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Der spate Rilke

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Holthusen, der sich bereits durch seine Interpretation der Sonette an Orpheus“ einen Namen gemacht hat, schenkt uns hier eine Deutung des späten Rilke, die einwandfrei zum Besten gehört, was über Rilke geschrieben wurde. Seine Interpretation geht, was ihre Stärke ist, von der Sprache aus. Holthusen — selbst ein Dichter, der beachtenswerte Lyrik veröffentlicht — zeugt hier von einer wunderbaren Einfühlung und Sensibilität der Rilkeschen Sprachkunst gegenüber, die beinahe selbst wieder ein Kunstwerk aus der Interpretation macht. Er weist endlich einmal eindeutig den sprachlichen Fortschritt, den Rilke sowohl nach Form wie Inhalt bedeutet, nach, der über alles, was bis dahin in der deutschen Lyrik möglich war, George, Dehmel, auch Hofmannsthal, auch die bedeutenden Expressionisten nicht ausgenommen, entscheidend hinausgeht“. Gestik, Syntax, Wortwahl und Gewicht der Sprache ist Rilke nicht nur unverkennbar eigen, sondern er bringt darin auch ganz neue Wesenheiten, Eindrücke und Einsichten zum Ausdruck. Eine Differenzierung, Intensivierung und Weiterführung von Sprachform und -inhalt, die beträchtlich über Goethe hinausreicht und auch heute noch unübertroffen dasteht.

Darüber hinaus ist das .Epochemachend an Rilkes Lyrik, besonders an seiner späten Lyrik, vor allem dies, daß er sich nicht mit Teilproblemen oder partiellen Wirklichkeiten dieser unserer Welt beschäftigt, geschweig denn sich einen privaten Bereich absteckt, um darauf den Elfenbeinturm der reinen Schönheit zu errichten, sondern die Kardinalfrage der Epoche, die Wirklichkeitsfrage stellt“. Goethe, Schule-, die Romantiker kannten alle noch eine „definitive Situation“, in der sie slanden und sicher waren, von der aus sie das Leben in ihrer Dichtung bewältigten. Dem modernen Menschen jedoch ist ein solch sicherer Standort seit der Jahrhundertwende gänzlich abhanden gekommen, so sucht Rilke als Dichter dieses modernen Menschen diesen Standort, das „bloße Dasein, das bloße Am-lebensein“ zu ergründen und „überschreitet damit den Bereich jeder möglichen definitiven Situation und vollzieht einen Akt der Sicherung des Bewußtseins von Wirklichkeit überhaupt“. Grundanliegen der „Duineser Elegien“, von der ersten bis zur letzten Zeile, ist Möglichkeit und Wirklichkeit, Ganzheit und Heilsein des Daseins der dichterischen Existenz als der menschlichsten Existenz. Damit distanziert sich Holthusen entschieden von jener oberflächlichen Rilke-Verehrung und -Schwärmerei, di über ästhetisch Relevanzen“ und exaltierte Stundenbuch-Gefühlsverdrehung nicht hinauskommt und Rilke gar nicht kennt.

Hier wäre ein Einwand gegen die Deutung Holthusens anzudeuten, indem er nämlich bei dem, wa6 er subjektiven Monismus des Gefühls (Weltinnenraum!) bei Rilke nennt, eine gründlichere denkerische Durchdringung dieses Phänomens vermissen läßt und as daher zu sehr als der Objektivität und Wirklichkeit enthoben versteht.

Doch weist gerade das moderne Denken, besonders seit Schelling und der Lebensphilosophie, auf die berechtigte Bedeutung und Mitwirkung des „gefühlsmäßigen Erfassens der Wirklichkeit und Wahrheit“ hin und auf das „Setzen der Wirklichkeit durch das Wollen“, allerdings keineswegs losgelöst vom Intellekt, wa der Nationalismus arg vernachlässigt hatte. Und da ist es vor allem die Dichtung, die in ihrer Bilder- und Symbolsprache mit dem „Gefühl“, der raison du coeur, wie Pascal sagt, Wesenheiten und wesentliche Einsichten erfaßt, deren der rationale Verstand allein nicht fähig ist. Gerade hier ist der Ort, wo Philosophie und Dichtung letztlich einander berühren (auf den Gipfeln abendländischen Denkens stehen Männer, die Dichter und Denker waren: Plate*, Augustinus,. Thomas von Actum, Goethe, Nietzsche usw.).

Holthusen stellt aber dann auch in einer unerhört offenen Sprache die „Schwächen und Fehldeutungen“, wenn man einmal so sagen darf, Rilkes heraus, aber, und das ist das Größte an seiner Arbeit, ohne sich jenen Ubereifrigen, denen Rilke nicht in ihr Schema paßt, beizugesellen. Holthusen weist auch darin die überdimensionale „Wahrheit“ nach, die ihm als Künstler, Dichter und Mensch der heutigen Zeit trotz allem zukommt. Und es ist bezeichnend und dankenswert, daß ihm gerade als Chri6t diese eminent christliche Einstellung und Beurteilung gelungen ist; denn abgesehen davon, daß Rilkes künstlerische Erscheinung trotz seiner „Antichristlich-keit“ bestehen bleibt und man einem Dichter vor allem nicht durch Anlegen und Einordnen nach rationalsystematisierenden Begrifflichkeiten gerecht werden kann, ist eine solche Haltung, wie ein Jesuit einmal einem solchen, außerdem auch offensichtlich gehässigen Kritiker Rilkes zu recht hat wissen lassen, dazu noch unchristlich. Holthusen hat in den Schlußsätzen seines Büchleins die wahrhaft objektive Auseinandersetzung mit Rilke einmalig formuliert: „Philosophisch und theologisch wfae also viel aasen Rilke zu sagen,nicht anders als gegen Nietzsche. Aber man soll die beiden nicht nach der Wahrheit oder Falschheit ihrer Thesen beurteilen. Die modeine Philosophie ist längst davon abgekommen, sich mit Niet6ches Thesen auseinanderzusetzen, und interessiert sich vielmehr für den heroischen Vollzug seines Lebenslaufes und für die Situation des Bewußtseins, in der er stand, beziehungsweise, die er heraufgeführt hat. Nietzsche gilt heute als die offene Wunde der Epoche, als die objektive Manifestation der gewaltigen Krise der europäischen Kultur. Bei Rilke ist die Sachlage ganz ähnlich. Auch bei ihm der Einbruch eines antichristlichen Bewußtseins in eine ursprünglich christliche Seelenlage, auch bei ihm der Protest gegen die alte Hierarchie der Werte, die Umwertung der Werte. Sein persönlicher Mythos ist gewissermaßen eine franziskanisch-seraphische Variation auf Nietzsches Lebensphilosophie und Diesseitsprophetie.

Wir haben angedeutet, was dagegen gesagt werden kann. Aber wir wissen auch, worin die Wahrheit seiner Aussage liegt, nämlich in der gewissenhaften Subjektivität seines Denkens, in der wahrhaftigen Darstellung des ortlosen Menschen der Gegenwart und seiner heimlichsten Selbstbawahrung. All Wahrheit entfaltet sich in geschichtlicher Konkretion, im Jetzt und Hier ihrer historischen Stunde. Wo Rilke den Menschen überhaupt in der Situation des Menschen seiner Zeit zum Sprechen bringt, da ist er wahr. Der Dichter als solcher, insofern er sein Anliegen und seine Erfahrung in der Leibhaftigkeit des treffenden, offenbarenden, heimholenden Wortes bergen kann, dieser Dichter kann nicht widerlegt werden. Denn wo ein Gedicht geglückt ist, da kommt ein Wert hinzu, der alle Absichten des begrifflichen Denkens übertrumpft und weit hinter sich läßt. Der Dichter, sagt Max Scheler, ist der positiv Phänomenologe. Die künstlerische Gestalt — laut Hofmannsthal — erledigt das Problem. Wo die Gnade des großen Gedichtes Ereignis wird, da ist Schönheit und Wahrheit, eine Wahrheit in Bildern, die mit aller jemals gesagten Wahrheit verschwistert ist, auch mit der Wahrheit der göttlichen Offenbarung. Wo dieses Ereignis eintritt, da ist der Sinn der Welt erschlossen, da ist die Welt geborgen und geheilt.

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