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Der V-Effekt

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„Glotzt nicht so romantisch.“ Nicht von ungefähr empfing Brecht sein Publikum mit diesen Worten, mit denen er von Anfang an in ein eigenartiges Verhältnis zu ihm zu gelangen versuchte: er wollte ein kritisches Publikum haben, das sich von den Vorgängen auf der Bühne nicht gefangennehmen ließ, sondern zu diesen Distanz wahrte und über sie nachdachte. Diese Losung ist für sein ganzes weiteres Schaffen typisch geworden; sie hätte über allen seinen Stücken stehen können, auch wenn er darauf verzichtete, die Worte sichtbar auf der Bühne anzubringen. Das hatte er später nicht mehr nötig. Er hatte einen Stil entwickelt, der von selbst, aus sich heraus, auch ohne hemdärmelige Aufforderung, die Romantik einmal beiseite zu lassen, das Publikum zum Nachdenken aufforderte und desillusionierend wirkte: das epische Theater.

Brechts Auffassung vom epischen Theater ist aus der Praxis entstanden. Er schrieb Stücke, und diese waren in Inhalt und Stoßrichtung so ganz anders als das Theater, das den kommerzialisierten Bühnenbetrieb beherrschte. So gab er seinen Stücken — darin Bernard Shaw ähnlich — Anmerkungen bei. Diese Anmerkungen waren sowohl für die Spieler wie für die Leser der Stücke bestimmt.

Aus den Anmerkungen enstand schließlich Brechts System des „epischen Theaters“, dessen theoretische Grundzüge er in einzelnen Heften seiner „Versuche“ niederlegte: zunächst in der „Nichtaristotelischen Dramatik“, dann in der „Neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt“ und schließlich im „Kleinen Organon für das Theater“. Auch in diesen theoretischen Kapiteln spürt man, daß sie aus der Praxis entstanden und für. die Praxis gedacht sind; wie überhaupt alles, was

Brecht in seinem Leben schrieb, für den tatsächlichen Gebrauch geschrieben ist.

Brechts Streben war auf eine Ueberwindung unseres herkömmlichen Illusionstheaters gerichtet; er' wollte das Theater wieder als „moralische Anstalt“, ja als — was in seinem Sinne mehr war — „Publikationsorgan“ sehen. Er wollte ein „Theater des wissenschaftlichen Zeitalters“ schaffen.

Wir haben seit etwa 1910 — einem entscheidenden Datum nicht nur in der Theatergeschichte, sondern auch in der Literatur, Musik und Bildenden Kunst — verschiedene Versuche gesehen, das überlebte Illusionstheater Zu überwinden. Schon der Naturalismus Ibsens zielte darauf, Stanislawski und dann Reinhardt schufen einen neuen Darstellungsstil, Piran-dello und Wilder führten antiillusionistische Effekte ein: das „Understatement“, das Unterspielen, das

Mißtrauen gegen große Gefühle auf der Bühne, wurde zu einem Kennzeichen des neuen Theaters. Brechts Bestrebungen unterscheiden sich von all dem wesensmäßig. Ging es allen anderen um eine Erneuerung des Theaters, eine Besinnung des Theaters auf sich selbst, so ging es Brecht darum, aus dem herkömmlichen Theater etwas völlig Neues zu schaffen. Es ging ihm um eine Neuerung, nicht um Erneuerung.

In den Anmerkungen zu seiner Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagpnny“ (1928/29, Musik: Kurt Weill) stellt er die herkömmliche Form des Theaters der von ihm angestrebten gegenüber:

Dramatische Epische

Form des Theaters handelnd erzählend verwickelt den Zuschauer macht den Zuschauer in eine Bühnenaktion zum Betracher, aber verbraucht seine Akti- weckt seine Aktivität vität ermöglicht ihm Gefühle erzwingt von ihm Entscheidungen

Erlebnis Weltbild

Der Zuschauer wird in er wird gegenübergesetzt etwas hineinversetzt

Suggestion Argument

Spannung auf den Aus- Spannung auf den Gang gang

Eine Szene für die andere Jede Szene für sich

Wachtstum Montage evolutionäre Zwangs- Sprünge (keine Zwangsläufigkeit läufigkeit)

Gefühl Ratio

Diese Gegenüberstellung kann noch durch einige weitere Gegensatzpaare ergänzt werden:

Rausch, Berauschung Nüchternheit, Klarheit

Erhebung, Läuterung Ueberlegung, Entscheidung

Vergnügen, Genuß Lehre, Einsicht

Illusion Diskussion

Welche Mittel wendete Brecht nun an, um sein

„episches Theater“ konkret auf der Bühne zu verwirklichen?

Eines der ersten war die Einführung von Titeln und Tafeln. In den Anmerkungen zur „Dreigroschenoper“ schreibt Brecht hierzu: „Die Tafeln, auf welche die Titel der Szenen projiziert werden, sind ein primitiver Anlauf zur Literarisierung des Theaters... Auch in der Dramatik ist die Fußnote und das vergleichende Blättern einzuführen. Das komplexe Sehen muß geübt werden. Außerdem erzwingen und ermöglichen die Tafeln vom Schauspieler einen neuen Stil. Dieser Stil ist der epische Stil. .. Der Schauspieler muß jene Vorgänge, die durch die Titel schon angezeigt, also ihrer stofflichen Sensation schon beraubt sind, ganz anders auffällig machen.“

Das wichtigste Mittel des epischen Theaters aber ist der Verfremdungseffekt, kurz V-Effekt genannt.

Nicht nur der Zuschauer, auch der Schauspieler sollte dem aufgeführten Stück und der von ihm dargestellten Rolle gegenüber eine kritische Haltung einnehmen. „Die Voraussetzung für die Hervorbringung des V-Effektes ist, daß der Schauspieler das, was er zu zeigen hat, mit dem deutlichen Gestus des Zeigens versieht“, schreibt Brecht. Diese kritische Haltung hat der Schauspieler nicht erst auf der Bühne, sondern schon beim ersten Lesen der Rolle einzunehmen. Er hat seine spontanen Empfindungen und etwa in ihm entstehende Widersprüche zu memorieren und diese, wenn möglich, bei der Aufführung sichtbar zu machen. Brecht sagt: „Der Schauspieler soll seine Rolle in der Haltung des Staunenden und Widersprechenden lesen.“ Dies sollte es dem Zuschauer erleichtern dieselbe Haltung einzunehmen.

Der V-Effekt zielt also in seinem Wesen darauf ab. Dinge, die durch alltägliche Gewöhnung uns selbstverständlich geworden sind, zu. entfremden, so daß wir sie nicht mehr für selbstverständlich nehmen, sondern über sie staunen und nachdenken.

Drei Hilfsmittel stehen dem Schauspieler zur Hervorbringung des V-Effektes zur Verfügung:

1. Die Ueberführung in die dritte Person.

2. Die Ueberführung in die Vergangenheit.

3. Das Mitsprechen von Spielanweisungen und Kommentaren.

Punkt 2 ist am wesentlichsten, denn er ist es, der das „epische Theater“ erst zu einem solchen macht. Brechts Theater zielt auf eine Historisierung der gezeigten Vorgänge. Jeder Vorgang, und gerade der in der Gegenwart spielende, muß als historischer Vorgang gezeigt werden, damit der Zuschauer Abstand zu ihm gewinnt. In dem Gedicht „Ueber alltägliches Theater“ vergleicht er den Bühnenvorgang mit dem dramatisierten Bericht eines (vermeidbaren) Autounfalls, wobei die Schauspieler als Zeugen fungieren.

Das bedeutete für den Schauspieler eine gänzliche Umstellung. In einem Brief an einen Schauspieler schreibt Brecht, der bis zu seinem Tode an der Weiterentwicklung des „epischen Theaters“ arbeitete und die Arbeit daran zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen betrachtete: „Ich kann die Bemerkungen zu meinen Stücken nicht alle umschreiben Nehmen Sie diese Zeilen für einen vorläufigen Zusatz zu ihnen, einen Versuch, das fälschlich Vorausgesetzte nachzuholen.“ Dieses fälschlich Vorausgesetzte war etwa: daß es leicht wäre, das Bestreben des Schauspielers zu überwinden, sich mit der von ihm dargestellten Figur zu identifizeren, in ihr aufzugehen, sich in sie zu verwandeln, anstatt sie zu zeigen, sie vorzuführen, sie kritisch zu betrachten Brecht schreibt weiter in diesem Brief: „Wir. die wir die menschliche Natur nicht weniger als die übrige zu ändern bestrebt sind, müssen Wege finden, den Menschen ,von der Seite aus zu zeigen', wo er änderbar durch den Eingriff der Gesellschaft erscheint.“

Darum ging's ihm ja in allem: um eine Aenderung der Welt im marxistischen Sinn, um ein Aenderung der Gesellschaft und des neuen Menschen.

Aber er war zugleich ein Dichter. So kam das von ihm entwickelte Theater in manchem nicht nur seiner politischen Tendenz, sondern auch der Dichtung zugute. Etwa in diesem: Um dem Schauspieler die Anwendung des V-Effektes verständlich zu machen, verweist er auf das chinesische Theater: „Meisterhaft in der Behandlung ?er Geste ist die chinesische Schauspielkunst. Dadurch, daß der chinesische Schauspieler seine eigenen Bewegungen sichtbar beobachtet, erzielt er den V-Effekt... Der Artist siehfsich selber zu. Etwa eine Wolke darstellend. .. sieht er mitunter nach dem Zuschauer, als wolle er sagen: ist es nicht genau so?“

Noch etwas anderes verdankt Brechts Theater dem Ostasiatischen. Denken wir an den Unterschied eines der üblichen europäischen und eines japanischen Films („Rashomon“. „Das Höllentor“). Dort bedeuten die Dinge noch sich selbst. Jemand schleicht durch das Gras, um ein Haus herum, er hat ein Messer in der Hand. Da, im japanischen Film, wird gezeigt, was das wirklich ist: ein Mann, der ein Messer drohend hält, schleicht durch das feuchte Gras, er berührt das Gras vielleicht mit nackten Füßen, er streift um das Haus. Die Szene gewinnt als solche unser Interesse. Das zuerst für selbstverständlich Genommene wird uns entfremdet. In einem westlichen Film dagegen hätte in 99 von 100 Fällen eine solche Szene nur dann Interesse, wenn von außen etwas in sie hineingetragen würde: wenn also ein anderer Mann diesem auflauern würde, wenn plötzlich etwas • geschehen würde, das dem Schleichen ein Ende bereitete... Ihr Sinn wäre ihre Pointe. Nicht die Szene als solche wäre bedeutsam, sondern das plötzlich von außen Hinzutretende gäbe ihr erst die Bedeutung; auf diese hin wäre sie aufgebaut. Nicht der Fortgang also, sondern bloß ihr Ausgang, das Ende, wäre wichtig. (Daher die ungeheure Bedeutung des Happy-End!)

Alles nicht mit dein Daumen Meßbare verwirft Brecht aus seiner Theatertheorie. Das Mystische gar gilt ihm als bloße Illusion und ist ihm zuwider. Erst durch den Auszug aus dem Kultischen, aus dem Mysterienspiel, sei das Theater Theater geworden, meint er. Von allen Einwänden gegen das Theater des ..wissenschaftlichen Zeitalters“ ist dieser der stärkste: dort, wo der Dichter Brecht über den Dialektiker triumphiert — und das war nicht selten der Fall —, läßt er jene Teile seiner Theorie, die ihm hinderlich waren, achtlos beiseite, wie ein Schauspieler plötzlich, nach aller Verfremdung, vom Rausch des Spielens gepackt, in seiner Rolle ganz aufgeht und so an Stelle kritischer Demonstration wieder einen ganzen, lebendigen Men'schen gestaltet. (Einige der Gestalten Brechts waren solche Menschen.)

Und was ist Brechts „Verhör des Lukullus“ andere als ein modernes Mysterienspiel? Dies ist ja da9 Mysterium der Kunst: das in unserem Spiel eine höhere Wahrheit anwesend ist als die, die wir mit unseren schwachen Argumenten begründen können. Ohne daß er es wollte, ist dem „armen B. B.“ in glücklichen Augenblicken die Gnade dieser Wahrheit zuteil geworden.

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