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Der Staat: Nicht Himmel und nicht Hölle

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Drei Buch-Neuerscheinungen beschäftigen sich mit der Lehre vom Staat - und realistischen bzw. überzogenen Ansprüchen.

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Drei Buch-Neuerscheinungen beschäftigen sich mit der Lehre vom Staat - und realistischen bzw. überzogenen Ansprüchen.

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„Durch Kunst ist er geschaffen, der große Leviathan“ — in diesem Satz, vor mehr als drei Jahrhunderten von Thomas Hobbes formuliert, wird der Staat, das Ungeheuer Leviathan, als voll und ganz der menschlichen Manipulierung zugänglich gedacht. Durch Jahrhunderte, vor und nach Hobbes, haben Theoretiker den Staat nicht als etwas Gegebenes unkritisch zur Kenntnis nehmen wollen, sondern ihr Anliegen war es, den Staat zu verbessern, zu perfektionieren, ihn neu zu schaffen. Die Lehre vom Staat war, und sie ist es teilweise noch immer, nicht eine Lehre von den Gegebenheiten der gesellschaftlichen Institution, die wir Staat zu nennen pflegen, sondern primär eine Lehre der Rechtfertigung gegenwärtiger oder als erstrebenswert vorausgedachter Staatsformen. Der Trend zur Empirie hat der Staatslehre jedoch neue Impulse gegeben. Weniger das Sollen und mehr das Sein sind Mittelpunkt moderner Staatslehren. Drei interessante und gewichtige Werke europäischer Politologen geben Zeugnis vom Stand der modernen Staatslehre, des Wissenszweiges, der am Schnittpunkt von Jurisprudenz und Politischer Wissenschaft 'liegt.

Die „Modemen Staatslehren“, das nachgelassene Werk des 1964 verstorbenen Frankfurter Politologen Gottfried Salomon-Delatour, präsentiert sich als Fülle brillanter Ideen, als Summe überquellenden Wissens. Von Marsilius v. Padua bis zu Hans Kelsen, von Dante bis zu Pareto zeigt der Autor an Hand des Gesamtwerkes mehrerer Dutzend Denker die Entwicklung der neuzeitlichen Staatslehre. Warum das Buch allerdings nicht „Neuzeitliche“, sondern „Moderne Staatslehren“ genannt wurde, bleibt unerfindlich. Die Weite des trotz seinem Umfang übersichtlichen Werkes erfährt dadurch eine Wertminderung, daß Salomon-Delatour auf Quellenangaben völlig verzichtet hat. „Man sollte dem Autor vertrauen, auch ohne die Protektion von Kollegen“ — so wurde dieser Mangel begründet. Doch es ist weniger eine Frage des Vertrauens und mehr der Möglichkeit des Weiterforschens, Weiterfragens, daß man Fußnoten in einen wissenschaftlichen Werk nicht missen möchte. Es wäre etwa interessant, aus welchem Werk Karl Marx' der Autor das Zitat, Religion sei „Opium für die Massen“ (S. 580), genommen hat. Nicht „Opium für“, sondern „Opium des Volkes“ lautet das bekannte Marx-Zitat; und das ist ein nicht unwesentlicher Unterschied, auf den von marxistischer Seite mit Recht immer wieder verwiesen wird. Es sei auch noch angeführt, daß Salomon-Delatour Kelsen nicht ganz gerecht wird. Kelsen leugnet keineswegs die Berechtigung einer soziologischen (politologischen) Betrachtung des Staates, er hat sich auch selbst dieser Betrachtungsweise bedient („Sozialismus und Staat“, „Vom Wesen und Wert der Demokratie“). Kelsen behauptet nur, daß diese Deutung des Seins nicht mit juristischen Betrachtungen vermengt werden darf, die ausschließlich auf das Sollen gerichtet sein müssen.

Jean-Jacques Chevallier, einer der führenden Vertreter der Politischen Wissenschaft in Frankreich, ordnet die Staatslehren der Neuzeit nach einem bestimmten Gesichtspunkt, nach dem Gesichtspunkt der Idee und der Utopie. In „Denker, Planer, Utopisten“ wird die Essenz aus 16 der wichtigsten, auch unmittelbar die Politik beeinflussenden Werke dargestellt. Machiavellis „II Principe“ steht am Anfang, Hitlers „Mein Kampf“ am Ende — der Theoretiker der wertfreien, daher unheimlichen Macht und der Theoretiker (und dann erst Praktiker) einer notwendigerweise blutigen, wie grenzenlosen Dummheit. Chevallier bietet eine Kette von Theorien, die — trotz ihrem vorausblickenden Charakter — in ihrer Zeit und in ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen verhaftet sind. Der Autor bleibt bei dieser Aneinanderreihung im Hintergrund, er referiert vor allem, ohne die knappen Zusammenfassungen mit eigenen Bewertungen zu färben. Mit leisem (sehr subjektivem) Bedauern vermißt der Rezensent in Chevalliers Sammlung Thomas Morus' „Utopia“. In der Reihe der Utopien wäre dem Hauptwerk des eigentlichen Begründers der utopischen politischen Literatur der Neuzeit wohl ein Platz einzuräumen gewesen.

Ist das Werk Salomon-Deiatours der traditionellen Staatslehre noch sehr verwandt und stellt Chevallier sein Buch unter die Kriterien der Utopien und abstrakten Konzepte, so entwirft die deutsche Politologin Eleonore Sterling, Dozentin in Frankfurt, in ihren Studien über Diktatur und Demokratie Modelle der politischen Wirklichkeit. Nicht einzelne politische Denker stehen im Vordergrund, sondern die verschiedenen Herrschaftssysteme, idealtypisch und in ihrer Realität. Nüchtern werden die verschiedenen Staatstypen der Antike und der Neuzeit skizziert, Strukturen bloßgelegt, Ursachen und Wirkungen aufgezeigt. Eine solche wissenschaftliche Vorgansweise ist frei von Spekulationen und vorschnellen Wertungen, die Konfrontation idealer Konzepte mit ihrer tatsächlichen Verwirklichung bewirkt Nüchternheit und Skepsis. Dennoch kommt die Autorin am Ende ihres Buches, das eine wirkliche Bereicherung der politikwissenschaftlichen Literatur ist, zu einer für die Demokratie tröstlichen, gedämpft optimistischen Schlußfolgerung, „zu der Überzeugung, daß wir uns nicht am Ende, sondern erst in den Anfangsstadien einer freiheitlichen Entwicklung befinden, und dies trotz der grauenvollen Erfahrungen mit der totalitären Diktatur und trotz der Mißstände und Mängel in den bereits fortgeschrittenen Demokratien“ (S. 292).

„Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte“, schrieb Hölderlin vor mehr als 150 Jahren im „Hyperion“. Je näher wir der Wirklichkeit des Staates kommen, je deutlicher seine Konturen hervortreten, desto geringer ist die Versuchung, im Staat den Himmel zu sehen — und desto geringer ist die Bedrohung durch einen zur Hölle gewordenen Terror, der sich Staat nennt.

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