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Die Idee des reinen Rechtes

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Seit dem Erscheinen der ersten Auflage des Werkes von Prof. Hans Kelten über die Idee des reinen Rechtes sind mehr als 25 Jahre verstrichen. In diesen 25 Jahren hat sich nicht nur die politische Weltkarte gewaltig geändert, vielmehr haben wir auch einen geistigen Zusammenbruch erlebt. Aber nicht die großen politischen-Imwäli| zarigen dieser JahrzehritOWdJ e%7' aij dem Verfasser der reinen“RecWsfefirtf der einmal maßgeblich an der Formulierung der österreichischen Bundesverfassung mitgewirkt und unter Roo-sevelt auch an der Atlantik-Charta maßgeblich mitgearbeitet hat, eine Neuauflage seines Werkes nach 25 Jahren nahelegten. Denn diese politischen Umwälzungen haben nach seinen eigenen Worten „an der wissenschaftlichen und politischen Situation, in der die reine Rechtslehre entstanden ist, nicht viel geändert“; vielmehr war es die wiedererwachte Metaphy-»ik der Naturrechtslehre, die mit ihrem Anspruch, das gerechte Recht und damit einen Wertmaßstab für das positive Recht bestimmen zu können, Kelsen veranlaßt hat, mit einer Neuauflage seines Werkes „die Fortführung seiner Lehre durch andere als den schon am Ende seines Lebens stehenden Autor zu erwirken“.

Wenn nun Kelsen im Vorwort der ersten Auflage seiner Lehre vom reinen Recht selbst bekennen mußte, daß Faschisten sie für demokratischen Liberalismus erklärten, liberale und sozialistische Demokraten sie für einen Schrittmacher des Faschismus halten, daß sie von kommunistischer Seite als Ideologie eines kapitalistischen Etatismus und von nationalistisch-kapitalistischer Seite bald als krasser Bolschewismus, bald als versteckter Anarchismus disqualifiziert wurde, daß ihr Geist der katholischen Scholastik verwandt sei und andere wieder sie als atheistisch brandmarken möchten, dann ist wohl die Frage berechtigt, ob eine solche Rechtslehre heute noch geeignet ist, Grundlage des juristischen Denkens schlechthin zu sein. Es ist vor allem auch die Frage gerechtfertigt, ob eine Rechtslehre, welche so konträre Auslegungen zuläßt, auch die geeignete geistige Grundlage einer Verfassung bilden kann. Unwillkürlich muß sich hier ein Vergleich zum neuen Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und zu den Verfassungen mehrerer deutscher Bundesländer aufdrängen, die sich vom rechtspositivisti-schen Gehalt der Weimarer Verfassung gelöst haben und eindeutig zum naturrechtlichen Denken bekennen, wie dies nicht zuletzt in der Anerkennung des Gewissensnotstandes in der Frage der Wehrdienstverweigerung zum Ausdruck kommt.

Kein bloßer Gelehrtenstreit

Es wäre nun durchaus verfehlt, die Auseinandersetzung um die Idee des reinen Rechtes als bloßen Gelehrtenstreit anzusehen, den die hohen Schulen der Rechtswissenschaft austragen mögen. Wir sind zwar mit Kelsen einig, daß sich im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte „in das Rechtsdenken vielfach Elemente eingeschlichen haben, die mit dem Recht schlechthin nichts mehr zu tun haben“, vielmehr dem Bereiche der Politik angehören — Politik als Machtkampf, der auf verschiedenen Ebenen zwischen den Interessengegensätzen verschiedenster Art ausgetragen wird —, können ihm aber nicht mehr folgen, wenn er zu diesen fremden Elementen, die nach seiner Auffassung das Wesen der Rechtswissenschaft verdunkeln und die Schranken verwischen, die ihnen durch die Natur ihres Gegenstandes gesetzt sind, neben der Psychologie, Soziologie und politischen Theorie auch die Ethik und im weiteren Sinne die Moral verstanden wissen will.

Wenn Kelsen wenige Jahre später im Konflikt mit dem autoritären Denken der dreißiger Jahre selbst den Weg in die Freiheit Amerikas suchte, muß es um so mehr wundern, daß er nach dem einmaligen Zusammenbruch des Rechtspositivismus in der Form der faschistischen und nationalsozialistischen Rechts- und Staatsauffassung nicht zu der entscheidenden Erkenntnis gelangt ist, daß die ethischen und religiösen Elemente weder das Wesen des Rechtes verdunkeln noch die Schranken verwischen, die ihnen durch ihre Natur gezogen sind, daß sich also auch eine reine Rechtslehre von der engen Bezogenheit des positiven Rechtes und der Postulate der Ethik und Moral nicht freimachen kann, wenn sie nicht in einer Devalorisation de l'homme, in einer Entwertung des Menschen, enden soll.

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