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Die Aufgabe der Schweiz in der Gegenwart

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Die Frage nach seinem konkreten Auftrag in der Völkergemeinschaft wird jedem Volk stets wieder von neuem gestellt. Durch das Drängen seiner Nachbarn und durch die Gewalt der geschichtlichen Entwicklung. Nur wenn, es seine Aufgabe erkennt und tätig wahrnimmt, wird es sein Dasein vor sich selber und vor den andern Völkern rechtfertigen können. Wo es seinem Auftrag zuwiderlebt, zuwenig leistet an seiner Verwirklichung oder zuviel sich herausnimmt an Zielen, die ihm nicht zustehen, da ist die innere und äußere Katastrophe unabwendbar. Seiner Aufgabe gerecht werden heißt für jedes Volk, das Gebotene und das ihm Angemessene gleicherweise erkennen und ein ebenes Maß an angestrengter Leistung und weiser Selbstbeschränkung im größeren Ganzen in alltäglicher Bewährung vollbringen.

Wenn also nach der Aufgabe der Sdiwei- zerischen Eidgenossenschaft in dieser Gegenwart gefragt wird, so kann sie nicht bestimmt werden aus den staatspolitischen und internationalen Notwendigkeiten der Stunde allein. Dazu lebt die schweizerische Staatswirklichkeit zu unmittelbar aus ihrer 650jäh- rigen Geschichte, dazu würden auch die von außen beigebrachten Kriterien zu sehr bedingt vom jeweiligen Standort des Beobachters. Aus den opportunistisch konstruierten „Notwendigkeiten” des Augenblicks heraus wurde der Schweiz in den vergangenen Jahren das Daseinsrecht mehr als einmal abgesprochen. Massiv und plump von den Rednern eines Reiches, das blutmäßig Verwandte in seine Schranken zurückforderte; in der Hitze des Gefechtes auch von voreiligen Kritikern anderer Lager, die das Dasein mindestens einer neutralen Schweiz ungerechtfertigt fanden. Die eigentliche und maßgebende Antwort lag — und liegt immer — beim eigenen Volk, und es hat sie sich und der Welt gegeben aus wacher Einsicht in sein geschichtliches Werden und seine heutige Funktion im Völkerleben.

Die Voraussetzungen ihrer geschichtlichen wie ihrer aktuellen Aufgabe liegen, ähnlich wie für Österreich, auch für die Schweiz zu einem guten Teil in ihrer geographischen Lage. Sie ist als Schnittpunkt Europas und Hort der großen Wasserscheiden Treuhänder der nord-südlichen Verbindungswege. Schon zu Beginn ihrer eigenstaatlichen Existenz war die Behauptung ihrer Freiheit seltsam realistisch verbunden mit dem Privileg der bewaffneten Wahrung der Alpenpässe, und was damals in vielleicht mehr lokalem Unabhängigkeitsstreben errungen ward, hat sich im Laufe der Jahrhunderte erwiesen als ein Amt und eine Berufung in gesamteuropäischem Interesse. Im letzten Krieg hat die Schweiz gewaltige finanzielle Opfer, ihr strategisches Dispositiv daran gewendet, ihre im Alpenmassiv so lebendig versinnbildliche Unabhängigkeit zu verteidigen und damit zugleich ihre Pflicht gegenüber allen, rings um sie zusammenstoßenden Mähten zu erfüllen. Heute sind die Querverbindungen zum Austausch zwischen den Völkern intakt und frei.

Viel lebendiger aber ist sich der Schweizer seiner ebenfalls historisch gewordenen Aufgabe von den kulturellen Voraussetzungen her bewußt. Was der Ausländer bisweilen als „Wunder” zu bezeichnen versucht ist, daß hier auf engstem Raum drei Kulturen nicht nur Zusammenleben, sondern sich befruchtend durchdringen, daß ihre Eigenarten auch politisch zur Geltung kommen und daraus dennoch nie ein Minderheitenproblem von staatssprengender Wirkung geworden ist, daß sich die Tessiner auf ihre „italianitä” berufen und die Westschweizer sich kulturell zur „Grande Nation” rechnen und dennoch beide unter keinen Umständen Italiener und Franzosen werden wollen — das alles erscheint uns in seinem Gewachsensein aus freiem Zusammenschluß unter dem gleichen Eid so selbstverständlich, daß wir geistige und kulturelle Verarmung befürchteten, wenn daran geändert würde. Auch die Tatsache, daß katholische und protestantische Kantone, einst als geschlossene „Stände”, heute meist mit gemischten Bevölkerungen einträchtig zusammenstehen, um stets wieder neu den Bund zu stiften, bereichert die heutige Wirklichkeit in die Tiefe und Breite. Was andernorts noch problematisches Theorem bleibt, ist dem Schweizer nicht stets bewußte, aber ständig geübte ‘Verwirklichung eines geschichtlichen Auftrages: die hier zusammenstoßenden Kulturen zugleich in ihren Eigenarten darzuleben und miteinander zu versöhnen, gegenseitig zu bereichern und zu einem neuen Ganzen schweizerischer Prägung zu überhöhen. Wer das Ende nationalistischer Kämpfe, die Desintegrisierung großer Kulturzusammenhänge, das ganze Elend der mit sich selbst überworfenen Völker als brennenden Schmerz fühlt, braucht die Notwendigkeit solcher Darlebung nicht erst zu begründen.

Möglich wird ihre Verwirklichung allerdings nur in jener Atmosphäre konsequenter föderalistischer Demokratie, wie sie sich in der Schweiz erst durch Jahrhunderte entwickeln mußte, ehe sie in der eben hundertjährigen Bundesverfassung feste Formen gefunden hat. In der direkten Demokratie, in der das Volk nicht nur seine Vertreter wählt, sondern mehrmals im Jahr über Gesetze, Kredite, Verfahrensfragen abstimmt, selbst vom obersten Befehlshaber der Armee öffentliche Rechenschaftsablage verlangen darf, kurz in einer unmittelbaren Einflußnahme des Volkes auf die Führung der Staatsgeschäfte, wie sie ringsum noch nirgends versucht worden ist. Nur angedeutet — und in den Einzelheiten einem späteren Aufsatz Vorbehalten — sei hier die Bedeutung der Neutralität, die nicht nur eine außenpolitische Haltung, sondern mit viel zwingenderem Grund eine der innern Hauptvoraussetzungen für die Existenz dieses föderalistischen, kulturell und konfessionell so vielgestaltigen Staatswesens ausmacht. In dieser demokratischen, auf einem Gott gegebenen, frei entschlossenen Eid auferbauten Staatswirklichkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft erbringt so ein kleines Volk täglich den Erweis, daß ein solches friedliches Zusammenleben, daß eine überlieferte Unabhängigkeit, daß das freie Begegnen zwischen Mensch und Mensch, Kulturen und Kulturen heute und immer möglich ist.

Ist damit nicht schon Wesentliches gesagt über die Aufgabe der Schweiz im heutigen Europa? Nicht schon sehr viel über ihr „Beispiel”? Der Durchschnittsschweizer hört sich nicht gerne als Beispiel gerühmt. Denn er weiß, daß auch bei uns das meiste immer wieder erst zu leisten übrigbleibt. Wenn diese tägliche Leistung und diese tägliche Aufgabe von außen her als ein Beispiel gelten darf, nicht im Sinne nachzuahmenden Vorbildes, sondern als Exempel einer freiheitlichen und bisher wenigstens erfolgbringenden Lebensmeisterung, so mag von einer „Mission der Schweiz” gesprochen werden. Für den Eidgenossen selber besteht ihr Imperativ dann darin, diese offensichtlichen Privilegien ungestörter Freiheit des Denkens und Handelns, der unbeschädigten Wohn- und Arbeitsstätten, das reiche geschichtliche Erbe und die mannigfaltige Durchdringung der Kulturen fruchtbar werden zu lassen, zum materiellen und mehr noch zum seelischen Wohl eines wiedererstehenden Europas. Man denke hier nicht zunächst an die karitativen Werke des Schweizer Volkes, die es spontan übernommen hat, man erwarte von der Schweiz nicht ein maßgebliches Wort in den internationalen Debatten und nicht eine umfassende Hilfstätigkeit auf allen Gebieten, für die ihr die realen Grundlagen fehlen. Der Weg zu dieser Hilfe an Europa, dieses Beitragen zur innern Gesundung der auf den Tod geschwächten Völker kann sich nur vollziehen über die Sefbstverwirklichung schweizerischen Wesens. Der Auftrag, der jedem Schweizer innerhalb seines Staates, innerhalb seiner kommunalen Zuständigkeit gestellt ist, und der Auftrag des Schweizer Volkes im Völkerleben fallen weithin in eins.

Ob wir die primäre Aufgabe der Schweiz in ihrer kulturellen Vermittlertätigkeit oder eher in der beispielhaften demokratischen Ordnung sehen wollen, es wird immer nur und zuerst darauf ankommen, daß der einzelne Schweizer die Erfordernisse dieser Aufgabe bei sich zu Hause erfüllt. Wenn sich Deutsch und Welsch in immer fruchtbarerem Zusammenwirken finden, die sozialen Verhältnisse in immer offenerem Vertrauen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gestaltet werden und die politischen Probleme in stets demokratischerer und föderalistischerer Weise gelöst werden können, dann erfüllt die Schweiz schon die Voraussetzungen ihrer internationalen Mission. Volk und Staat bringen dann bereits mit die Kräfte und Einrichtungen, die persönlich Berufenen und Befähigten, den Mut und die Zuversicht, die notwendig sind, in dem heutigen Europa den Beitrag zur Gesundung auszurichten. So wird dann die europäische Aufgabe der Schweiz keine andere sein als ihre inneopolitische: zwischen den Kulturen zu versöhnen, ihre Erbschaften und Werte aufzunehmen und weiterzugeben, Menschenrecht und Menschenwürde zu achten und in Schutz zu nehmen vor frevlerischem Zugriff und durch ihr einheimisches Beispiel vor aller Welt zu bekunden, daß das Zusammenleben des einzelnen wie der Völker in gesundem, freiheit- lidiem und fortschrittlichem Rahmen möglich ist. Von uns aus gesehen erscheint diese Aufgabe — weil zu Hause und alle Tage zu verwirklichen — nicht allzu hoch gesteckt, im größeren Ganzen der Völkergemeinde indessen nimmt sich dieses einfache Vollbringen aus als die dringende Antwort, die den Völkern nach all den aufgerissenen Fragen und Wunden not tut und nach der sie verlangen. Nicht wir selber haben uns die Möglichkeit solchen Antwortens gegeben: ehe lange Geschichte und vor allem der Herr dieser Geschichte, den unsere Bundesverfassung noch immer anruft, haben sie uns auferlegt. Um sie weiterzugeben und hoffentlich in naher Zukunft gemeinsam zu verwirklichen mit den freien Völkern Europas.

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