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Die Abstammung des Menschen im Lichte zoologischer Forschung

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Mit dem komplexen Wesen des Menschen einschließlich seiner Abstammung befassen sich verschiedene Wissenschaften . Jede von ihnen gibt über einen Teilaspekt Aufschluß, jede enthält eine Teil Wahrheit, und erst im Gesamt der wissenschaftlichen Disziplinen, mögen sie sich noch so verschiedener Methoden und Ausdrucksweisen bedienen, wird die ganze wissenschaftliche Wahrheit über das Mensdisein offenbar. Im Wesen jeder Wissenschaft aber liegt es, trotz möglicher oder sogar versuchter Selbstkritik sowohl das eigene Verfahren wie auch die damit erzielten Ergebnisse mehr oder weniger zu überwerten. Diese Besinnung möge uns gleichsam als erste Abwehr dienen gegen den Anspruch jeder einzelnen, gleichgültig ob geistes- oder naturwissenschaftlichen Disziplin, daß nur durch sie allein und mit ihrer Forschungsmethode eine gültige Menschenlehre, die Abstammung immer inbegriffen, aufgestellt werden könne.

Was die Überwertung eigener wissenschaftlicher Ergebnisse anbelangt, so braucht sie niemandem Kummer zu bereiten, solange der Vorgang sich im verhältnismäßig engen Rahmen des Forschungsbetriebes abspielt. Ja im Gegenteil: die Begeisterung für die eigene Wissenschaft, als deren Ausdruck diese Überwertung ersdieint, ist ein mächtiger Arbeitsimpuls. Die Sache bekommt aber sofort ein anderes Gesicht, wenn solche Einstellung die Grenze des wissenschaftlichen Betriebes überschreitet und, sei es durch populäre Vorträge oder durch Bücher, die für das breite Publikum bestimmt sind, in die (naturgemäß einzelfachlich ungeschulte) Öffentlichkeit dringt. Die Theorie, der Denkstandpunkt, verwandelt sich gar bald in „Weltanschauung“, in Postulate des Handelns. Es entstehen jene gefährlichen „Ismen“ (Biologismus, Posi ivis- mus, Rassen- oder Nationalitätsmonismus usw.), deren notwendige Korrektur das Leben selbst eisern durchführt, leider meistens durch Kulturkatastrophen.

Können auch viele wissensdiaftlidie Disziplinen zweifellos wichtige Teilaspekte des Mensdiseins gewähren, denen der Mensch wissenschaftliches Objekt in zweiter, mittelbarer Ordnung ist (die es also als ein Objekt unter vielen gleichartigen, als Glied, wenn auch Endglied vielleicht, einer Reihe gleichartiger Objekte, methodisch bedingt, betrachten müssen), so erwarten wir doch Maßgebendes von jenen Wissenschaften, denen der Mensch Objekt erster Ordnung ist und die, ihrer Methode zufolge, daher das Einzigartige, Singuläre am Menschsein hervorheben, und zwar sowohl in bezug auf das Somatische wie auch in bezug auf das Geistige. Daß solche anthropologische Spezialdisziplinen mehr und Essentielleres über ihr Objekt, den Menschen, werden aussagen können als eine allgemeinere (für die der Mensch nur e i n Glied einer jener Reihen ist, die zu den eigentlichen wissenschaftlichen Objekten der Disziplin zählen), dürfen wir wohl mit Recht annehmen. Dies gilt ganz besonders für heute, da das angesammelte wissenschaftliche Material eine engere Spezialisierung nicht nur begünstigt, sondern geradezu erfordert.

Vom Standpunkt des Laienpublikums aber

— und als solches darf jeder spezialisierte Wissenschaftler sein Auditorium ansehen, dem er populär vorträgt — wäre noch folgendes zu sagen: Insofern wir die natürliche Einstellung berücksichtigen, ist das Wesentliche am Mensdien gerade sein Andersbeschaffensein, das Herausiallen und Herausragen aus der natürlichen Umwelt. Wie immer wir diese Einstellung auch erklären: als Resultat des Gefühls der Einzigartigkeit unseres Eigendaseins, das ohne unser Zutun zur Distanzierung von der Umwelt drängt — oder als Wirkung des natürlichen Bestrebens einer Selbstbestimmung durch Erfassen von Trennendem, dieser Sachverhalt bleibt bestehen. Daher erwarten wir von vornherein kein gültiges Menschenbild von jenen Wissenschaften, die methodisch zum Aufzeigen von_ Gleichartigem verpflichtet sind, die also das Mensdisein insofern beleuchten, als es seiner naturgegebenen nächsten Umgebung ähnlich erscheint, wie etwa organische Chemie, Histologie odeiį Zoologie, obwohl wir um die wertvolle Mitarbeit gerade dieser letzteren Wissenschaft zur Aufhellung des Mensdiseins wissen.

Was geschieht aber, wenn es die Zoologie trotzdem unternimmt, eine Menschenlehre oder auch nur eine Abstammung des Menschen aufzustellen? Bleibt sie streng wissenschaftlich, so muß sie, ihren methodischen Regeln zufolge, bestrebt sein, das Tierähnliche am Menschen aufzuzeigen, jenes Sosein also, um es präzise auszudrücken, das den Menschen zum mehr oder minder vollwertigen Mitglied der Tierwelt werden läßt: die methodisch reine Zoologie behandelt den Menschen nur insofern er Tier, Säugetier ist, und das wollen wir ihr gutes Recht sein lassen. Von hier aus und in diesem verhältnismäßig engen Rahmen, denn der Mensch ist weit mehr als ein Säuger, mag auch die Zoologie ihre Mensdienlehre entwickeln, immer hinzugefügt: eine Lehre vom Menschen, eine Abstammung des Menschen, insofern er „nur Tier“ ist. Im übrigen ist das Nur-Tier eine methodisch geforderte wissenschaftliche Abstraktion, die realiter genau sowenig sein kann wie jede andere beliebige derartige Bildung, zum Beispiel die zweidimensionale Ebene der Geometrie oder der Nur-Leib-Mensdi und Nur-Geist-Mensdi der entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen .

Solange die Zoologie nicht mehr sagt und tut als das, was ihr gutes Recht ist, solange bleibt sie strenge Wissenschaft. Sie verliert aber in dem Moment den wissenschaftlichen Boden, wenn sie mit dem Anspruch auftritt, eine Menschenlehre zu geben, die sich gleichwertig an die Seite der Menschenlehren der eigentlichen anthropologisdien Disziplinen stellen kann .

Was geschieht nun, wenn die Zoologie ihre (psychologisch verständlich) überwertete Menschenlehre vors breite Publikum bringt? Sie wird prompt mißverstanden. Ihre wissenschaftliche These, die, genau formuliert, lautet: „Der Mensch ist auch Tier“, wird in die außerwissenschaftliche, aber scheinbar mit dem Gewand objektiver wissenschaftlicher Forschung angetane und daher sehr gefährliche: „Der Mensch ist nur Tier“, umgewandelt, das Methodisch-Zoologische der Einstellung aber in Biologismus und Zoologismus umgebogen, vor denen wir bereits warnten.

Wäre es in Anbetracht dieser Sachlage nicht besser, wenn die Zoologie ihre Menschenlehre, falls sie sie populär vorträgt, doch noch viel deutlicher, als dies bei dem bereits erwähnten Vortrag geschah, als eine rein zoologische kennzeichnet, das heißt als eine solche, die sich von vornherein zur

Aufgabe stellt, nur jene Merkmale am Mensdisein herauszustellen, die der Mensch mit dem Tier gemeinsam hat, und zwar sowohl in bezug auf seine Abstammung wie auch in bezug auf sein psychisches Verhalten und seine somatische Erscheinung? Wir betonen aber nodi einmal: falls die Zoologie populär vorträ gt; denn im fachwissenschaftlichen Gedankenaustausch wird dem Wissen um das Denkstandpunktliche der Methode und um das Theoretische der Resultate zumindest andeutungsweise Ausdruck verliehen.

Eine fachlich-zoologische Kritik des erwähnten Vortrags ist nicht unser Ziel. Es sei uns dennoch erlaubt, zu erwähnen, daß die Auffassung des biologischen Evolutionsproblems, wie sie Prof. Marinelli vortrug, durchaus nicht das Feld der Forschung von heute beherrscht,

insofern diese Auffassungen in einschlägigen Publikationen festgelegt sind. Die meisten stammesgesdiichtlidien Konstruktionen werden vielfach bestenfalls als vorläufig brauchbare Arbeitshypothesen gewertet. Die Deszendenzreihe: Anthropoide — Pithecanthropus — Neandertaloida — Homo sapiens steht also durchaus nicht fester als jede andere, trotz ihrer geradezu verführerischen, klaren Einfachheit und Einprägsamkeit. Ja, in solchen und ähnlichen Fällen sollten weder die Form noch der „Wert“ (der „sicher nicht für alle Menschen und Zeitalter gleich“ ist) irgendeines methodischen Gedankens entscheidend sein, sondern allein die objektive wissenschaftliche Wahrheit, falls diese feststeht. Ist dies nicht der Fall, so ist unseres Erachtens das sachliche: „Ignoramus“ allein am Platze.

Zum Vortrag von Prof. Dr, W von M a ritt e 11 i „Die Abstammung des Menschen" im „Kreis des geistigen Lebens“ am 10. März 1948.

Diesen Ausführungen widerspricht nicht die Tatsache, daß bekannte, für weitere Kreise bestimmte Darstellungen der Deszendenzlehre des Mensdien (biologisch und zum Teil geisteswissenschaftlich orientierte, also nicht rein methodisch-zoologisch gebundene) Zoologen zu Verfassern haben, so Kälin und Portmann. Hingegen wirkt befremdend, daß die physische Anthropologie die Deszendenzlehre vielfach ohne weiteres von der Zoologie übernimmt.

Wir heben nochmals hervor, daß die physische und philosophische Anthropologie ihrerseits auch je einen, wenn auch essentielleren Teilaspekt des Mcnfcbsfins rj geben vermögen.

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