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Der schmerzhafte Prozeß

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Marx konnte diesen Endzustand auch komplizierter und philosophischer ausdrücken, doch die romantische Perspektive erklärt, warum auch Formulierungen anderer Hegelnachfolger, die in der gleichen Tradition stehen, auf die klassenlose Gesellschaft passen. Mit beglückender Naivität forderte der polnische Graf August von Cieszkowski: Idee der Schönheit und Wahrheit im praktischen Leben, in der bereits bewußten Objektivität zu realisie ren, alle einseitigen und sich einzeln offenbarenden Elemente des Lebens der Menschheit organisch zu fassen und zur lebendigen Mitwirkung zu bringen. Idee des absoluten Guten und der absoluten Teleologie verbinden! Zwischen der romantischen Vision des Poeten und den Definitionen des Publizisten, Nationalökonomen und Philosophen, der freiwillig aus der Gesellschaft ausscheidet, um zum Kommunismus vorzustoßen, liegt jedoch ein schmerzhafter Pro zeß des Uberwindens von Entfremdungen auf drei Ebenen: der religiösen, der staatlichen, der sozialen.

Der Einfluß Feuerbachs

Marx trat 1836 in Berlin ein, wo bereits der Prozeß der Hegel-Zersetzung in Form einer Diskussion der religiösen Frage begonnen hatte; die Junghegelianer entlarvten die preußische Staatstheologie als die Ideologie einer Machtgruppe, die im Interesse eigener Erhaltung bereit war, eine transzendente Rechtfertigung der bestehenden Zustände mit ihren wachsenden sozialen Ungleichheiten zu liefern. Auch Marx schritt durch den Feuer-bach, Feuerbach löste stellvertretend für ihn das religiöse Problem. Atheismus wurde für Marx eine philosophische Selbstverständlichkeit wie auch der selbstverständliche Gegenglaube gegenüber jenen der Staatstheologen. In der Fortsetzung stellte Marx keine Frage nach der Schöpfung des Menschen, weil er die Weltgeschichte als Ergebnis einer Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit — und insoweit als Selbstzeugung begreifen wird, wodurch er den Beweis seines eigenen Entstehungsprozesses zu besitzen glaubt. Die Auflösung der religiösen Entfremdung als Zurücknahme der menschlichen Selbstprojektion in ein höheres Wesen erhielt exemplarischen Charakter für das Lösen anderer Entfremdungen. Die Zerstörung eines Fetisch-Gottesbegriffes, der später wirklich tot erklärt werden konnte, schaffte zudem die Möglichkeit, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen theologischen Neuansatz zu unternehmen, der ohne Junghegelianer nicht denkbar ist.

Was für Marx nach Beseitigung der religiösen Entfremdung bleibt, ist die Konfrontation mit der Staatstheologie, die sich politische Qualitäten zulegt. Leset den heiligen Augustinus, studiert die Kirchenväter und den Geist des Christentums. Dann kommt wieder und sagt uns, ob der Staat oder die Kirche der „christliche Staat“ ist? Dies hält Marx, als radikaler Liberaler, den Besitzenden vor 1842 vor. Je entschiedener er die Verdammung der bestehenden Gesellschaft ausspricht, desto unwichtiger wird ihm die Auseinandersetzung mit den politischen Qualitäten der Staatstheologie und der sichtbaren Kirche. Beiläufig äußert er sich dazu 1847:

„Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen. — Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Notwendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse und haben für die letztere nur den frommen Wunsch, die erstere möge wohltätig sein.“

Uber Hegel hinaus

Die Überwindung der politischen Entfremdung gestaltete sich für Marx weitaus schmerzhafter. Da Preußen die Hegelsche Geschichtsphilosophie als staatstragenden Faktor benützte, galt der Staat der Nachfolgegeneration vorerst als unbestrittenes Idol. Erst die Zusammenstöße mit Zensur und Bürokratie begannen diese Bindung zu lockern. Die Gewohnheit Hegels, die Empirie geringzuschätzen, beschleunigte diesen Prozeß, da die Junghegelianer diese Haltung übernahmen, wenig Sinn für politische Realität besaßen und ihre Zukunftspläne ohne Rücksicht auf das preußische Kultusministerium ausarbeiteten. Marx’ Vorhaben, in Bonn eine Dozentur anzutreten, scheiterte mit der Suspendierung des Freundes Bruno Bauer. Er versuchte es daher im Journalismus. Seine Feder erwies sich nicht weniger spitz als die seiner Freunde, da die häufigen Zusammenstöße mit der Bürokratie, die eine wachsende Abkühlung des Verhältnisses zu Preußen brachte, die Junghegelianer zu einem festen Kreis zusammenbanden und sie gegen die Philister der guten Gesellschaft wiederholt Sturm laufen ließen.

Das Verbot der „Rheinischen Zeitung“, ein traumatisches Erlebnis für Marx, läßt ihn einen Schritt vollziehen: Preußen und die Staatsphilosophie verdienen nicht mehr ernst genommen zu werden. Um den Bruch sichtbar zu machen, beschließt Marx später, unter dem Vorwand, nach Amerika auszuwandern, die Entlassung aus dem preußischen Staatsverband zu fordern. Sie wird rasch gewährt, da ein Schwager von Marx, Ferdinand von Westphalen, eine hohe Stellung in der preußischen Bürokratie inne hat und mit dem Menschen „mit den verbrecherischen literarischen Neigungen“ nichts zu schaffen haben will.

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