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Die religiöse Bilanz von vier Jahrhunderten

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Michael Pfliegler, Die religiöse Situation, Verlag A. Pustet, Graz

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Michael Pfliegler, Die religiöse Situation, Verlag A. Pustet, Graz

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Die auf allen Gebieten so hochgespannte Lage der Gegenwart hat viele Versuche ausgelöst, auch auf religiösem Gebiete für die Situation der Gegenwart Diagnosen zu stellen, die geistigen Strömungen aufzuzeigen, das Eigenartige und Einmalige der heutigen Zeit festzustellen. Das neueste Buch von Pfliegler gehört in die Reihe dieser Schriften.

Was diese Schrift von manchen anderen dieser Art angenehm unterscheidet, ist diie Gründlichkeit, womit der Verfasser den geistigen Wurzeln der religiösen Situation von heute nachgeht. Er offenbart sich dabei als hervorragender Kenner der neuzeitlichen Philosophie und konnte so in klarer Überschau die Entwicklungslinie der religiösen Geschichte der letzten vier Jahrhunderte, die er als Neuzeit zusammenfaßt, heraüsheben. Pfliegler schreibt wie immer so auch hier mit viel Geist und Herz. Sein Buch liest sich stellenweise sehr spannend. Man gewinnt den Eindruck, daß es mit viel persönlicher Teilnahme am Schicksal der neuzeitlichen und heutigen Menschheit geschrieben ist. Die Sorge um die Seelen der Menschen hat diesem hervorragenden Seelsorger die Feder geführt, hier wie ja auch in anderen Büchern.

Pfliegler unterscheidet vier Etappen der christlichen Geschichte: Antike, Mittelalter, Neuzeit, Jetztzeit, ohne damit sagen zu wollen, daß die einzelnen Perioden rein zeitlich aufeinander- folgen, vielmehr sieht er sie in gewissem Sinne ineinandergeschoben und gleichzeitig wirksam. Er befaßt sich mit der religiösen Situation der Neuzeit und zeigt deren geistigen Werdegang in der Geschichte auf.

Wie kam es zur religiösen Situation von 'leute, und welche Gestalt weist sie auf?

Pfliegler stellt an den Beginn der Neuzeit drei Männer, die durch ihr geschichtliches Auftreten den geistigen und religiösen Werdegang der Neuzeit wesentlich bestimmt haben: Descartes, Francis Bacon und Macchiavelli. Alle drei waren von dem Streben erfüllt, dem menschlichen Dasein von unten her, das heißt vom Menschen aus, eine neue Gestalt und Sicherheit zu verleihen. Desoartes im Nomen der Vernunft und Freiheit, Bacon durch den Glauben an die Wissenschaft, die schöpferische Anlage des Menschen und den Glauben an den unendlichen Fortschritt, Macchiavelli durch sein Bekenntnis zum allmächtigen Staat, der sich der Religion als eines reinen Mittels für seine Zwecke bedient.

Den Höhepunkt dieses dreifachen Glaubens bildet die Aufklärung. Das Ende dieser Periode ist der Atheismus, der sich nur deshalb nicht sofort allgemein verbreitete, weil ihm allerlei Hemmungen im Wege standen. Vier Gründe finden wir namhaft gemacht: einen allgemeinen Mangel an Folgerichtigkeit, die vom Mittelalter her noch vorhandene restliche christliche Substanz, bestimmte sich anbahnende Gegenbewe- gungen, namentlich die Romantik, der deutsche Idealismus. Aber schließlich ließ sich die Bewegung nicht mehr aufhalten. Die geistige Lage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1st gekennzeichnet durch den herrschenden Pesri- mismus, den religiösen Indifferentismus und Materialismus in Theorie und praktischer Lebenshaltung, die selbstsichere Überzeugung der Kathederphilosophen, das Dasein durch die Vernunft und die Wissenschaft völlig sichern zu können. „Den Grundbaß in diesem gesamten Chor gab die vom Materialismus und Evolutionismus bestimmte Presse und Literatur.“ Dazu kam der Frontalangriff der breiten Massen auf die christliche Substanz, der von der Freidenkerei der Linksparteien ausging und eine für diese müde Zeit nicht für möglich gehaltene Vitalität entwickelte.“ Immerhin erhoben sich auch schon in dieser Zeit gegen den naiven Optimismus des Glaubens an eine durch Wissenschaft und Technik in ein Paradies verwandelte Erde erliste Bedenken.

Diese Bedenken verstärkten sich um die Wende des Jahrhunderts immer mehr und führten zur entschiedenen Abkehr vom Glauben an die Vernunft. Eine Ironie des Schicksals nennt es Pfliegler, daß gerade vom modernen Positivismus, der sich „in lächelnder Überlegenheit als eine endgültige Erledigung jeder Metaphysik (und Religion?) verstand“, die Entscheidung ausging gegen den die Neuzeit kennzeichnenden Versuch, an Stelle des Glaubens eine rationale Sicherung unserer Existenz zu geben. Allenthalben verrieten sich die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und damit auch die Grenzen der Möglichkeit, das Dasein vom Menschen, von der Vernunft aus genügend sichern zu können. Die erste Folge dieser Entdeckung war eine tiefe Resignation. Man begann das Furchtbare zu ahnen, das mit der Loslösung vom Gott und vom Glauben an Gott gegeben war. Nietzsches Fragment „Der tolle Mensch" wurde immer mehr verstanden. „Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. Wohin ist Gott?" rief er. „Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet — ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder!.,. Was ttten wir. als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin be wegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen?“

Der österreichische Meister im Stahlschnitt, ßlümelhuber, hat ein Doppelwerk hinterlassen, an das man unwillkürlich denken muß, wenn man den „tollen Menschen“ Nietzsches liest: er stellte zweimal die Erdkugel dar, das einemal, wie sie in seiner klaren, edelgeformten, sicheren Hand ruht, in der Hand Gottes, das andere- mal, wie sie auf stürmischem Meer ohne Halt ein Wellental hinabrollt und von unten her von einer Krallenhand umfaßt wird, die erbarmungslose Satan.smacht, die durch Goldstücke gekennzeichnet ist.

Ist es zu verwundern, daß nun über diesen sich von einer blinden Schicksalsmacht „geworfenen“ Menschen die große Angst legte? Sie ist die Grundbefindlichkeit des heutigen, nicht religiös gläubigen Menschen. Dazu kommt die große Demütigung, die mit der Feststellung der allenthalben sich fühlbar machenden Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit über den neuzeitlichen Hochmut hereinbrach. Nie wurde das Erlebnis kreatürlicher Kontingenz so stark und eindrucksvoll empfunden und erlebt wie heute. „Das Grauen der Gottlosigkeit wird spürbar", ein Irrewerden an allem, was bisher sicher schien, eine allgemeine Daseinsangst, eine Endzeitstimmung und im Gefolge von alldem — eine neue Glaubensbereitschaft.

In dieser neuen Glaubensbereitschaft erblickt Pfliegler mit Recht das positive und lichtvolle Ergebnis der neuzeitlichen geschichtlichen Entwicklung. Der Boden ist aufgelockert. Wenigstens der geistig führenden und schaffenden Oberschicht der nichtchristlichen Kulturmenschheit ist der Star gestochen. Sie beginnt wieder religiös zu sehen und bekennt sich da und dort zu einem offenen „ergo er ravimus“, wir haben uns geirrt. Die breiten Volksmassen freilich leben noch, religiös gesehen, in einer geistigen Sehunfähigkeit, die, wie es scheint, von ihnen Führern noch weiter genährt wird, vielleicht nur aus Angst, den politischen Einfluß auf die Massen zu verlieren. Aber der Aufbruch des Lichtes wird sich nicht hemmen lassen, mag es auch noch einige Zeit dazu brauchen. Gerade diesen Massen kann Pflieglers Buch nicht genug empfohlen werden. Es gehört zu Hunderten von Exemplaren in die öffentlichen Volksbibliotheken, ln den Volkshochschulen sollte darüber gesprochen werden. Ein geistiges und religiöses Büdungs- buch ersten Ranges.

Pfliegler bespricht die religiöse Situation, wie sie neben und außerhalb von Christentum und Kirche besteht. Aber damit ist nicht die ganze Menschheit getroffen. Es gibt neben dieser neuzeitlichen Entwicklungslinie noch eine andere, vielleicht in der Öffentlichkeit nicht so markant . hervortretende religiöse Entwicklungslinie, die nicht übersehen werden darf und im Buche Pflieglers nur gelegentlich kurz erwähnt wird: die neuzeitliche religiöse Entwicklung innerhalb der Kirche. Insofern sagt der Titel des Pflieg- lerschen Buches mehr als sein Inhalt. Das ist das einzige, was ich an der vorliegenden Schrift aussetzen möchte: sie befaßt sich einseitig mit der geistigen Bewegung weg von Kirche und Christentum. Inzwischen hat sich aber auch innerhalb der Kirche ein gewaltiges Geschehen vollzogen, das gerade für die Zukunft von entscheidender Bedeutung sein wird. Über die große Wandlung, die sich während der letzten vier Jahrhunderte innerhalb der geistigen Kir- chenmauern vollzogen hat, müßte ein eigenes Buch geschrieben werden. Es würde beim Trien- ter Konzil einsetzen und sich mit der die vier Jahrhunderte hindurch bis zur Gegenwart im Gang befindlichen Reformation der Kirche zu befassen haben. Die gewaltigen Heiligengestalten, wie Ignatius von Loyola, Therese von Avila, Franz von Sales bis zu Don Bosco und Con- tardo Ferrini, würden erwähnt werden. Desgleichen würde von der gewaltigen Verinnerlichung gesprochen werden, die ausging von Paray-Le Monial, von der Weltweihe durch Leo XIII. zu Beginn dieses Jahrhunderts, den Kommuniondekreten Pius’ X. bis zu den tiefgreifenden Rundschreiben Pius’ XII. über den mystischen Leib Christi und die Entfaltung des liturgischen Lebens in der Kirche. Hingewiesen würde auf das neue Erwachen eines verantwor tungsbewußten Laientums in der heutigen Kirche, ein Aufbruch, dessen Bedeutung für die religiöse Situation in der Zukunft sich heute noch gar nicht abschätzen läßt. Es gibt nur eine religiöse Geschichte der Mensdiheit auf Erden, die Geschichte des Gottesreiches. Keine tiefer reichende geistige, sei es religiöse oder antireligiöse Entwicklung, vollzieht sich, die völlig außerhalb und unabhängig und unbeeinflußt vom Strahlungsfeld des übernatürlichen Gottesreiches vor sich ginge. Darauf hätte in der vorliegenden Schrift meines Erachtens auch hingewiesen werden müssen. Erst auf diese Weise wäre die religiöse Gesamtsituation von heute zu einer adäquaten und noch wirksameren Darstellung gelangt. Es hätte sich aufzeigen lassen, daß die neue Glaubensbereitschaft, wie sie in der Christentum- und kirchenfernen Menschheit heute besteht, auch innerhalb der Kirche einer neuen, freilich ungleich tieferen und gnadenreicheren Glaubensbereitschaft begegnet bei den vielen lebendigen Christen, die von dem großen Entschluß erfüllt sind, in neue Tiefen des Christentums hinabzustoßen, getrieben von einer neuen geistgewirkten Glaubensdynamik, von neuer Liebe und feineren Diskretion für die religiöse Not der noch Fernstehenden.

Es treffen sich heute zwei Glaubensströme, wenngleich von sehr ungleicher Breite und Tiefe. Sie werden sich vereinigen, so dürfen wir sicher hoffen, das heißt der schwächere und seichtere Strom wird aufgenommen werden vom Glaubensstrom in der einen Kirche Christi. Dann erst wird sich die wirkliche und notwendige Bekehrung der heute so schwer geprüften Menschheit glückhaft vollzogen haben.

Fein sein, beinander bleiben. Alpenländische Volkslieder aus Österreich. Herausgegeben von Cesar B r e s g e n. Otto Müller-Verlag, Salzburg.

Von den vielen Volksliedorsammlungen, die sich um das echte österreichische Volkslied bemühen, scheint die vorliegende Neuausgabe des jungen Salzburger Komponisten Cesar Bresgen eine der wertvollsten zu sein, weil sie allen Forderungen entspricht, die an eine gute Volksliedersammlung gestellt werden können. Die Auswahl der Lieder ist mit künsderischer Verantwortung und wissenschaftlicher Gründlichkeit getroffen: kein Lied ohne Quellennachweis, kein Lied, das nicht echtes österreichisches Volksgut ist und echt und unverfälscht übernommen wurde. Die natürliche Zwei- und Dreistimmig- keit ist gewahrt, nichts ist „bearbeitet", von einer „Begleitungsanweisung“ ist glücklicherweise abgesehen, es ist nichts modernisiert oder abgeglättet; der Herausgeber scheut nicht die so schönen Volksliedquinten. Lieder, die jedem bekannt, solche, die einem von irgendwoher in Erinnerung kommen, und ganz unbekannte, bis- .. her noch nicht veröffentlicht , hervorgeholt aus den entlegensten Tälern, sind hier zusammengetragen; und noch etwas — eine stattliche Anzahl der schönsten österreidiisdien Jodler. — Das handliche Bändchen — in der künstlerischen Ausstattung von Hans Hauke mit feiner Hand auf den Volkston abgestimmt — gehört in jede Schule und Familie; ein „Vademekum“ für jeden wahren Freund des bodenständigen Volksliedes.

Dr. Hans Gillesberger

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