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Die Not des Hochschullehrers

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Nicht von materieller Not soll hier die Rede sein und auch nicht von den technischen Nöten, die dem Hochschullehrer heute die Ausübung seines Amtes erschweren

— Mangel der notwendigen Forschungs- und Lehrbehelfe, Abgeschnittensein vom geistigen Leben des Auslands, Schwierigkeit des Reisens —, sondern von einer Not, die man fast als seelische Not, als Gewissensnot bezeichnen könnte, und die jeder durchlebt, der heute einen Lehrstuhl einer Hochschule innehat.

Vor dem akademischen Lehrer sitzt — frierend in ihre Mäntel gehüllt, den Bleistift zum Mitschreiben kaum noch in den frosterstarrten Händen haltend — eine Hörerschaft, die durch Krieg, Gefangen- sdiaft, Verwundung hindurchgegangen ist

— einer schreibt mit der linken Hand, die rechte ist nur ein Stumpf, ein anderer hat die Krücken neben sich angelehnt — und die jetzt die äußersten Entbehrungen erträgt, um sich dem Studium widmen zu können.

Der vielbewitzelte Normalverbraucher, der nur von seinen Kartenrationen lebt — hier, in den Reihen der Studenten, ist er zu Hause. Wenn man sich nach den Wohnungsverhältnissen erkundigt, erhält man in vielen Fällen Auskünfte, die Entsetzen und Mitleid in einem hervorrufen, gemischt mit Bewunderung für eine Jugend, die unter solchen Umständen noch imstande ist, reges Interesse für geistige Dinge, Arbeitseifer und wissenschaftlichen Idealismus sich zu bewahren.

Was aber noch mehr bedeutet als alle diese, auch für den Außenstehenden sichtbaren Entbehrungen und Mängel, das sind die geistigen Wunden, die diese Zeit in der Jugend geschlagen hat, die. Ärmlichkeit und Herabgekommenheit — nicht der äußeren Kleidung und der Lebenshaltung, sondern der geistigen Ausrüstung und geistigen Gewandung dieser Jugend. In den bildsamsten Jahren, in der Zeit, wo Tag auf Tag neue Eindrücke der Dichtkunst, der Musik und der bildenden Künste das Empfindungsvermögen und das Urteil veredeln sollten, wo die erworbenen Schulkenntnisse vertieft, geordnet, geistig verarbeitet werden sollten,

um sich langsam durch eigene Lektüre zu selbständigen Interessen, persönlichen Stellungnahmen den geistigen Problemen gegenüber zu erweitern und so die Grundlage für ein wirklich wissenschaftliches Arbeiten gesichert, Belesenheit, Urteilsfähigkeit und Übung im methodischen Denken, Sprachenkenntnis und Gewandtheit im Gedankenausdruck erworben werden müßten — in diesen Jahren hat diese Jugend Tag für Tag im Luftschutzkeller gesessen, kostbare Zeit schuldlos vergeudend. Oder diese Jugend wurde unreif und dem, was sie erlebte, geistig noch nicht gewachsen, zum Kriegsdienst herangezogen, den sie selten als das erhoffte, halb als Soldatenspiel, meist als blutigen Ernst, oft auch als zynische Brutalität miterlebte. Dann kam Lazarett, Gefangenschaft. — Es ist wahrlich nicht die Schuld dieser Jugend, daß sie das alles nicht besitzt, was man als die unbedingt notwendige Voraussetzung eines Hochschulstudiums, als das unentbehrliche geistige Rüstzeug der wissenschaftlichen Arbeit be-- trachten muß.

Kann der Professor aber — und hier beginnt der Gewissenskonflikt — bei allem Mitleid mit der tragisch unverschuldeten Lage dieser Jugend, mit den Leiden und tapfer übernommenen Entbehrungen der Hochschullehrer von den notwendigen Voraussetzungen eines wirklichen und ernstlichen Hochschulstudiums abseben? Wie soll er seine Hörerschaft in die staunenswerten Entdeckungen der neueren Physik, in die Errungenschaften der Technik einführen, wenn ihr die mathematischen Voraussetzungen dafür fehlen, seinen physikalischen und technischen Gedankengängen folgen zu können? Wie soll er Mediziner in den so überaus spezialisierten Methoden der modernen Diagnostik und Therapie unterweisen, denen die Grundbegriffe eines wirklich wissenschaftlichen biologischen Denkens fremd sind, weil das, was sie als Biologie lernten, großenteils nur propagandistische Rassenlehre war. Wie soll er Historiker zu selbständigen Urteilen über geschichtliche Erscheinungen, zu quellenmäßigem Studium anleiten, wenn ihnen das Quellenstudium allein vom sprachlichen Standpunkte schon unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Wie soll er einen Überblick über die großen Zusammenhänge des geistigen und des künstlerischen Lebens geben, wenn die einzelnen großen literarischen und künstlerischen Erscheinungen, die als Grunderlebnisse, als Wertmaßstäbe, als Vergleichspunkte jedem geläufig sein müßten, den Hörern nicht aus eigener Lektüre, ja oft kaum vom Hörensagen bekannt sind. Wie soll er Mittelschul- lchrer heranziehen, die später einmal in der Schule die großen Kulturschöpfungen durch lebendige Vermittlung der kommenden Generation zu einem tiefen Kulturerlebnis werden lassen wenn sie durch mangelhafte Kenntnis verhindert sind, selbst zu diesem tieferen Erleben der Kulturwerte zu gelangen? Es ist fast unmöglich; man muß, um das Niveau zu halten und wirklich Wissenschaft zu lehren, so tun, als ob das alles bekannt wäre — und man sieht die entsetzten Augen derer, denen jetzt erst aufdämmert, was sie alles wissen müßten, um dem Gebotenen wirklich folgen zu können.

Da packt einen das Mitleid: man sucht die Ansprüche herabzusetzen, soviel Elementares zu erklären und zu lehren, als nur irgend geht, im eigenen Vortrag die fehlenden Mittelschulkenntnisse zu ergänzen. Aber man sieht, daß man auf diese Weise nur „Lernstoff“ weitergibt, eine „Routine" mitteilt, die eine bestimmte spezialisierte Ausübung ermöglicht — von der schablonenhaften Textbearbeitungsmethode des Philologen bis zu einer mechanischen Handfertigkeit in sklavisch abgeschauten chirurgischen Methoden —, daß man aber nicht Wissenschaf t- 1 e r erzieht, Leute, die zu selbständigen geistigen Leistungen, zu methodischen Entdeckungen, zu planmäßigen neuen Schöpfungen auf geistigem Gebiet befähigt werden, wie sie jede frühere Wissenschaftsgeneration hervorgebracht hat.

Sei’s drum, denkt man vielleicht, es soll dieser Jugend, die so viel unverschuldet erlitten hat, wenigstens ein nicht ganz durch Leistung verdientes Diplom aus Mitleid gehören. Aber hat diese Jugend wirklich etwas davon, wenn man ihr bloß ein geschenktes Diplom in die Hand drückt, anstatt sie zu wirklicher Leistung zu befähigen? Höchste Qualitätsleistung auf allen geistigen Gebieten, vorbildliche Schöpfungen in allen Zweigen des Denkens, des For- sebens, des technischen Schaffens, das ist ja die Voraussetzung, ihr in Zukunft einen Erwerb auf Grund ihres Studium, ein Brot als Entgelt ihres Wissens zu sichern. Wenn unsere Wissenschaftler nicht mit ihren Leistungen sich nötigenfalls auch den Weg ins Ausland bahnen können, dann erzeugen wir hier mit unseren Diplomen nur ein Überangebot an geistiger Scheinleistung, und verdienen uns in fernerer Zukunft die Vorwürfe der Irregeführten, der durch ein wertloses Diplom über ihre eigene Leistungsfähigkeit Getäuschten — Vorwürfe, die bitterer und schmerzlicher begründet sein werden, als sie jetzt uns machen können, wenn wir unerbittlich noch während des Studiums das Nachholen des schuldlos Versäumten einfordern.

So muß man gegen diese bedauernswerte Jugend streng sein, anspruchsvoll und unerbittlich, aus Mitleid mit der Zukunft, die diese Jugend bedrohen müßte, wenn wir ihr den Ernst der Aufgabe verschwiegen. Sie wird es verstehen, daß man es zu ihrem eigenen Besten tut, aus Sorge für die Zukunft. Verstünde es ein Teil nicht, so kann dies die Pflicht des Hochschullehrers nicht mindern, sondern nur schmerzlicher machen. Es wäre ein Teil der heutigen Not des Hochschullehrers.

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