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Die Rechtswissenschaft im Wandel der Weltanschauung

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Michael Pfliegler schildert in seinem jüngst erschienenen Buche „Die religiöse Situation“ (Pustet-Verlag, Graz 1948) in anschaulicher Weise, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kathederphilosophen in unbeschwertem Glauben an die endgültige Sicherung des Daseins durch die Vernunft und die Wissenschaft dahinlebten, wie der Positivismus Comtes alle philosophischen Richtungen erfaßte und als letzte und höchste Stufe des geistigen Aufstieges unbestritten die positivistische, nämlich wissenschaftliche Bewältigung der Mensdiiheits- fragen in einer wissenschaftlichen Weltanschauung galt. Diese Auffassung war zu einem geistigen Gemeingut geworden, auf das die „fortschrittlichen Philister aller politischen Lager" eingeschworen waren.

Der neuzeitliche Versuch, durch die Wissenschaft einen Religionsersatz zu geben, kann jedoch heute endgültig als gescheitert angesehen werden. In den letzten Jahrzehnten hat sich insbesondere in der geistigen Oberschicht eine entscheidende Abkehr vom Vernunftglauben vollzogen und eine neue Einsicht in die Schranken der Vernunft und die Grenzen jeder Verstandeswissenschaft gebildet. Es handelt sich hier um eine vollkom mene Umkehr in der Geisteshaltung, um den gänzlichen Verzicht auf das naturwissenschaftliche Weltbild des 19. Jahrhunderts oder, genauer gesagt, um den „Verzicht auf die Vorstellung von der Realität, die der Newtonschen Mechanik zugrunde liegt“ (Heisenberg, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes, Leipzig 1942 S. 12).

Es ist bezeidmend, daß gerade ein so hervorragender Vertreter der Naturwissenschaften wie Max Planck, der Begründer der modernen Physik, sich zu der Erkenntnis durchrang, „daß das endgültig Re le metaphysischen Charakter trägt und sich daher einer vollständigen Erkenntnis durchaus entzieht“ und „daß die Welt der Sinnesempfindungen nicht die einzige ist, die begrifflich existiert, sondern daß es noch eine andere Welt gibt, die uns allerdings nicht unmittelbar zugänglich ist, auf die wir aber nidit nur durch das praktische Leben, sondern auch durch die Arbeit der Wissenschaft immer wieder mit zwingender Deutlichkeit hingewiesen werden" (Planck, Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, Leipzig 1942, S. 20).

So sehen sich die Begründer der neuen Physik „unmittelbar vor dem Tor zum Jenseitigen, zu dem kein Experiment trägt (Pfliegler). Sic haben hiedurch eine völlige Geisteswende herbeigeführt, die allerdings noch nicht allgemein begriffen wird, und zwar nicht bloß in den Kreisen der Halbgebildeten, die üblicherweise mit sturer Beharrlichkeit an längst überholten wissenschaftlichen Erkenntnissen festzuhalten pflegen, sondern auch noch unter Vertretern der Wissenschaft, welche noch allzusehr im Spezialistentum des 19. Jahrhunderts befangen sind, als daß sie über den „Schrebergartenhorizont“ ihres Fachgebietes hinauszublicken vermögen.

Wenn wir aber die Fülle der Aufgaben, die uns Gegenwart und Zukunft stellen, mit Erfolg meistern wollen, so müssen wir uns aus der Enge des ausschließlich fachwissen- schaftlichen Denkens befreien, um wieder zu einer wirklichkeitsnahen Gesamtschau, einer ganzheitlichen Betrachtungsweise des Lebens zu gelangen. Dabei bringt es die totale geistige Umwälzung der jüngsten Zeit mit sich, daß selbstverständlich kein Wissensgebiet, das den /Namen Wissenschaft für sich in Anspruch nimmt, davon ausgenommen werden kann, bei sich Einkehr zu halten und Gewissenserforschung zu pflegen, ob seine eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse tatsächlich noch auf der Höhe der Zeit stehen und mit der allgemeinen Entwicklung der modernen Forschung Schritt gehalten haben. Bei solcher Selbstprüfung würde so mancher Wissenschaftler, der sich in ahnungsloser Unwissenheit für einen hervorragenden Vorkämpfer des Fortschritts hält, die überraschende Feststellung machen, daß er seine Lehre auf einer Weltanschauung aufgebaut hat, „die sich bei Licht Seit zwei Menschenaltern eigentlich nicht mehr blicken lassen sollte“ (Pfliegler).

Daß eine solche Kritik derzeit insbesondere gegenüber den meisten Vertretern der Rechtswissenschaft am Platze ist, wird diejenige nicht weiter verwundern, die sich an den bekannten Ausspruch Anton Mengers erinnern, der mit Bitterkeit die Jurisprudenz einmal die zurückgebliebenste aller Wissenschaften genannt hat, „einer entlegenen Provinzstadt vergleichbar, wo die abgelegten Moden der Residenz noch immer als Neuheiten getragen werden“.

Es ist bei solcher Grundhaltung begreiflich, wenn die heutige Rechtswissenschaft vorwiegend noch immer vom Geiste des 19. Jahrhunderts durchdrungen ist. Im Zuge der allgemeinen Nachahmung naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise hatte nämlich der Positivismus allmählich auch auf dem Gebiete des Rechts einen vollen Sieg errungen. Die Beschränkung der Erkenntnis auf das sinnlich Wahrnehmbare wirkte sich hier dahin aus, daß einzig und allein die positive Norm als existent anerkannt wurde.' Was es sonst noch geben mag, wurde als nicht unmittelbar erfahrbares Recht in das Reich der Metaphysik verwiesen; es galt als „meta- juristisch“, als außerhalb des Rechts gelegen.

Eine solche Beschränkung auf die Feststellung des sinnlich Erfahrbaren und die Erforschung bloßer Tatsachen führte zwangsläufig zu einem Verzicht auf alle letzten Fragen. Im Gegensatz zu der zweitausendjährigen Tradition des klassischen Naturrechtsgedankens sind, nunmehr Recht und Gerechtigkeit nicht mehr identisch. Das Recht ist in bloßem Formalismus erstarrt, die Rechtswissenschaft zu einer Wissenschaft ohne Recht geworden. Jetzt glaubt man nicht mehr an eine ewige, über allen menschlichen Satzungen stehende Norm der Gerechtigkeit, sondern es wird der Unterschied von Recht und Unrecht zur bloßen Konvention, das Recht zum bloßen Produkt des jeweils herrschenden Machtwillens.

Gibt es aber keine göttliche Norm der Gerechtigkeit, dann kann der Staat alles als Recht erklären, was ihm paßt, dann gibt es für seine Willkür keine Schranke, soferne er nur jene Formen einhält, welche die Verfassung für die formale Gültigkeit eines Gesetzes vorschreibt. Diesen Weg ging der fötale Staat und zog damit die letzte Konsequenz aus dem seit langem im Gang befindlichen Zerfall der abendländischen Idee der Gerechtigkeit. Die Krise des Rechtsgedankens, welche im totalen Staat offenbar wurde, ist somit die natürliche Folge des glaubenslosen und metaphysikfeindlichen Denkens.

So hat die Entwicklung des letzten Jahrhundert den Beweis erbracht, daß auch die vollkommenste Gesetzestechnik eine wahre Ordung nicht zu errichten vermag. Denn über die meisterliche Gestaltung der Form hatte man auf den Inhalt des Rechts vergessen, den Gerechtigkeitsgedanken beiseite geschoben. Heute aber ist gerade die Gerechtigkeit jenes Gut, nach dem die Menschheit nach so vielen Jahren der Rechtlosigkeit und Vergewaltigung am stürmischesten verlangt. Immer lebhafter wird darum auch das Verlangen nach einer metaphysischen Grundlegung des Rechts, nach einer Wiedererweckung der Gerechtigkeitsidee als eine jener absoluten Werte der europäischen Kulturtradition, welche außerhalb des Stromes, der Entwicklung stehen und unbedingte Geltung haben.

Der unbeirrbare Glaube an die ewige Idee der Gerechtigkeit bildete die Grundlage der europäischen Rechtsordnung von den Tagen der alten Griechen an bis tief ins 19. Jahrhundert hinein, da das gesamte geistige Leben in die Relativismen eines entarteten Zeitalters versank. Alle bedeutenden Rechtsphilosophen des Abendlandes von Aristoteles bis Kant hatten diesen Glauben verkündet; sie hielten an dem Naturrechtsgedanken mit der gleichen Beharrlichkeit fest wie dis katholische Kirche, die ihn sogar im 19. Jahrhundert nicht verleugnete, als alle Welt dem zu jener Zeit allmächtigen Positivismus anhing und auch das zaghafteste Bekenntnis zum Naturrecht zwangsläufig die allgemeine Verfemung bei den damaligen Vertretern der Rechtswissenschaft nach sich zog.

Es gibt noch heute genug zählebige Exemplare dieser Gattung, Rechtspositivisten besten Durchschnitts, welche sich zwar im allgemeinen um reditsphilosophische Fragen wenig kümmern, bei der bloßen Nennung des Namens „Naturrecht“ jedoch sich still bekreuzigen, da man ihnen seit ihrer juristischen Kindheit vorgeredet hat, daß das der leibhaftige Gottseibeiuns sei, der die Posi- tivität des Rechts zu Fall bringen wolle.' Es sind dies Juristen jener Art, von denen einst Kirchmann in seinem berühmten Vortrag über die „Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ (1848) gesagt hat, daß sie zu Würmern geworden seien, „die nur von dem faulen Holze leben“. Was kümmert sie die geistige Entwicklung der letzten Jahrzehnte, da sie doch ohnfedies vor grauen Zeiten die letzten Lehren des Fortschritts auf der hohen Schule eingesogen haben und somit billigerweise verlangen können, daß sie auf Grund der seinerzeit erworbenen Weisheit ein für allemal davon befreit werden, sich mit grundlegenden Neuerungen der wissenschaftlichen Erkenntnis auseinanderzusetzen. Man studiert später doch nur mehr neue Gesetze und Verordnungen und bestenfalls noch den einen oder anderen handfesten Kommentar, welcher das eigene Denken nicht allzusehr in Anspruch nimmt — „was darüber ist, ist vom Bösen“!

Nein, so geht es nicht weiter! Wird die Jurisprudenz auf solche Weise betrieben, ist sie keine Wissenschaft mehr, sondern bloß noch ein Handwerk. Auf welcher niedrigen Stufe sich solche „Rechtswissenschaft“ befindet, zeigt ein Vergleich mit jener hohen Auffassung, welche die Römer von der iurispru- dentia hatten; war sie ihnen doch die divi- narum atque humanarum rerum notitia, iusti et iniusti scientia.

Ja, das Wissen von Recht und Unrecht muß auch in der modernen Rechtswissenschaft wieder zum Mittelpunkt des juristischen Denkens werden. Die Rechtswissenschaft darf nicht weiterhin eine Wissenschaft ohne Recht bleiben. Nur dann wird unsere Rechtsordnung wieder gesunden und die gegenwärtige Rechtskrise überwunden werden. Hiezu bedarf es aber einer Anpassung der Rechtswissenschaft an die jüngsten Erkenntnisse der übrigen wissenschaftlichen Forschung. Audi die Jurisprudenz wird daher endlich der allgemeinen Geistesentwicklung folgen und wieder zu einer metaphysischen Grundlegung des Rechts zurückkehren müssen. „Denn lediglich auf dem ungeschwächten und unerschütterlichen Fundament des lebendigen metaphysisdien Bewußtseins kann ein absoluter Wahrheitsbegriff mit seiner notwendigen Konsequez streng gültiger Normen der Sittlichkeit und Gerechtigkeit geschützt bleiben gegen den wachsenden Strom instinktiven Lebensdranges“ (Huizinga).

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