichtsdarstellung, dort (ideologisch-unwissenschaftliche) Geschichtsdeutung, zurückgewiesen (120). •

Dennoch bleiben viele Probleme ungeklärt:

1. Wie ist es möglich, den Unterschied von mythischem und historischem (das ist rationalem) Geschichtsdenken so zu bestimmen, daß das mythische die Geschicklichkeit fliehe (15)? Man überträgt hierbei doch bloß historistisch rationalistische Differenzen in eine Zeit, die per deflnitionem diese Differenzen noch nicht kannte, daher auch nicht innerhalb einer noch nicht aufgebrochenen Alternative zum einen oder anderen fliehen konnte (so kommen ja auch zum Beispiel Mythos und Ratio immer erst in ihren Kümmerformen ln Konflikt, etwa als naiver Jenseitigkeitsglaube und rationalistisch selbstbewußte Aufklärung; nur hat sich der christliche Glaube seiner wesentlichen Intention nach mit dem Logos zu einer Theologie verbunden und als solcher — außer in den Kümmerformen — die aufklärerische Gegenüberstellung von Offenbarungs- und Vemunftsglaube nie anerkannt).

2. Unsere zweite Frage betrifft die Definition des historischen Faktums in der mittelalterlichen Geschichtsauffassung. Es ist unmöglich und unstatthaft, das Faktenerzählen des Mittelalters und das der neuzeitlich- historischen Wissenschaft zu ver-

; gleichen, ohne dabei den durch die moderne Naturwissenschaft okku- i pierten Begriff des Faktums eindeu- ; tig zu übernehmen beziehungsweise i distinkt anders zu bestimmen. Die . mittelalterliche Historiographie

• machte nicht den Unterschied zwi- sehen Fakten und subjektiver Moti- : vatian. Wenn die modeme Historie i die subjektiven Motive des Handelns i nur zu gerne als feste Ursachen im . Sinne der naturgesetzlichen Kausali- ; tat fixieren will, um sich nur ja als . exakte Wissenschaft unter Beweis

• stellen zu können, muß man ihr klar- . machen, daß sie dabei einem positi- ; vistischen WisSenschaftsfetisch auf den Leim gegangen ist.

3. Die dritte Frage ergibt sich so- , gleich daraus: Funkenstein betreibt i — betrachtet von der Sicht eines . bornierten Naturwissenschaftlers — ; gleich in potenzierter Weise Geistes- . geschachte, nämlich Geistesgeschdbhte . von Geistesgeschichte. An diesem , Vorwurf ist dies richtig, daß es näm- : lieh — wenn man so sagen kann — . doppelt unmöglich ist, irgendeinen . Argumentationszusammenhang, wie i zum Beispiel die mittelalterlichen t Geschiidhtstheordlan, bloß dacrzustellen oder nachzuerzählen. Der Historiker t genießt also den zweifelhaften Vor- ; teil, daß er erzählen kann, was er , will, sofeme es durch die histori schen Hilfswissenschaften halbwegs legitimiert ist. Was er erzählt, sind denn auch nur Zufälligkeiten. Da aber aus dem ganzen Werk durchaus ersichtlich ist, daß dem Autor eine dezidierte deutende Meinung nicht fehlen kann, muß er sie seiner historischen Gewissenhaftigkeit zum Opfer gebracht haben. Daß aber nicht nur die mittelalterliche, sondern auch seine und jede Geschichtsschreibung immer die Darstellung mit der Reflexion verband, ist klar:

Es fragt sich daher viertens, wie Funkenstein der Geschichtephilosophie als einer durch die historische Kritik entlarvten petitio prindpii so souverän den Abschied geben kann. Denn in welcher Wissenschaft und vor welcher Methode stellt er zum Beispiel folgende Thesen zur Diskussion: Vorstellungen der Vergangenheit müßten sich — wenn auch sehr vorsichtig usw. — in die Gegenwart übersetzen lassen, sofern sie grundsätzlich aus historischer Kontinuität oder gar aus der condition humaine beiden Epochen eigen seien (121).

Oder:

Der „historische Entwicklungsbegriff“, „der zur Idee einer sich eigenständig entfaltenden Folge menschlicher Handlungen wird, an welche sich der göttliche Heilsplan anpaßt“ (67), gehört zu dieser condition humaine (121).

Ebenso ließen sich alle Partien, die vom Zusammenhang der Gesamtgeschichte mit den einzelnen Epochen oder gar Emzeihandlungen reden, oder diejenigen über den aufzuhebenden Unterschied von Profan- und Heilsgeschichte hier anführen.

Funkenstein entwickelte an der Historiographie des Mittelalters hervorragend und bestimmt nicht zufällig auch die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Historiographie ln ihrem Wissenschaftsbegriff. Er impliziert dabei alber selbst eine ganz bestimmte Geschichtetheologie (oder -Philosophie). Daß er dabei nur über seine historische Vorgangsweise ausgiebig Rechenschaft gibt (den 120 Seiten Text sind 130 Selten wissenschaftlicher Apparat mit 639 Anmerkungen, unzähligen Literaturhinweisen sorgfältigen Übersetzungen usw. beigegeben), ist schade. Die konsequente Durchführung seiner geschichtstheologischen Implikationen hätte wohl der historistisdhen, nicht aber der historischen Wissenschaft ein Dorn im Auge sein können.

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