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Die „berüchtigte“ Unfehlbarkeit

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Für die Zeitgenossen war freilich nicht das dritte Kapitel der Konstitution Pastor Aeternus der Eklat des Konzils, sondern das vierte über die Unfehlbarkeit des Papstes. In der Historiographie bestand früher die Neigung, die tatsächlich vorhandenen Gegensätze dadurch zu mildem, daß man einen Teil der Gegner der Definition als „Inopportunisten“ charakterisierte, weil sie diese angesichts der großen Erregung der öffentlichen Meinung und aus Furcht vor einem Schisma als unerwünscht betrachteten. In Wirklichkeit standen sich verschiedene ekklesiologische Glaubensvorstellungen gegenüber, und zwar sowohl hinsichtlich der Ausdehnung der päpstlichen Unfehlbarkeit als auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Irrtumslosigkeit der Kirche, die niemand in Zweifel zog. Ganz abgesehen von den phantastischen Vorstellungen des publizistischen Trommlers Veuillot in Paris war der Begriff der päpstlichen Unfehlbarkeit in dem von Kardinal Manning vorgelegten Entwurf, aber auch noch in dem Kommissionsentwurf, der am 9. Mai an das Konzil gelangte, viel •zu weit gefaßt. Es ist das große Verdienst der Opposition und der sich •allmählich bildenden Mittelpartei, daß die endgültige Fassung die Irrtumslosigkeit des Papstes auf die feierlichen (ex cathedra) und allgemeinen Lebrentscheidungen in Sachen des Glaubens und der Sitte beschränkte. Aus der vierstündigen Relation des Brixener Bischofs Gasser vom 11. Juli 1870, die als authentische Interpretation anzusehen ist, •geht hervor, daß die so umschriebene Unfehlbarkeit des Papstes nicht die Mitwirkung der Kirche bei der Ausführung des unfehlbaren Lehramtes ausschließen wollte, der Papst vielmehr verpflichtet ist, „alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die Wahrheit in rechter Weise zu prüfen und mit aller Genauigkeit zu formulieren; diese Mittel sind die Konzilien, aber auch die Ratschläge der Bischöfe, der Kardinale, der Theologen usw.“ „Und schließlich“, fuhr Gasser fort, „trennen wir nicht im geringsten den Papst von der Zustimmung der Kirche, vorausgesetzt, diese Zustimmung — sei sie nun vorausgehend oder nachfolgend — wird nicht als Vorbedingung eingesetzt.“

Pius IX. und Paul VI.

Man muß einräumen, daß ih dem hochdramatischen Kampf um die Formulierung der Unfehlbarkeitsdefinition Pius IX. nicht die Zurückhaltung bewahrt hat, die sich seine Nachfolger während des II. Vatikanischen Konzils bei der Auseinandersetzung um das 3. Kapitel der Kirchenkonstitution angelegen sein ließen. Auf ihn ging schon die Herauslösung der Papstkapitel aus dem allgemeinen Entwurf über die Kirche im März 1870 zurück. Während der Debatte hat er, von seinen persönlichen Vorstellungen über die Ausdehnung der Unfehlbarkeit ausgehend, auf Konzilsteilnehmer in seinem Sinne einzuwirken versucht und zum Beispiel dem Kardinal G-uidi von Bologna, der in der Generalkongregation vom 18. Juni einen der Minderheit entgegenkommenden Vermittlungsvorschlag gemacht hatte, noch am Abend des gleichen Tages bittere Vorwürfe gemacht und sich offenbar in einem Zomaus- bruch zu dem berüchtigten Ausspruch hinreißen lassen, der schon am anderen Morgen auf dem Konzil kolportiert wurde: „Die Tradition — das bin ich.“ Ob der Ausspruch wirklich in dieser Form gefallen ist, ist nicht mit letzter Sicherheit erweisbar, aber man darf dem Löwener Kirchenhiistoriker Aubert, dessen „Vatican I“ (1964) wir dankbar benützen, ohne weiteres zustimmen, wenn er sagt: „Wären solche Dinge häufiger geschehen, so könnte man vielleicht mit Recht von einer schweren moralischen Beeinträchtigung der Freiheit der Konzilsväter reden; doch steht dieser Fall einzig da. „Aubert beruft sich auf das wohl- abgewogene Urteil des Generals der Sulpizianer, Icard: Das Konzil hat Redefreiheit und moralische Freiheit der Abstimmung gehabt.“

Bestehen bleibt die Tatsache, daß die Herauslösung der Papstkapitel aus dem Entwurf über die Kirche und dessen Zurückstellung bei manchen Theologen und vielen Gläubigen in der Folgezeit zu gewissen Verzerrungen im Bild der Kirche geführt hat. Man vergißt aber zuweilen, daß die Konstitution Pastor Aeternus „dem Neo-Ultramontanis- mus die Flügel gestutzt hat, indem sie den Geltungsbereich der päpstlichen Unfehlbarkeit in sehr genau umrissene Grenzen verwiesen hat“ (Aubert).

Die Ekklesiologie des Vaticanum I kann also nur dann richtig beurteilt werden, wenn man sie als ein Fragment auffaßt, das einer Ergänzung bedurfte. Ein Fragment war auch die andere, schon am 24. April 1870 verabschiedete Konstitution. Dei Filius „Über den katholischen Glauben“. Sie stellte dem modernen Pantheismus, Materialismuns und Rationalismus eine sehr straffe und klare Darstellung der katholischen Lehre über Gott, die Offenbarung und den Glauben entgegen, schied aber weitere Kapitel über die Trinität, über Schöpfung, Erlösung und Heiligung,

die im ursprünglichen Entwurf enthalten waren, von der Behandlung aus. Fragment blieb das Vaticanum I vor allem dadurch, daß kein einziger der zahlreichen Reformentwürfe, die von den Vorbereitenden -Kommissionen konzipiert und zum Teil auch auf dem Konzil beraten worden waren, verabschiedet wurde. Die Ursache kam von außen. Infolge des Ausbruchs des Deutsch-Französischen Krieges verließen drei Viertel der Konzilsväter unmittelbar nach Ses- sio IV (18. Juli 1870) das Konzil, die Eroberung Roms durch die italienischen Truppen am 20. September machte eine Fortsetzung vollends unmöglich; am 20. Oktober wurde es suspendiert — nicht geschlossen. Es blieb Fragment. Jetzt, nach einem Jahrhundert, darf man die Frage stellen: War es nicht providentiell, daß das Vaticanum I keine komplette Ekklesiologie vorgelegt, keine Neuordnung des kirchlichen Lebens auch nur versucht hat? Die großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die unserem Jahrhundert das Gepräge •geben, batten damals erst begonnen. Ein detailliertes Gesetzgebungswerk des Konzils in diesem Anfangssta- dium hätte vermöge der Festigkeit, die einem solchen innewohnt, eher hemmend als fördernd gewirkt.

Es sind also geschichtliche Tatsachen, nicht eine schlecht angebrachte Apologetik, die zu dem Ergebnis führen: Die beiden vatikanischen Konzilien sind einander nicht konträr, sondern komplementär. Das Erste wird durch das Zweite ergänzt und weitergeführt, nicht revidiert. Die Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils setzt die des I. voraus; sie beruft sich — vielleicht zu oft — ausdrücklich auf sie. Ein Gegensatz entsteht erst dann, wenn man, über Lumen gentium hinausgehend, eine vollständige Umstrukturierung der Kirche im Sinne einer „Kollegialisie- rung“ oder .Demokratisierung“ verlangt. In beiden Schlagworten, vor allem aber im ersten, steckt ein durchaus berechtigtes Anliegen, das aber schon ein wenn auch noch schüchternes. Anliegen der Minderheit des Vaticanum I gewesen ist. Es blieb Fragment, wir durften seine Ergänzung erleben. Aubert schließt sein „Vaticanum I“ mit dem Satz: „Das — man könnte sagen: posthume Fortleben des I. Vatikanischen Konzils bestätigt einmal mehr, daß in einer lebendigen Kirche ein Konzil Ende und Anfang zugleich ist.“

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