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Der Weg zur Vereinfachung der Gesetzgebung

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Als im Jahre 1766 die zur Abfassung eines bürgerlichen Gesetzbuches eingesetzte Kommission nach 13jähriger Aröeit der Kaiserin Maria Theresia den Entwurf eines „Codex Theresianus“ in sechs starken Foliobänden überreichte, fand diese

Arbeit Keineswegs die Billigung der lebens-klugen Herrscherin. Schon die große Anzahl der 8367 Paragraphen eignete sich herzlich schlecht für die praktische Anwendung; darüber hinaus aber stellte das größtenteils aus dem römischen Recht zusammengetragene, in einem schleppenden Stile verfaßte Werk eine unausgegorene Masse dar, die noch einer gründlichen Klärung bedurfte.

In dem berühmten Handschreiben vom 4. August 1772 hat darum Maria Theresia die Umarbeitung des Kodex verfügt, wobei sie anordnete, daß alles in möglichster Kürze gefaßt, alle Zweideutigkeit und Un-deutlichkeit sorgfältig vermieden und die Gesetze so viel als möglich „simplifiziert“ werden sollen.

Es ist bemerkenswert, daß diese Gedankengänge sich fast wörtlich mit einem Ausspruch decken, den Kant wenige Jahre später (1781) in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ tat: „Es ist ein alter Wunsch, der, wer weiß wie spät, vielleicht einmal in Erfüllung gehen wird, daß man doch einmal statt der endlosen Mannigfaltigkeit der bürgerlichen Gesetze ihre Prinzipien aufsuchen möge; denn darin allein kann das Geheimnis bestehen, die Gesetzgebung, wie man sagt, zu simplifizieren.“ ,

Diesen Wünschen nach einer „Simplifizierung“ der Gesetzgebung haben die späteren Redaktoren des ABGB. in weite-

stem Maße Rechnung getragen. Insbesondere Hofrat Z e i 11 e r, dem das Gesetzbuch die abschließende Fassung verdankt, hat die leitenden Grundsätze der Philosophie Kants im Aufbau des Gesamtwerkes in hohem Grade berücksichtigt, wie

insbesondere aus seinem Vortrage vom 19. Jänner 1808 hervorgeht, mit welchem der letzte Entwurf dem Kaiser vorgelegt wurde. Hier führt er über die Grundprinzipien des ABGB. aus:

„Der Kodex muß so erschöpfende Vorschriften enthalten, daß der Richter und Rechtsgelehrte jeden möglichen Rechtsfall daraus -lu entscheiden fähig sei. So sehr sich gegen die Möglichkeit, dieser Forderung Genüge zu leisten, die unendliche Mannigfaltigkeit der Rechtsfälle zu sträuben scheint, so wird, sie doch durch die Betrachtung außer Zweifel gesetzt, daß das Recht auf festen und unveränderlichen Regeln beruht, die aus höheren und allgemeinen, somit für alle Fälle ausreichenden Grundsätzen zurück abgeleitet sind. Die moralische Natur wird, so wie die physische, sehr sparsam durch wenige Gesetze regiert, auf die sich alle einzelnen Erscheihun-gen und Fälle zurückführen lassen. Die Vollständigkeit der Gesetzgebung kann also zwar nie durch eine noch so ausgebreitete, ängst-lidie Kasuistik, wohl aber durch Nachforschung des Allgemeinen in dem Einzelnen und durch Vereinfachung der Rechtsvorschriften erzielt werden Auch wird dem Richter eine freiere, doch vernünftig beschränkte Macht in der Auslegung und Anwendung des Gesetzes zugestanden. Er soll das Gesetz nach dem natürlichen Sinn der Worte, nach dem ganzen Zusammenhange und der klaren Absicht des Gesetzgebers erklären, er soll auf ähnliche in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle Rücksicht nehmen, endlich, wenn ihm nach allem diesem der Rechtsfall noch zweifelhaft

bleibt, elber nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entscheiden. Durch diese Vorschriften wird der Richter zum Eindringen in den Geist der Gesetze, zum Denken genötigt, Was er bei dem Befehl einer buchstäblichen Auslegung ganz verlernen muß.“

Durch die Aufnahme der natürlichen Rechtsgrundsätze (7, ABGB.), welche Zeiller ausdrücklidi mit der Philosophie des Rechts oder dem Naturrecht identifiziert, gelang es ihm, eine Vollständigkeit des Gesetzes im höheren Sinn zu verwirklichen und dem Gesetze eine beispiellöse Entwicklungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit zu sichern, die es möglich machen, auch heute noch mit diesem alten Gesetzbuch die hödisten Aufgaben zu lösen, die die Gegenwart an die Rechtswissenschaft stellt. Denn die Anwendung der natürlichen Reditsgrund-sätze überwindet nicht nur das starre Buchstabenrecht, sondern schließt auch den Gedanken der Billigkeit in sich, weldier in neueren Gesetzbüchern eine so große Rolle spielt und vielfach zu einer Verwässerung des Rechtsdenkens und eine? Zerstörung der Rechtseinheit geführt hat. Weil aber Zeiller und seine Mitarbeiter den Gerechtigkeitsbegriff im Sinne echten natur-reditlichen Denkens faßten, konnten sie die „Billigkeit“, die ja doch nichts anderes ist als ein kläglicher Notbehelf für den Mangel eines wahren Systems, leicht entbehren. Sie erreichten dadurch eine Vollständigkeit des Rechtes, wie sie keine noch so umfangreiche Kasuistik verwirklichen könnte, und ermöglichten so die einheitliche Entscheidung jedes Falles aus dem großen Grundgedanken des Rechts und damit aus dem Geiste des Gesetzes.

Zeiller ist in seinen Referaten mit aller Entschiedenheit für eine von philosophischem Geiste getragene, freiereRechts-anwendung eingetreten, indem er dar* auf hinwies, daß es für eine vollkommene Rechtsübung nicht genüge, einfach den besonderen Fall unter das Gesetz zu sub-isumieren, daß es vielmehr auch der E r-forschung der leitenden Rechtsgrundsätze, von denen deti Gesetzgeber selbst ausgegangen sei, bedürfe, um den Sinn des Gesetzes völlig zu erfassen. Darin bestehe nämlich die Philosophia des positiven Rechts, durch die sich der denkende Rechtsgelehrte von dem bloßen Gesetzesgelehrten unterscheide.

In diesem Sinne bedeutet auch die Bestimmung des 7, ABGB., angewandte Rechtsphilosophie; sie regelt die dem Richter verliehene Entscheidungsgewalt in einer Art, welche bis heute noch als unübertroffenes Meisterstück legislatorischer Kunst angesehen werden muß. Denn sie befreit den Richter einerseits von der knechtischen Bindung an eine buchstäbliche Anwendung des Gesetzes, welche ihn nach einem Worte Zeillers notwendig in eine rechtsprechende Maschine verwandeln müßte; sie schränkt aber auch andererseits diese dem Richter verliehene Freiheit in maßvoller Weise durch die Anweisung ein, den Rechtsfall nach den „natürlichen Rechtsgrundsätzen“, das ist den leitenden Grundgedanken des ganzen Rechtssystems, zu entscheiden. So gelingt es, die schöpferische Kraft der Ein-zelpersönlichkeit des Richters möglichst auszuwerten, ihn aber zugleich zu zwingen, der Einfügung seiner Entscheidung in ein großes überpersönliches, höherwertiges Ganzes stets eingedenk zu bleiben. Denn die Rechtsfindung des Richters ist keine bloß

objektive Aufgabe; sie inr'4 stets “durch Tie großen Zwecke des Gesetz, durch dessen Grundgedanken näher bestimmt, in die die richterliche Entscheidung sich stets harmonisch einzufügen hat. Selbst auf dem Gebiete der Lücken des Rechts hat darum der Richter nur als Stellvertreter des Gesetzes nd somit in dessen Geiste seine Entscheidung zu finden.

Die , überragende Genialität der in $ 7, ABGB., getroffenen Regelung läßt sich erst dann voll ermessen, wenn wir i i • Rechtsentwicklung Deutschlands verfolgen, dessen Gesetzen ein so einheitlicher philosophischer Aufbau und großzügige Richtlinien, wie sie das ABGB. aufweist, durchwegs fremd sind. Dies trifft nicht nur auf die neuere, sogenannte Berliner Gesetzesteehnik zu, welche dadurch gekennzeichnet ist, daß man ein Gesetz zunächst einmal herausgab, am es dann nach den Einwendungen der Praxis in Durchführungsverordnungen zu erläutern, zu ergänzen oder gar abzuändern, ein Verfahren, das vom Standpunkt gewissenhafter Gesetzgebung nicht streng genug verurteilt werden kann! Auch schon die sorgfältiger gearbeiteten Gesetze der älteren Zeit — wie zum Beispiel das deutsche bürgerliche Gesetzbuch — lassen jeden einheitlichen Geist vermissen und suchen meist den Mangel eines Systems durch Aufstellung einiger Generalklauseln 2 überbrücken, durch welche die Lücken des Gesetzes schlecht und recht ausgefüllt werden sollen. In Wirklichkeit sollen diese Generalklauseln mit ihren betörenden Schlaigworten von „Treu und Glauben“, „guten Sitten“, „unbilliger Härte“ usw. nur die Unfähigkeit des Gesetzgebers, die Fülle des Stoffes systematisch zu meistern, verdecken. Auch tritt in ihnen erschreckend die innere Haltlosigkeit einer Generation zutage, der es an festen ethischen Grundsätzen mangelte und die nicht mehr die geistige Kraft besaß, ihre Lebensordnung in klare Normen zu fassen. Infolge geistiger Verweichlichung und sittlicher Unsicherheit flüchtete man hinter bequeme Formeln von pseudoethischer Großartigkeit und bot so schließlich der Willkür nur allzu leichte Handhaben, sobald einmal politische Faktoren Einfluß auf die Formulierung der Generalklauseln gewonnen hatten. In der allgemeinen Klausel von der Auslegung des Gesetzes nach „nationalsozialistischer Weltanschauung“ erreichte diese Entwicklung * ihren Höhepunkt. Die Unsicherheit des Rechtslebens war nun nicht mehr zu überbieten, da hier die politische Gewalt über da* Recht einen vollen Sieg errungen hatte.

*

Es wird daher eine vornehmliche Aufgabe der österreichischen Gesetzgebung sein, ganz allgemein mit den aus dem deutschen Recht übernommenen Generalklauseln reinen Tisch zu machen, da sie eine offenkundige Gefahr für die willkürliche Handhabung des Rechts darstellen. Der Weg, den uns 7, ABGB., gewiesen hat, entspricht weitaus mehr dem systematischen Denken des modernen Menschen als der klägliche Notbehelf einer Generalklausel, die nur dazu dient, die Geistesarmut oder gir die Willkür des Gesetzgebers zu verschleiern.

Die Erkenntnis des hohen Wertes der Grundgedanken des Rechts für die Gesetzgebung, weist eindeutig die Richtung, welche der Gesetzgeber bei Erneuerung des Rechts einzuschlagen hat. Es ist die Richtung zur Vertiefung, zur Vergeistigung des Rechts, der Weg zur Philosophie.

Denn Philosophie ist ttas Bestreben, die Wirklichkeit als einheitliches Ganzes zu erfassen. Sie allein vermag über die Herstellung einer bloß äußerlichen Regelung hinaus das Rechtsleben zu einem wahren System von innerer Geschlossenheit zu gestalten und mit Hilfe der tragenden Ideen des Redits eine einheitliche Gemeinschaftsordnung zu schaffen. Erst die philosophische Arbeit am Recht erhebt die Jurisprudenz auch zur Wissenschaft.

Des hat schon Z e i 11 e r gewußt, als er das ABGB. auf dem Fundament der Kantischen Philosophie aufbaute, und in seinem Kommentar die Kenntnis der Rechtsphilosophie oder, wie er sagt, des „philosophischen Rechts“ als erste Voraussetzung eines gründlichen

Studium äes Gesetzbuches bezeichnete.

Aber auch für die Gegenwart hat die philosophische Arbeit am Recht große, ja entscheidende Bedeutung. Nur durch philosophische Vertiefung vermag nämlich die Jurisprudenz dem gegenwärtigen Zug zur Ganzheitsbetrachtung gerecht zu werden, der heute in allen

Disziplinen der Wissenschaft siegreich vordringt. Denn Durchbruchzurleben-digen Ganzheit des Lebens, das ist es, was die Gegenwart so heiß ersehnt; sie strebt danach, daß die Berührung von Mensch und höherem Zwecke wiederhergestellt werde, daß auch in den Wissenschaften das Leben den Sieg über den

Mechanismus davontrage. Dazu vermag jedoch nur die Philosophie zu verhelfen, jene Ganzheitslehre, welche die Einzelwissensehaft in das Ganze des Geisteslebens einordnet und somit allein auch das Recht in das Weltbild der Gegenwart passend einzufügen vermag.

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