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Die Exisienzancdyse und die Erziehung

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In den „Beiträgen zur Theorie der Erziehung“ (Wien, A. Sexl, 1946, S. 40) weist Professor Meister darauf hin, daß die seelischen Kräfte, um deren Entwicklung es sich beim Zögling handelt, nicht von derselben Art sind wie die organischen; sie würden vielmehr durch bestimmte „Sinnrichtungen“ geleitet. Es versteht sich von selbst, daß dies eine für die Einstellung der gesamten Pädagogik grundlegende Erkenntnis ist, doch hat eine solche Erklärung nur dann unangefochten Gültigkeit, wenn wir sie mit einer klaren Vorstellung von der Bestimmung des Menschen in Beziehung bringen. Nur die Anerkennung eines vollgültigen Menschenbildes, das auch der Geistigkeit Rechnung trägt, kann uns vor einer Reduktion des Erziehungszieles auf das Niveau des seelischen Unterbaus, auf die Aufgaben der bloßen Lebenserhaltung, schützen.

Erst wenn wir dem zustimmen, daß der Mensch nicht vom Triebhaften getrieben, sondern vom Werthaften „g e z o g e n“ (Frankl, „Homo patiens“, 1950, S. 23) wird, besteht die Aussicht, daß er auch zur Verwirklichung von Werten erzogen werden kann, soll diese Erziehung nicht bloße Dressur und als „Auseinandersetzung mit Formen und Sinngehalten der Kultur“ (Meister) echt sein. Dem Bemühen des Erziehenden um „die Formung der Seele des Zöglings durch die Sinngefüge des Objektiv-Geistigen“ (Meister) muß solchermaßen eine „Wertstrebigkeit“, wie sie Frankl ,im „Homo patiens“ (S. 23) aufzeigt, auf der Seite des zu Erziehenden gegenüberstehen. Diese Wertstrebigkeit stellt ein dem Menschen eingeborenes Bedürfnis nach jinnerfülltem Dasein dar. An diesen „ W i 11 e n zum Sinn“ (Frankl) z u appellieren, ist eine der vor-

nehmsten Aufgaben des Pädagogen.

Man sage nicht, daß es sich hier nur um eine theoretische Auseinandersetzung über das Ziel der Erziehung handle, also um die Theorie der Erziehung. Uns will scheinen, daß die Beantwortung der Frage, welche Orientierung die Pädagogik haben soll, von eminent praktischer Bedeutung ist. Dies wird dann klar, wenn wir hinter dieser Frage die andere, auf den ersten Blick vielleicht unscheinbare, in Wirklichkeit und gerade in der Praxis sich aufdrängende sehen, nämlich diejenige, welche das Verhältnis von Pädagogik und Psychologie betrifft. Was hier gemeint ist, spricht treffend in ähnlichem Zusammenhang F. Hömburger (Schule und Erziehung, Beiträge zur pädagogischen Theorie und Praxis, 1951, S. 10) aus: „Letztlich kommt es darauf an zu w'issen, was das Wesen des Menschen ist, nicht bloß des biologischen, sondern des ganzen, integralen Menschen, um ihn seine Bestimmung erreichen und ihn das werden zu lassen, was er werden kann und soll. Für diese Hilfeleistung zum Werden der Persönlichkeit ist aber die Psychologie nicht zuständig. Der Mensch ist viel mehr als nur ein Wesen, in dem sich psychische Abläufe sinnvoll vollziehen. Diese Abläufe zu zeigen, ist Sache der Psychologie, und der Erzieher muß sie kennen, wie der Müller das Getriebe seiner Mühle kennen muß; aber wenn das dessen einzige Aufgabe wäre, würde die Mühle nur immer leer klappern; worauf es ankommt, ist, daß etwas gemahlen wird; in der Per-sonwerdung sind aber die geistig-sittlichen Inhalte dieses Etwas.“ *

Damit ist der Psychologie eindeutig ihr Platz zugewiesen, was um so wichtiger erscheint, als wir der Pädagogik unserer Tage den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie an dem nicht ungefährlichen Fehler eines Psychologismus leidet. Vor diesem Psychologismus bewahrt uns aber die Existenzanalyse, weil sie der psychologischen Projektion, die unsere Betrachtung um eine Dimension, um die des Geistigen, beraubt, entgegentritt, mithin eine integrale Betrachtungsweise einführt. Dies ergibt sich daraus, daß sie die menschliche Existenz nicht nur tiefen psychologisch betrachtet, sondern auch in ihrer Höhe, das heißt in ihrer geistigen Existenz, sieht.

Das Bemühen der Existenzanalyse geht, um sie, soweit das in den zur Verfügung stehenden Zeilen möglich ist, kurz zu charakterisieren, dahin, „der Psychoanalyse, überhaupt der psychologistischen Psychotherapie, die das Geistige ignoriert, eine Psychotherapie gegenüberzustellen, die gerade am Geistigen orientiert ist“ (Frankl, „Logos und Existenz“, 1951, S. 74). Ausgegangen ist sie vom phänomenologischen Urtatbestand des menschlichen Seins als Bewußtsein und Verantwortlichsein, entscheidend ist aber ihr Yorstoß in die unbewußte Geistigkeit, die sie der unbewußten Triebhaftigkeit der Psychoanalyse gegenüberstellt. Schließlich aber hat die Existenzanalyse „innerhalb der unbewußten Geistigkeit des Menschen so etwas wie unbewußte Religiosität entdeckt — im Sinne einer unbewußten Gott-bezogenheit als einer dem Menschen anscheinend immanenten, wenn auch noch so oft latent bleibenden B e-ziehung zum Transzendenten“ (Frankl, „Der unbewußte Gott“, 1948, S. 91).

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß der Psychologie in der erzieherischen Arbeit lediglich die Aufgabe der Hilfeleistung zufällt; Pädagogik ist eben mehr als bloß angewandte Psychologie, erst recht nicht die Domäne einer bestimmten psychologischen Schule. Hier zeigt sich so besonders anschaulich der Wert jeder der drei unsere Erziehung beeinflussenden psychotherapeutischen Richtungen. Psychoanalyse und Indivi-dualpsychologie geben uns das Rüstzeug für die Heilpädagogik, die Existenzanalyse, im besonderen die Logotherapie, leistet in bestimmten Fällen den gleichen Dienst. Aber darüber hinaus — und deshalb ist sie für den Pädagogen von so außerordentlicher Bedeu-

tung — trägt sie dazu bei, einer eigenständigen Erziehungswissenschaft Geltung zu verschaffen, indem sie uns sagt, was erzogen wird (der integrale Mensch) und wozu (zur werterfülken Persönlichkeit) erzogen wird.

Aus dieser klaren Zielsetzung und prinzipiellen Einstellung der Pädagogik ergeben sich entscheidende Konsequenzen für die praktische Arbeit des Erziehers. Es ist eben doch sehr wesentlich, ob es in der Erziehung gemäß einer naturalistischen Auffassung auf das „Wachsenlassen“ (Meister) oder auf die zur werterfüllten Persönlichkeit hinführende Formung der Seele des Zöglings ankommt. Hier gilt wohl jener vielzitierte Ausspruch Goethes, der zum Leitsatz jeder Pädagogik gemacht werden könnte (vgl. Frankl, „Aerzt-liche Seelsorge“, 1946, S. 71): „Wenn wir die Menschen so nehmen, wie sie sind, dann machen wir sie schlechter; wenn wir sie aber so nehmen, wie sie sein sollen, dann machen wir sie zu dem, was sie sein können.“ Das entspricht der echten Erziehung in solchem Maße, als diese in ihrem Wesen ein Akt ist, der auf ein „Anderswerden“ hinzielt, wobei aber, wie Frankl sagt („Der unbedingte Mensch“, 1949, S. 64), dieses Anderswerden sich nicht nach dem Wollen der Eltern, sondern nach dem Sollen richtet, das vom Kinde als je eigenes erlebt wird. Damit ist einerseits ausgesprochen, daß wahre Erziehung keinen Oktroi von Seiten der Erzieher darstellt, sondern recht eigentlich Selbsterziehung ist, anderseits einer strengen Forderung, dem“ Gesetz des Sollens, zu entsprechen hat.

Demgegenüber muß aber jede erzieherische Maßnahme im •Sinne der Psychoanalyse als ein gefährliches Kompromiß bezeichnet werden, da sie es im wesentlichen auf eine Versöhnung der Anforderungen des Es, des Ueberichs und der Außenwelt abgesehen hat. Hier scheiden sich eben die Geister. Sehr bedeutungsvoll ist in diesem Zusammenhang, was wir in der „Aerztlichen Seelsorge“ lesen (Anm. zu. S. 69): „Was die Psychoanalyse letzten Endes will, das ist: daß der Mensch mit seinem Es, dem Unbewußten ,i n s reine komme'; was hingegen die Existenzanalyse vor allem will, das ist: daß der Mensch ,zu sich komm e';“ dies bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger, als daß er zum *vollen Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit komme.

So gesehen, ergibt sich für den Erzieher die Aufgabe, das Verantwortlichkeitsgefühl des Zöglings zu wecken. Es ist damit ein gutes Stück Gewissensbildung zu leisten; diese wird

um so vollkommener sein, je weniger wir uns von der falschen, weil in existenz-analy-tischer Sicht unbegründeten Angst leiten lassen,'daß sie eine die seelische Gesundheit störende Spannung verursacht. Ueberdies zeichnet sich in dem von der Existenzanalyse entworfenen Menschenbild der Ansatzpunkt einer tiefgreifenden Prophylaxe ab. Wir sagten ja, daß für sie in der unbewußten Geistigkeit eine unbewußte Gottbezogenheit, eine Beziehung zum Transzendenten enthalten sei. Diese unbewußte Religiosität ist es, der wir gerade beim jungen Menschen Rechnung tragen müssen. Unsere Hoffnung geht dahin, daß von der Weckung dieser Religiosität die Harmonisierung der Seele ihren Ausgang nehmen könnte. Der Religiosität kommt aber in der Erziehung nicht etwa bloß pragmatische Bedeutung zu, sondern sie stellt, da sie ontologisch fundiert ist, ein der menschlichen Psyche wesensgemäßes Erziehungsmittel dar. Nur dann, wenn sich in der Religiosität eine spezifisch menschliche Seinsweise manifestiert, kann religiöse Erziehung jene Atmosphäre schaffen, die eine Seelenhygiene gewährleistet.

Es würde uns nicht befriedigen, würden wir zum Schluß nicht noch mit einem kurzen Wort auf den uns Lehrer gelegentlich sehr tief bedrückenden Pessimismus im“ Hinblick auf die Erfolgsmöglichkeit unseres erzieherischen Wirkens zu sprechen kommen. Wie oft stehen wir mit der größten Verzweiflung einem Kinde gegenüber, 'las uns unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenzusetzen scheint,

mit den Worten auf den Lippen, in ihm stecke der Teufel, womit wir nur sagen wollen, daß seine psychophysische Veranlagung, sein Charakter, einfach irreparabel sei. In der gleichen Situation befindet sich bisweilen auch der Arzt gegenüber seinem Patienten, dem seelisch Kranken. Aber eben in dieser Situation spricht der Arzt, zumindest derjenige, der an die „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl)

glaubt, statt jener Verwünschung sein Credo, das Frankl folgendermäßen formuliert („Der unbedingte Mensch“, S. 111): „Seelenarzt zu sein, kann uns nur dann dafürstehen, solange wir es sein dürfen nicht für den psycho-physischen Organismus, sondern für die geistige Person, die gleichsam darauf wartet, daß sie vom psychophysischen Handikap durch uns befreit werde.“ Diesem psychiatrischen

Credo wollen wir ein pädagogisches Credo zur Seite stellen: Nur dann, wenn sich noch hinter den auffälligsten Abnormitäten des Zöglings der unverletzliche Geist verbirgt, steht es dafür, Erzieher zu sein, und nur dann, wenn diese geistige Person der krankhaften psychophysischen Veranlagung entgegentreten kann, sind wir imstande, Erzieher zu sein.

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