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Der osterreichische Reichshistoriograph

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Das interessante und aufschlußreiche Buch Vogelsangers ist der Persönlichkeit des österreichischen Reichshistoriographen Friedrich Emanuel von Hurter gewidmet, der als Geistlicher der reformierten Kirche in Schaffhausen gewirkt und es bis zum Vorsteher der Schaffhausener Kirchengemeinde gebracht hat und dessen Konversion zur katholischen Kirche (1844) zu seiner Zeit beträchtliches Aufsehen erweckte. Die Geschichtswissenschaft verdankt ihm besonders zwei umfangreiche Leistungen: eine vierbändige Darstellung des Pontifikates Innozenz' III. (1834) und die elfbändige Geschichte Kaiser Ferdinands II. (1850 bis 1864).

Vogelsanger erzählt, daß er durch die im Jahre 1840 erschienene polemische Schrift Himers: „Der Antistes Hurter und die sogenannten Amtsbrüder“ zu eindringlicheren Studien über Hurters Werdegang angeregt worden sei. In der Tat sind diejenigen Abschnitte der Biographie, die sich auf die Auseinandersetzungen des reformierten Pastors mit seinen Amtsbrüdern beziehen, die weitaus besten Teile der Arbeit. Da erscheint Hurter als der typische Vertreter des streitbaren Kämpen für die Autorität und Zentralisierung der kirchlichen Amtsgewalt und für ihre Loslösung von ihrer Abhängigkeit von der staatlichen Gewalt. Nur in einer solchen Freiheit und Ungebundenheit konnte seiner Meinung nach eine tiefere Wirksamkeit des kirchlichen Lehramtes sichergestellt werden. Es ist eine Antwort auf die religiöse Indifferenz der Zeit, auf ihren Unglauben und ihre innere Unsicherheit. Es ist ferner der adäquate Ausdruck einer ultrakonservativen Gesinnung gegenüber jenen zerstörenden Wirkungen eines streitbaren Liberalismus, der die bestehende soziale Ordnung, die Tradition und das religiöse Bewußtsein zu gefährden drohte. Wenn der evangelische Antistes in seiner damaligen Welt Umschau hielt nach den Elementen der Ordnung, des Rechtes und der „sittlichen Würde“, so mußte er zu seinem Leidwesen feststellen, daß die kirchliche Gemeinschaft, in der er selbst eine so hervorragende Stellung einnahm, nicht zu ihnen zu gehören schien, daß sie den drängenden Kräften der Zeit gegenüber allzu anfällig war und jener auf Autorität und Ueberzeugung gegründeten Festigkeit entbehrte, die als eine Bastion gegen die anstürmenden Gewalten der Verderbnis, das heißt der Entsittlichung, Entchrist-lichung und der revolutionären Umsturzgelüste, dienen konnte. Darum richteten sich seine Hoffnungen auf die konservativen Mächte, auf Metternichs antirevolutionäres Rechts- und Ordnungssystem und auf die moralische Autorität der katholischen Kirche, die ihm in ihrem Aufbau, in „ihrem harmonisch ausgebildeten, darum auch festgegliederten Ganzen“ den Auflösungserscheinungen der Zeit zu trotzen schien. Es ist also durchaus richtig, wenn der Autor des „Weges nach Rom“ den Ausgangspunkt der Konversion Hurters in dieser Oppositionsstellung zu den ihn tief berührenden krisenhaften Zeiterscheinungen sieht. Erst allmählich dringt er von der bewunderten äußeren Erscheinungsform der zeitgenössischen katholischen Kirche in ihr inneres Wesen ein, in den Geist und die Wirksamkeit ihrer Heilsordnung. .Vom Standpunkt seiner unruhigen und aufgewühlten Zeit verfolgt er zunächst die Linien der historischen Entwicklung zurück zu der Glaubensspaltung, die für ihn am Beginn aller geistigen und seelischen Zerrüttung stand. Aus dieser negativen Haltung zum Phänomen der revolutionären Zerstörung der universalen Einheits- und Ordnungsgewalten muß sich logischerweise seine Einstellung zu den antirömischen Reformationsideen und den daraus entstehenden kirchlichen Gemeinschaften ergeben, in deren einer er selbst eine führende Stellung inne hatte. Es ist deshalb eigentlich nicht zu verwundern, daß er sich schließlich von ihnen trennte, sondern eher, daß er es so spät tat, nachdem er die Stufen der geistlichen Laufbahn in seiner Kirchengemeinde bis zur Höhe emporgeklommen war, von deren innerem Geist er sich mit jeder Stufe mehr und mehr entfernte. Das Rätsel dieser sonderbaren Haltung sucht der Verfasser aus den mehr negativen Charaktereigenschaften und der Angst vor positiven Handlungen zu erklären und letztlich aus dem „konventionellen“ Widerstand seiner Gattin. Als dann aber der letzte, entscheidende Schritt mit der Konversion in Rom getan war, umfängt er die katholisehe Kirche mit seinem ganzen glühenden Herzen und setzt seinen kämpferischen Intellekt zu ihrer Verteidigung ein.

Der außerordentliche rationell-politische Intellekt, in dem das rein innerlich religiöse Element sehr langsam und vielfach verschleiert zum Durchbruch kommt, offenbart sich in seinen zahllosen, von einem ausgebreiteten und tiefen Wissen erfüllten Schriften, von denen der Verfasser viele Einzelheiten zu berichten weiß, die sich auf die allgemeinen Zeitverhältnisse und auf die Verhältnisse seiner Vaterstadt im besonderen beziehen. Er zeigt sich vor allem in den beiden großen historischen Werken, die jene entscheidenden Themen behandeln, die der ganzen Polemik Hurters zugrunde liegen. Die vier Bände der „Geschichte Papst Innozenz' Hl. und seiner Zeitgenossen“ (Hamburg 1834) und die elf Bände der „Geschichte Kaiser Ferdinands und seiner Eltern“ (Schaffhausen 18 50 bis 1864) stellen gewissermaßen Bild und Spiegelbild dar. Im Wirken des großen mittelalterlichen Papst:s sieht er den Augenblick, „in welchem das Papsttum unbestritten in innerer Entfaltung und in äußerem durchgreifendem Wirken seinen Hochpunkt erreichte“. Es ist ihm die Zeit, in der ihm das Ideal einer allumfassenden sittlichen und politischen Macht der Verwirklichung am nächsten kommt. Kaiser Ferdinand II. aber ist ihm der Restaurator einer aus den Fugen gegangenen Zeit, der unerschrockene Kämpfer für Recht und Legitimität, gegen Verschwörung und Revolution.

Man könnte nun freilich nicht behaupten, daß Hurter allen Ansprüchen genügt, die heute an einen Historiker gestellt werden. Er läßt die ruhige Ueber-legenheit vermissen, mit der der Historiker seinen Stoff behandeln muß. Er wählt sein Thema nach den Neigungen seines Herzens und umfaßt es dann mit der ganzen Leidenschaftlichkeit eines überschäumenden Temperamentes. Er läßt sich bis in die Tiefen seiner Seele davon ergreifen und hinreißen und verliert oft genug die nötige Perspektive. Dahinter aber steht ohne allen Zweifel ein hoher sittlicher Ernst, das echte Pathos eines leidenschaftlichen Kampfes für Recht und Gerechtigkeit. Ausgestattet mit einem umfassenden, staunenswerten Wissen, getragen von einer unbändigen Arbeitslust und unterstützt von einer ungewöhnlichen Meisterschaft der Sprachbeherrschung, will er das von üblen Verzerrungen, von Haß und Feindseligkeit verunstaltete Bild des Papstes und des Kaisers wiederherstellen. Im Ueberschwang seiner Anteilnahme überspringt er oft die Grenzen der historischen Beweiskraft seiner Quellen, aber in vieler Hinsicht ist er ein Bahnbrecher einer gerechteren Beurteilung seiner Helden und ihrer Zeit und eröffnete dadurch den Zugang zu einem bis dahin kaum benützten, ja völlig unbekannten Quellenmaterial. Es ist Vogelsanger durchaus zuzustimmen, daß Hurter kein kühler, über seinem Stoff stehender Historiker war, sondern ein gegenwartsbezogener homo politicus, aber so pathetisch seine Vortragsweise war, so überschwenglich seine Urteile waren, so unerbittlich sein sittlichmoralisches Bewußtsein über Gut und Böse zu Gerichte saß, so hat er sich doch stets auf eine Fülle von Quellen bezogen. Und wenn er auch noch nicht über das philologisch-historisch-kritische Rüstzeug des modernen Historikers verfügte, so geht doch sein Bestreben dahin, im Kampfe gegen einen Wust von Vorurteilen, Irrtümern und Pamphleten die Wahrheit zu ergründen. Es ist leider nur zu wahr, daß die einseitige, von einer leidenschaftlichen Abneigung gegen das Papsttum und die katholische Kirche getragene protestantische Deutung der mit der religiösen und politischen katholischen Erneuerungsbewegung zusammenhängenden Ereignisse und Personen die wahren Verhältnisse oft genug verzerrte und verdunkelte und zu unhaltbaren Pauschalurteilen führte, und Vogelsanger selbst steht noch unter diesem Einfluß, wenn er Kaiser Ferdinand II. ein „finsteres Werkzeug der Jesuiten“ nennt oder die sittliche und religiöse Gesinnung des ligistischen Feldherrn Tilly in Frage stellt und — im Gegensatz dazu — an des Schwedenkönigs Gustaf Adolfs Größe nicht rütteln lassen will. Zuerst aus einem sittlichen Gerechtigkeitsempfinden, dann aus Sympathie und schließlich aus religiöser Ueberzeugung hat Hurter seine Stellung gegen diese Art von Geschichtsschreibung bezogen, die es zum Beispiel geflissentlich übersah, daß Ferdinand II. an einer Schicksalswende Oesterreichs und seines Hauses stand, nahe daran war, den mit brutalsten Mitteln von den akatholischen politischen Gewalten Oesterreichs, Böhmens und Ungarns vorgetragenen Angriffen zu erliegen und sich nur dank seiner Zähigkeit und Beharrlichkeit und unbeugsamen Gottvertrauens mühsam zu behaupten vermochte. Man hielt es nicht der Mühe wert, die religiöse und politische Situation der Zeit in ihrer Auswirkung auf die österreichischen Verhältnisse zu betrachten und zu untersuchen, in welchem ständigen Gewissenskampf dieser tief religiöse und im Innersten friedliebende Herrscher mit der harten politischen Nötigung fertig wurde und daß er in einem Zeitalter lebte, in dem sich der Fürst, ob katholisch oder protestantisch, noch für das Seelenheil der Untertanen verantwortlich fühlte. Die maßlose Härte, Brutalität und Ungerechtigkeit der Zeit verwirrte alle sittlichen Begriffe in einer Weise, die wir, die durch eine ähnliche Zeit hindurchgegangen sind, einigermaßen nachfühlen können. Wir haben gewiß unser eigenes Urteil über Glaubensverbreitung und Glaubensverteidigung, aber wir wissen auch und müssen es' als historische Tatsache hinnehmen, daß in jener Zeit Politik und Religion ein untrennbares Ganzes bildeten und daß es ein fast fruchtloses Beginnen ist, die Grenzen egoistischen Macht- und Besitzstrebens und religiösen Pflichtbewußtseins immer genau abzustecken.

Mag man Friedrich Hurter Mangel an kritischer Quellendurchdringung vorwerfen oder seine pathetische Rhetorik und einseitige Parteinahme kritisieren, so darf man doch anderseits nicht vergessen, daß sich kein Historiker nach ihm in dieser umfassenden Weise an diesen dornenvollen Stoff gewagt hat, so daß es jedenfalls verfrüht ist, abschließende oder gar kategorische Urteile zu fällen, ohne in denselben Fehler zu verfallen, der an dem Historiker Hurter mit Recht gerügt wird.

Vogelsanger findet immer wieder Worte, um die ungeheure Arbeitsleistung und bewundernswerte Sachkenntnis Hurters, seine suggestive und hinreißende Darstellungskraft und Gewandtheit hervorzuheben. Der Katalog der psychischen Analyse aber lautet „brennender Ehrgeiz, unersättlicher Wissensdrang, heftiger Haß gegen alles Unrecht, starke Empfindlichkeit, bornierte Rechthaberei, respektables Wissen“ (S. 3 5), dazu kommt noch „Neigung zur Uebertreibung, zum Irrealismus, Unbeugsamkeit und Kompromißunfähigkeit“. Er spricht von seiner kraftvollen, bissigen und anmaßenden Sprache, von dem

„Ton massiver Unduldsamkeit“ und „völligen Mangel an Selbstkritik“ (S. 112). Das deutet also auf keinen sehr liebenswerten Charakter und steht einigermaßen in Widerspruch mit der „Konzilianz und Gewandtheit“ in den Umgangsformen, die ihm der Verfasser nachsagt. Das Urteil seines priesterlichen Sohnes lautet freilich ganz anders, aber es wird gering geschätzt. Dieser Sohn war ja Jesuit und in bezug auf die Vorteile gegenüber den Jesuiten ist der Verfasser wahrhaftig nicht immun. Hurter war gewiß eine Kraftnatur, die autoritäre Neigungen hatte, und solche Naturen neigen leicht zu Selbstüberschätzung und hartem Urteil. Aus seinem Privatleben erfahren wir aber aus dem Buche viel zu wenig, um das abfällige Urteil uneingeschränkt zu akzeptieren. Er fühlte sich berufen, für die Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten, auch wenn es andere verletzen mochte, und er war sich bewußt, es mit vielen Gegnern zu tun zu haben, deren Waffen auch nicht von Pappe waren.

Man kann natürlich dem Verfasser nicht verübeln, daß er von seiner eigenen religiösen Ueberzeugung aus urteilt und weder für das Papsttum noch für die katholische Kirche viel übrig hat, aber es unter anderem für typisch katholisch zu halten, daß Sinnenvorstellung mit lebendiger Gottesbeziehung gefährlich verwechselt werden, ist eine Auffassung, die sehr wenig mit wirklicher Kenntnis katholischen Wesens zu tun hat.

Es wäre zu diesem Buche noch viel zu sagen, zum Beispiel zu der Behauptung, daß es mit der katholischen Geschichtsschreibung damals noch sehr im Argen lag, zu einer Zeit, als der Konvertit Gfrörer und Ignaz Döllinger schrieben und die St. Florianer historische Schule ihre größten Leistungen vollbrachte. Trotzdem bietet das Buch viele Beiträge zur Erkenntnis der katholischen Erneuerungsbewegung im Vormärz, der neuen jugendlichen Kräfte, die sich regten, um die Kirche aus der staatlichen Umklammerung herauszuführen, der inneren Auseinandersetzungen zwischen den konservativen Elementen und dem aufkommenden Liberalismus, in deren Mitte die Persönlichkeit Friedrich Hurters steht, des Kämpfers für Recht und Gerechtigkeit, den eine innere Sehnsucht nach Rom führte, so wie viele andere, die sich aus der Unruhe und Unsicherheit der Zeit zu dem Felsen Petri flüchteten.

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