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Die erste Kulturethik - ein grober Wurf

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Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlich-keitsethik. Von Johannes Meiner. Tyrolia-Verlag, Innsbruck - Wien - München. 681 Seiten.Preis 160 S

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Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlich-keitsethik. Von Johannes Meiner. Tyrolia-Verlag, Innsbruck - Wien - München. 681 Seiten.Preis 160 S

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Man staune nicht, daß sich dieses Monumentalwerk Von 629 Textseiten für mehr als die Hälfte mit den allgemeinen Grundlagen befaßt, denn gerade die derzeitige Verworrenheit und Willkür in den ethischen Anschauungen verlangen eine neuerliche Erörterung der Prinzipien, während jeder Versuch einer wirklich verpflichtenden Kulturethik nur auf der Basis allgemeingültiger Richtlinien möglich ist.

In der Darlegung der ethischen Prinzipien geht der Verfasser von den Erfahrungstatsachen aus, das heißt sein Standpunkt ist nicht die auch in der Neuscholastik noch übliche, vorwiegend abstraktdeduktive, sondern die empirisch-induktive Methode. Obwohl der erstgenannte Weg nach Ansicht des Verfassers wissenschaftlich an sich nicht unhaltbar ist, hat er doch den zweiten gewählt, weil dieser leichter gangbar ist und dem heutigen Bildungsstreben sowie der Geistesschulung, nicht zuletzt unter dem Einfluß der Naturwissenschaften, mehr entspricht. Dieses Verfahren besitzt übrigens den Vorzug, daß die darauf fußende Ethik wirklichkeits-und lebensnah ist, ohne auf die Prinzipien und deren absolute Verbindlichkeit verzichten zu müssen. Durch den Realitätscharakter kommen in dieser Ethik nebst den traditionellen auch andere ethische Faktoren zur Sprache, die“ man in den üblichen Handbüchern gar nicht oder kaum antrifft, wie der Gewissensbiß, das (krankhafte) Schuldgefühl, Sühne, Liebeserfahrung, Todesgewißheit, Gottes- und Wertbewußtsein. Besonders in der Behandlung des Gewissens zeigt sich, daß zum Beispiel der Gewissensantrieb, der seinem Wesen nach keineswegs als Gefühl oder Gemütsbewegung aufgefaßt werden darf, trotzdem sehr stark gefühlsbetont ist, mit anderen Worten: in der ganzheitlichen Schau des Verfassers werden alle ethischen Elemente, auch das so oft als unstet bezeichnete Gefühl, herangezogen. Ebenso begrüßenswert ist die großzügige Aufgeschlossenheit für die Wahrheitselemente in verschiedenen ethischen Theorien, sowie die Vorliebe für die Phänomenologie und die Ethik Schelers. „dessen Analyse der Wert-trkenntnis zweifellos zu den wesentlichen Beiträgen zur erkenntniskritischen und logischen Untersuchung der Prinzipien der praktischen Vernunft zählt“ (241). Obwohl Messner die materielle Wertethik Schelers ablehnt, würdigt er seine Verdienste wiederholt, ja es gibt sogar — außer Newman — keinen modernen Denker, der auf Messners Anschauungen befruchtender eingewirkt hat. Daneben werden vor allem angelsächsische Ethiker, trotz ihrer Widersprüche und Fehler, immer wieder berücksichtigt und angeführt. Nicht nur in dieser Beziehung, sondern im allgemeinen enthält das Werk überaus reiches Informationsmaterial über die herrschenden Theorien und die modernen ethischen Anschauungen, zu welchem Zweck sowohl wissenschaftliche Werke als auch moderne Schriftsteller als Zeugen angeführt werden, wie Musil, Eliot, Hindemith, Berdjajew, de Lubac und andere mehr.

Nach Ansicht des Verfassers sind die elementaren sittlichen Wahrheiten, zum Beispiel „tue das Gute, meide das Böse“, synthetische Urteile a priori, anders ausgedrückt: „Ihre Erkenntnis ist unbewiesen und unbeweisbar“. Zu ihrer Bejahung wirkt also ein gewisser Glaube mit, bzw. setzen sie eine Willenszustimmung (Newmans „assent“) voraus, dem der Mensch sich willentlich fügen oder verschließen kann. Die Vertreter einer mehr rational aufgebauten scholastischen Ethik werden sich manchen dieser Anschauungen nicht zur Gänze anschließen können,weil für sie in dieser Frage nicht das „Unbewiesene“, sondern die Evidenz den Ausschlag gibt. Auch werden sie, trotz Messners Korrekturversuche, Bedenken gegen die Auswertung von Newmans Wahrscheinlichkeitserkenntnis der sittlichen und religiösen Elementarwahrheiten (Existenz Gottes) hegen, und vor allem werden sie sich der Auffassung wider' setzen, „daß eine streng wissenschaftliche Erklärung und Begründung der Willensfreiheit bisher nicht gelungen ist und vielleicht überhaupt nie gelingen wird“ (66).

Anderseits wird man dieser Prinzipienethik niemals vorwerfen können, daß sie einen ebenso lebensfremden Eindruck macht wie die meisten Handbücher, denn Messner analysiert zum Beispiel den Begriff des „Guten“ nicht rein abstrakt-deduktiv, sondern er baut seine Ethik praktisch auf den einen konkreten Erfahrungsgrundsatz auf: „Liebe ist der Grundtrieb der menschlichen Natur“, das heißt er faßt die Liebe in ihrer ganzheitlichen und konkreten Wirklichkeit auf, mit allen ihren Gemütsbewegungen und Affekten, wobei er die „tiefdringende“ thomasische Einteilung der „passiones“ mit Anerkennung erwähnt, im Gegensatz zur modernen Psychologie, die „eine allgemein erkannte Einteilung der Gefühle nicht besitzt“ (315).

Da Messner die Sittlichkeit personalistisch sieht, und zwar als „die Ordnung der Selbstverwirklichung des Menschen in seinem wesenhaften Selbst“, bildet da relativ kurze zweite Buch über die Persönlichkeitsethik den Uebergang zum dritten. In diesem zweiten Teil kommen oft vernachlässigte, aber äußerst wichtige Faktoren zur Sprache, die gemeinhin in der Moraltheologie behandelt werden, jedoch ebenso in der Ethik einen Platz verdienten, wie Selbstlosigkeit, Nächstenliebe (die jedoch die Eigenpersönlichkeit nicht antastet). Demut (nicht zu verwechseln mit Selbstpreisgabe), Ehrfurcht oder Pietas (grundverschieden von Schüchternheit) usw.

Wie der Verfasser ausdrücklich hervorhebt, stellt die eigentliche Kulturethik (331 bis 629) tatsächlich den ersten Versuch dieser Art dar und muß daher auch als solche beurteilt werden. Dieser Pioniercharakter zeigt sich schon rein äußerlich im Satzbild, weil in diesem Teil die Anmerkungen, Richtigstellungen und Literaturnachweise größtenteils fehlen. Auf diesem Gebiet hat Messner tatsächlich den Weg geebnet, und zwar in einer so gründlichen und systematischen Weise, daß alle späteren Forschungen notgedrungen auf dieses Werk werden zurückgreifen müssen, selbst wenn sie sich nicht mit Ethik, sondern nur mit Kultur befassen. Einer der Hauptverdienste liegt unseres Erachtens in der ausgezeichneten Definition der Kultur: „Vollentfaltung des wahrhaft Menschlichen“ oder ausführlicher: „Die gesellschaftlich-geschichtliche Form der Lebensentfaltung eines Volkes als Ganzheit“, in der also sowohl der Persönlichkeits- wie der Gesellschaftscharakter zum Ausdruck kommt. Damit verurteilt er den in gewissen Kreisen so beliebten, aber unberechtigten Dualismus von „Kultur*!- und „Zivilisation“ bzw. von der einseitig bevorzugten geistig-schöpferischen Arbeit gegenüber der oft herabgesetzten materiellen Kultur: „Das Zündholz, der Kochtopf, der Schuh, der Pflug, kurz die Wirtschaft, ihre Arbeitsmittel und vor allem die Volkswirtschaft als gesellschaftliche Lebensordnung gehören nicht weniger zur Kultur als die Konzertsäle, Kunstausstellungen und Universitäten“ (341). Für die Entstehung und Weiterentwicklung jeder echten Kultur wird der Familie, der Tradition (im Zusammenhang damit auch der Sprache) und folglich der Gesellschaft eine erste, führende Rolle zugesprochen. Besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Betrachtung über die Gemeinschaftsverantwortung, Solidarität und sogar Schuldhaftung eines Volkes. Hier spricht Messner eine Wahrheit aus, die meistens nur gegen Besiegte ausgespielt wird, die aber ebenso auf die Sieger Anwendung finden sollte. Dieses gerade heute so heiß umstrittene Faktum kann weder iurch ein Friedensdiktat bewiesen, noch durch Pro teste der Besiegten aus der Welt geschaffen werden, sondern nur das ethische Bewußtsein eines Volkes ist imstande, es zu erfassen. — Und arm ist das Volk, das sich nicht mehr als solches fühlt.

Wertvoll und klärend ist auch der Nachweis, daß wirkliche Kulturarbeit zwar „Muße“ voraussetzt, daß aber die Teilung des Menschen in ein Arbeits- und ein Kulturwesen gerade gegen die Einheit der Kultur verstößt. Statt dessen muß Kultur vom Beruf aus gesehen und von Berufsständen aufgefangen werden. Es wäre daher notwendig, daß jede Art von Arbeit als ein Beitrag zum Kulturprozeß eingebaut und als solcher betrachtet werden kann. Damit wäre die heute so stark propagierte „Freizeitgestaltung“ im Sinne einer eigentlichen Kulturbetätigung a priori als etwas Heterogenes verurteilt. Das Prinzip ist ausgezeichnet und im Zusammenhang damit kann Messner auch kein absoluter Gegner jeder modernen Technik sein, aber es wird noch viel Anstrengungen und Zeit kosten, bis der Arbeiter in der modernen Industriewirtschaft das Bewußtsein erlangt, daß seine berufliche Teilarbeit schöpferisch, mitverantwortlich und mitbestimmend am Kulturprozeß ist. Da der Verfasser seine Ausführungen immer direkt auf das wirkliche Leben abstimmt, erhalten sie oft den Charakter eines Requisitoires. Es wird also begreiflicherweise das „Kulturgefälle“ mit den zahlreichen Fehlern der heutigen Kulturkrise so stark betont, daß die positiven Richtlinien, „wie es eigentlich werden soll“, ins Hintertreffen geraten. In dieser Beziehung sind besonders die letzten Abschnitte über das Risiko, die Tragik und die Hoffnung bezüglich einer zukünftigen Kultur eher als Vorarbeiten, Skizzen und Ansätze zu bewerten, obwohl die richtige Placierung dieser Themen in diesem Zusammenhang allein schon einem großen, richtungweisenden Wurf gleichkommt. Wirklich meisterhaft ist die — besonders von England aus inspirierte — Darstellung der modernen Kulturgemeinschaft in ihrem geistigen Klima, das sich in der Toleranz (als Illustration dient Newmans unübertroffene Umschreibung des gentle-man, der „nie Leid zufügt“), der Sachlichkeit und der Gesprächshaltung offenbart. Nicht weniger wertvoll sind die Erörterungen über Presse und Journalismus („eine eigene und hohe Kunst“), über Rundfunk, Film und staatliche Kulturpolitik, deren Kornpetenz richtig. und scharf abgegrenzt wird, sowie über die falsche Gleichheits- und die formale Freiheitsideologie, die gerade die Freiheit gefährdet und vielfach aufhebt, und den Demokratismus, wodurch Bereiche der Freiheit und Selbstverantwortung preisgegeben werden, „weil hier die gesellschaftlichkulturelle Entwicklung der Werte, einschließlich der sittlichen und rechtlichen, grundsätzlich ganz dem Volkswillen unterworfen sind.“

Wenn Messner mit Recht erklärt, daß man Kultur nicht ausschließlich als geistige Kultur verstehen darf, so müssen wir sein jüngstes Werk doch als eine Kulturleistung ersten Ranges bezeichnen, die sich für die zukünftige Forschung als bahnbrech enderweisen wird.

Der Engel des Zorns. Roman. Von Lajos Z i 1 a h y. Verlag Hallwag, Bern. 416 Seiten. Preis 16.75 sfr.

Der nun in Amerika lebende ungarische Autor ist durch einige gehaltvolle und fesselnd geschriebene Romane auch im deutschen Sprachgebiet sehr bekannt geworden. Man greift daher mit Erwartung nach dem neuen Werk, das Elisabeth von Arx aus dem Amerikanischen übersetzt hat. Aber es ist eine Enttäuschung. Zilahy erzählt die Schicksale von Mitgliedern einer reichen ungarischen Adelsfamilie, der Dukay, und damit auch die politischen Umwälzungen in Ungarn während der letzten Jahrzehnte. Ein interessanter Stoff mit vielen Möglichkeiten! Den breitesten Raum nimmt die Schilderung des unterirdischen Widerstandes gegen die Deutschen während des letzten Krieges in Anspruch. Der Führer dieser Widerstandsbewegung ist ein aus sozial tiefen Schichten aufgestiegener und durch Heirat mit den Dukay verbundener Mann. Leider haftet die Darstellung ganz am Aeußerlichen. Dem Leser wird allerlei zugemutet Die verschiedenen unglaubwürdigen Hintertreppengeschichten, mit denen der Roman durchsetzt ist, lassen das Buch in vielen Teilen in die Kolportage absinken. Wohl ist alles sehr flüssig geschrieben und auch einige Gestalten sind gut gezeichnet, doch vermißt man die ethische und psychologische Vertiefung, jene feinere Charakterisierung, die Zilahys früheren Romanen eigen war. Man zieht Vergleiche, und dabei kommt das neue Werk nicht gut weg.

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