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Die Seele wurde zum Problem

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Man suchte Heilung an all den summarisch vereinten Errungenschaften des spätantiken Geistes: Heilung durch die Kultur. Durch Feuer und Imagination. Durch Tragödie und Gott Asklepios. Auch er war nur ein Faktor im Heilungsprozeß wie die Bäder, wie die Wandelhallen. Er gab den Namen, er lud Fluch und Freiheit auf sich, er .verschwendete sehne Gegenwart zur 1 Betreitmg'und LoSltisungivttfctflldaB persönlichen Leides. Einmal in Schlangengestalt, dann Erdgeist, der sich in Orakeln kundgab, Heros mit unüberwindlichen Waffen, schließlich Geist, war er ein Dämon, der leiden ließ und damit Leiden nahm.

Die Mystik entschwand nicht ganz, wenn auch, wie Erwin Lieck einmal bemerkte, um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert viel von Bakterien und Viren die Rede war, der Begriff „Seele“ aber in ärztlichen Konsultationen ängstlich gemieden wurde. Die Seele wurde ein Problem. Selbst Freud, der das Psychische wieder salonfähig machte, kam im Grunde von der Neurologie her, wie er sich auch weder dem Denken noch der Sprache der positivistisch orientierten späten achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entziehen konnte. Aber es fällt ihm eindeutig das Verdienst zu, hinter organisch anmutenden, aber organisch nicht erklärbaren Störungen seelische Vorgänge vermutet zu haben, die er wie „Verdichtung, Verdrängung, seelische Mechanismen, seelisches Kräftespiel“ mit; einem Vokabular festzuhalten versuchte, das ohne weiteres 'der Thermodynamik entlehnt sein könnte. Er versuchte, Seele als etwas zu verstehen, als ein Organ, dessen Funktion, ähnlich wie die der Leber, begrifflich faßbar ist, und dachte von der Hysterie in ähnlichen Kategorien wie von der Zustandsänderung bestimmter Elemente. Über die unbewußten Phänomene kam er zu den primären Antrieben des Menschen, entwickelte daraus schließlich seine Libidolehre, die in der Formulierung des Lustprinzips zu einer Deutung des ganzen Menschen kommen wollte. So stellt sein vieldiskutierter Begriff der „Sexualität“ nicht so sehr etwas Psychologisches oder etwas umschrieben Physiologisches dar, sondern, wie es Binswanger ausdrückt, „eine Tendenz im biologischen Grundgeschehen“. Der biologische Ansatz war einesteils durch Darwin, andernteils durch Nietzsche gegeben, der vom Menschen spricht als von dem „nicht festgestellten Tier“, vom „Tier ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt“, während er, der Mensch, „in seinem früheren Glauben beinahe Gott war“. Auf Freud gehen im Grunde alle anderen tiefenpsychologischen Schulen zurück. War Freud sehr bewußt und voller Energie dem Unbewußten, dem Es zugewandt, so fügte schon sein Schüler Adler dem Es-Ich-Über-Ich-Skelett den soziologisch-teleologischen

Aspekt wieder hinzu. Er, der sich von Freud losgesagt hatte, stellte den mit seinen Trieben konfrontierten Menschen wieder in eine Gesellschaft hinein, die von einer Finalität geleitet ist. Dem Es und dem Uber-Ich werden auf diese Weise das Ich erst ganz zurückgewonnen. Der Mensch Adlers hat wieder so etwas wie eine Mitte.

Auf das Kollektiv-Unbewußte, Kollektiv-Vorgeprägte und Schicksalhafte wies C. G. Jung hin. Mythos und Mystik erhalten eine späte psychologische Deutung. Der Mensch wird als der späte Erbe einer langen, ins Prähistorische reichenden Ahnenreihe verstanden. Und damit klingt schon ein evolutionistisches Moment an.

Mit Ende des ersten Weltkriegs kommt dann eine neue Sprache auf. Die Seinsbedrohung, die der Krieg darstellte, riß eine neue Betrachtungsweise des Menschen und seiner Existenz auf. Unter dem Einfluß der Husserlschen Phänomenologie und Heideggers „Seinsverständnis“ entwickelte Binswanger seine „Daseinsanalyse“. Sie hat später in anderen Schulen leichte Schattierungen und Änderungen erfahren. Der Mensch wird betrachtet als ek-sistierendes Dasein, er überragt, übertrifft sich selbst in seinem Dasein.welches „Mitsein im Umgang oder Verkehr mit anderen und Miteinandersein in Liebe und Freundschaft“ ist. Mit der zentralen Stellung der Liebe wird ein christliches Anliegen deutlich. Der Mensch und sein Verhältnis zur Mitwelt ist durch die Liebe bestimmt, und zwar keineswegs nur im Sinne einer Rangordnung von ethischen Werten wie bei Scheler (ordo amo-ris), sondern im Sinne der Hingabe, im Sinne des „Über-die-Welt-hinaus-Seins“. Das Ekstatische der Liebe im Seinsvollzug wird entscheidend. (Im Gegensatz etwa zum Liebesbegriff bei Sartre, nach dem sie nur der Entwurf ist, sich auch lieben zu lassen, also etwas Passives, in sich Verharrendes, damit die „intakte Freiheit“ des Menschen gewahrt bleibe.)

Schließlich war es Hingabe, die die ersten christlichen Ärzte bestimmte, sich der Unheilbaren anzunehmen und sie in Hospitälern zu pflegen. Liebe war das Ende von Pergamon.

So ward stufenweise wieder ein volles Bild vom Homo creatus geschaffen: ausgehend vom Phänomen unbeseelter mikroskopischer Teilchen war die Medizin wieder bei dem zu seinen Trieben, zu seinem Leib, seiner Wirklichkeit, seiner Religion, seinem Gott bezogenen Menschen angelangt.

Wir kennen Bäder, Kurorte, mit all ihrem magischen Fluidum, wiewohl nicht alles unterirdisch geblieben ist'. Wir haben psychische Behandlungsräume, in denen der Kranke liegend und von seiner Umwelt weitgehend gelöst mit Hilfe eines geschulten Therapeuten seines bisher unbewußten Konfliktes inne wird; Schlafkuren und Heilschlaf, herbeigeführt mit leicht verfüglichen Neurolepticis, Arbeitstherapie und Heilgymnastik und nicht zuletzt Psy-chodrama, Musik- und Tanztherapie! Eine Vielzahl von therapeutischen Möglichkeiten steht heute dem Kranken gegenüber, der sich geborgen wissen kann. Im Vergleich zu Per-gamons Zeit scheint sich vieles gewaltig geändert zu haben.

Und doch ist das Problem Mensch offen geblieben. Deutlich sichtbar wird das, wenn das medizinische Menschenbild heute mit der nicht minder eschatologisch ausgerichteten Betrachtungsweise eines Dichters, nämlich von Franz Kafka, konfrontiert wird.

Dem Verfall ins bequeme Gleichgewicht eines scheinbar schuldlosen und unbezogenen Lebens vorgreifend, versucht der Mensch bei Kafka bis zur Selbstentäußerung Klarheit darüber zu gewinnen, was er sein könnte und was ihm aufgetragen sei. Unwillkürlich verbindet sich mit Kafkas Gestalten — und sie sind immer nur eine einzige — der Begriff der existentiellen Unheilbar-keit, der zeitlosen und beinahe unpersönlichen Verstrickung in ein Schicksal, das mehr ist als der Mensch selbst. Das, was von Freud bis Binswanger und ihren Schülern philosophisch-therapeutische Form angenommen hat, ist bei Kafka noch einmal und sozusagen am eigenen Leib bis ins Hymnisch-Ekstatische gleichnishaft vorgestaltet. Der Mensch ist undefinierbar geworden.

Das weitaufgesprengte, seiner selbst wie weit-offene Bewußtsein, schließlich Bewußtsein der Liebe, wie es der Tiefenpsychologie vorschwebt, erfordert „die Betrachtung der Totalität des Seins überhaupt, wie keine Frage sonst“. So hat es Theodor Haecker einmal formuliert. Das relative Sich-Verschließen der Existenzphilosophie gegenüber metaphysischen Anliegen muß bedenklich stimmen. Die Problematik des menschlichen Geistes darf nicht unberücksichtigt bleiben. Der Verlust des Pneumatisch-Durchdringenden (Jung) des Geistes ist ein akutes Warnsignal. Schon Pascal, dem die noetische wie affektive Erfahrung des Menschen ein Hauptanliegen war, sah ihn an als „nur ein Schilfrohr, das Schwächste in der Natur; aber dieses Schilfrohr denkt“.

Wegdrängend von archaischen Mustern in tieferen Hirnzentren stehen dem Menschen ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten im Bereich des bisher nicht voll genützten und teilweise noch ungeschulten Cortex offen. Einer neuen Konzeption des Menschen liegen sozusagen neue anatomische Möglichkeiten voraus. Die menschliche Evolution drängt zu sinem universalen kosmischen Zen-;rum hin, seine „endgültige Einheit md Vollendung“ suchend, einen .letzten Brennpunkt der Persona-ität und des Bewußtseins“, wie ihn Veilhard de Chardin im Punkt Omega erreicht sehen will.

So ist jede Epoche ernsthaft damit jeschäftigt, das Bild vom Menschen' leu zu formulieren. Sie definiert larin sich selbst. Sie erlangt darin hre ganze geschichtliche Legitimi-ät. So gesehen ist das Asklepieion ron Pergamon keine Musterheilan-italt, die für Jahrhunderte hinaus änen medizinischen Diagnose- und rherapiestil geprägt hat, sondern leidiges Zeichen für die Selbstfin-lung und Identität einer Epoche, lie an der Zeitenwende noch einmal ;anz sie selbst sein konnte. Wir ind auf der Suche nach Gott und lern Menschen.

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