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Die slawische Welt und das Abendland

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Vorbemerkung: Der Stredt zwischen einer universalen Auffassung der kulturellen Entwicklung der Slawen als eines Teiles der gesamteuropäischen Entwicklung, wie sie noch führende slawische Forscher, zum Beispiel die Russen A. H. P y-pin und A. N. Veselovskij, der Kroate V. J a g i 6, der Slovene M M u r k o, vertreten haben, und einer neuen nationa-lisUsdi-diauvinistisch überspannten, partikulären, imperialistischen Zielen dienenden Autochthoniethese, wie sie die offiziell gelenkte sowjetische Wissenschaft vertritt und wie sie in den Akademieausgaben („Iswestija“) und auch in den Universitätsausgaben, zum Beispiel über die Rolle der russischen Wissenschaft in der Entwicklung der Weltwissenschaft und Weltkultur („Utschenje zapiski“) zutage tritt, dauert weiter an. Ob es sich dann um die Frage der Ethnogenese der Slawen und der Diskreditierung der Lehre von der indogermanischen Herkunft der Slawen als einer Lehre „bürgerlicher Wissenschaftler“ handelt (Derschavin, Marr), um die Frage der älteren Sozial- und Wirtschaftsordnung der Slawen, um die Frage der Autochthonie der einzelnen kulturellen Erneuerungswellen, um die Frage des „reaktionären- oder „progressiven“ Verhaltens der Slawen in der 1848er Revolution, um die Negierung der demokratischen Tendenzen in der panslawischen Bewegung, um die Bewertung des westeuropäischen literarischen Realismus gegenüber dem propagierten „sozialistischen“ Realismus, schließlich um den Primat wissenschaftlicher Entdeckungen, überall geht es darum, die Autochthonie und letzten Endes Höherwertigkeit der slawischen Kulturpotenzen dem „kranken, morschen, verfaulenden abendländi-dischen germanisch-romanischen Westen“ gegenüberzustellen. — Es muß allerdings festgestellt werden, daß die tschechischen, insbesondere die slowakischen, aber auch die jugoslawischen wissenschaftlichen Spitzenleistungen, wie uns die Akademieausgaben auch der letzten Jahre beweisen, sich von derartigen Überspitzungen freihalten und die alte, saubere, kritische Objektivität auch niveaumäßig weiterpflegen.

Da ich mit Friedrich Heer der Uberzeugung bin, daß wir bewußte Abendländer und Europäer die faktische und moralische Berechtigung unserer Existenz in Gegenwart und Zukunft nicht mit sentimentalen, müden Seufzern über die schöne, für die Menschheitsgeschichte wertvolle abendländische Vergangenheit, sondern im bewußten Streitgespräch, im Agon, in der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Thesen immer neu unter Beweis zu stellen haben, will ich mit Folgendem, auf Grund einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Frage des kulturellen Wachstums der Slawen einige Tatsachen vorbringen — als kritische Stellungnahme zur überspitzten Autochthoniethese. Ich glaube auch deshalb ein Recht dazu zu haben, weil ich jahrzehntelang, bereits vor dem letzten Weltkrieg, in der österreichischen, deutschen, französischen und amerikanischen literarischen Öffentlichkeit gegen die teils von germanischen, teils von romanischen nationalistischen Chauvinisten traditionell vertretenen Anschauungen von der kulturellen Minderwertigkeit der Slawen und für eine Neu- und Gleichbewertung der slawischen Kulturpotenzen gekämpft habe. Wir wollen von der Grunderkenntnis ausgehen, daß jede der bestehenden Hochkulturen in der Menschheitsgeschichte in den verschiedenen Phasen ihres Wachstums stärker oder schwächer durch andere Hochkultren anregend und fermentmäßig beeinflußt worden ist. Nicht nur dies. Die neuere vergleichende Erforschung der volkstümlichen, mythischen, religiösen, sozialen Begriffe und Brauchtumshandlungen konnte auch in der sogenannten „Volkskultur“ der Mutterschichten der einzelnen Völker, auch der europäischen, feststellen, daß unsere von der Romantik übernommenen Vorstellungen vom ursprünglichen, bodenständigen „Volksgeist“ und seinen Äußerungen weitgehend zu korrigieren sind, daß sogar jene, lange Zeit als autochthon angesehenen Grundanschauungen etwa von den Elementen und Gestirnen immer wieder als gesunkenes Kulturgut älterer Hochkulturen (in unserem europäischen Bereich vor allem der babylonisch- assyrischen) sich enthüllen und daß sich das Autochthone auf die besondere Assimilation, Verarbeitung und Umdeutung des übernommenen beschränkt. Wirklich neue Gedanken sind in der Weltgeschichte ebenso selten wie neue gültige Symbole.

Wenn im folgenden von den abendländischen Kulturelementen bei den Slawen zu sprechen ist, so nicht im Sinne einer Identifizierung mit einer überholten Auffassung von „Kultur“ als einem Aggregat von „Kulturelementen“, sondern aus dem Bewußtsein heraus, daß wir es bei jeder Kultur mit einem strukturalen Gefüge, mit einer funktionalen Einheit psychischer Komplexbildung zu tun haben. Aber auch bei der strukturalen Auffassung und Charakteristik der Kultur ergibt sich die Frage des Grades ihrer Mobilität, ihrer Beweglichkeit (im Sinne P. Sorokins „Social Mobility“, New York 1927) durch die Art und das Tempo der Fluktuation der Bevölkerung und der kulturellen Güter im Räume, die Frage der horizontalen und vertikalen Mobilität, der interethnischen und intraethnischen Kulturausbreitung, damit im Zusammenhang die Frage der Siebung, der kulturellen und sozialen Selektion durch das Aufsteigen und Zurgeltung-kommen ganz bestimmter Persönlichkeiten. Wir wollen uns nun die Frage vorlegen, welche Funktion die kulturelle Adoption, die Einpassung und Anglei-chung abendländischer Kulturgüter an die eigene Kultur für das Wachstum der Kultur der slawischen Völker, vor allem in Hinsicht auf die Neugestaltung der Mobilität und der Siebung, gehabt hat.

Drei geschichtliche Tatsachenkomplexe sollen als die wichtigsten herausgehoben werden: die abendländische Kirche als Kulturträger und Kulturverbreiter, die abendländische Rechts- und Sozialordnung und schließlich jene abendländischen geistig-künstlerischen Erneuerungswellen wie etwa der Humanismus.

Christentum

Mit der Annahme und Verbreitung des Christentums — in einem Prozeß jahrhundertelangen christlich-heidnischen Synkretismus — sind die Slawen in eine höhere, differenziertere, durchgeistigtere religiös-sittliche Vorstellungs- und Wertwelt, damit in eine höhere Form der Kultur eingetreten. Hätten wir gar keine anderen historisch dokumentarischen Beweise (wie zum Beispiel die Neubewertung der menschlichen Einzelpersönlichkeit unabhängig von sozialen Range in den kirchlichen Strafbestimmungen des frühen Mittelalters), so gibt es noch immer einen untrüglichen Beweis in den slawischen Sprachen, wenn wir mit Wilhelm von Humboldt die Sprache als Siegel, als innere geistig-seelische Geschichte der Völker begreifen, und zwar einen bis in die Gegenwart gültigen Beweis, nämlich die Terminologie für die ethischen und kirchlich-religiösen Vorstellungen und Begriffe im Slawischen, wie uns die Forschungen eines F. M i-k 1 o s i c h für das Slawische überhaupt, eines E. K1 i c h für das Polnische, A. F r i n t a und K. Titz für das Tschechoslowakische, P. S k o k für das Südslawische gezeigt haben.

Mag man auch die historische Tatsache, daß nur das Christentum, die christliche Werthaltung und Sinngebung des Lebens una Leidens, die Russen und Ukrainer in den Jahrhunderten der Tatarenherrschaft vor einer totalen Tatarisierung beziehungsweise Mongolisierung, also vor dem Absinken in den kulturellen Zustand der mongolischen Reiternomaden bewahrt hat, wie auch die Balkanslawen in den Jahrhunderten der Osmanenherrschaft vor einem Absinken in einen primitiven sensualistischen Orientalismus — kulturell zivilisatorische Rückfälle gab es, wie uns die historische Volkskunde und auch die wirtschafts-sozialgeschichtliche Forschung (T. R. Djordjevic, D. Popoviö und andere) nachweisen —, mag man auch diese geschichtliche Ttsache als ein Werturteil der abendländischen kulturellen Präpotenz ansehen, so bleibt doch, wenn wir in unserem Falle zumal die Leistung der lateinischen Kirche im Auge haben, eine Tatsache bestehen: das Moment der Schriftlichkeit. Auf die Bedeutung der Schriftlichkeit, der durch sie erhöhten, intensivierten Mobilität und Fruchtbarmachung der Kulturgüter hat ein ungarischer Historiker, St. H a j n a I, am VII. Internationalen Historikerkongreß in Warschau 1933 mit Recht hingewiesen. Die Schriftlichkeit, wie sie durch die lateinische Sprache bei den West- und nordwestlichen Südslawen bis ins 18. Jahrhundert gegeben wurde, daneben frühzeitig auch die durch eben diese Schriftlichkeit angeregte Erhebung und Verwendung der nationalen Volksprachen als Schriftsprachen bedeutet (abgesehen von der jahrhundertelangen Einwirkung der alten abendländischen Literatursprachen wie des Italienischen auf die nordwestlichen Südslawen, des Deutschen auf die Süd- und Westslawen) die Einbeziehung eines großen Teiles der Slawen in den Kreislauf des Anteilnehmens an den Errungenschaften der antik-abendländischen Kultur. Wir können uns hier detaillierte Beispiele ersparen. Jede wissenschaftliche slawische Darstellung der literarisch - kulturellen Entwicklung bietet uns Beweise in Hülle und Fülle. Die Geschichte der Klöster und Ordensorganisationen, der Zisterzienser, Dominikaner,

Benediktiner, Franziskaner usw. im slawischen Bereich, zeigt uns die anregenden Wirkungen auch auf dem wirtschaftlichzivilisatorischen und künstlerischen Gebiet. Die Bistümer und die Ordensorganisationen waren hier in dem unentwickelten, bei der geringeren sozialen Aufgliederung und nationalpolitischen Selbständigkeit weniger differenzierten Kulturboden, auf dem die Geistlichen bis ins 18. Jahrhundert die Hauptkulturträger darstellten, auch gleichzeitig d i e kulturellen Fluktuationsräume. Bei den Südslawen bietet uns gerade der Wirkungsbereich des Franziskanerordens auch in das türkische Gebiet hinein (Bosnien, Serbien, Bulgarien), bei Süd- und Westslawen der Wirkungsbereich der Jiesuiten-kollegien bis in die Ukraine interessantes Beweismaterial.

Weg und Geschichte abendländischer, gemeineuropäischer belehrend-erbaulicher und gleichzeitig bildender und unterhaltender Schriftwerke, wie zum Beispiel des Speculum magnum, der Gesta Romanorum, der Legende vom hl. Alexius, der Legende vom hl. Georg, der abendländischen Ritterromane, die aus dem Lateinischen, Französischen oder Deutschen über das Tschechische und Polnische in das Ukrainische und Großrussische durch Übersetzungen Eingang fanden und deren Niederschlag wir im slawischen volkstümlichen Erzählgut, also in der Voiks-kultur bis in die Gegenwart antreffen, bieten weitere Beweise des Wirksamwerdens abendländischer Kulturfermente.

Die Ausstrahlung geistiger Bewegungen

Daß die Erneuerungswellen im abendländischen Christentum, Reformation und Gegenreformation, mit ihren Forderungen der Verwendung der Volkssprache im kirchlichen Bereich den West- und Südslawen durch die Bibelübersetzungen und die ersten grammatischen Werke die Grundlage der nationalen Literatursprache, damit der nationalsprachlichen Literatur und dergestalt eine neue kulturelle geistige Dynamik schufen, ist durch die Forschung längst festgestellt. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß in dieser Epoche der konfessionellen Kämpfe, der theologisch-religiösen Polemiken, mit der Herausbildung neuer Bildungsbedürfnisse, neuer kulturtragender, auch weltlicher adeliger und bürgerlicher Gesell-sdiaftsschichten, mit den neuen Fernwirkungen deutscher, österreichischer, italienischer, schweizer Universitäten nach dem Osten und Südosten, reiche humanistische, renaissance und barocke Bildungsgüter und Kunstformen bis zu den orthodoxen Slawen drangen. Diese Kulturgüter trugen neben einer Erweiterung und Vertiefung gerade auch des nationalhistorischen Bewußtseins, die stofflichen, ideellen und formalen Ausdrucksmittel einer neuen Dichtung und einer bildenden Kunst nach abendländischem Vorbild, kurz, den Aufbruch zur europäischen Neukultur, bis nach Rußland hinein! Auf kunstgeschichtlichem Gebiet hat die Forschung (Swiencickyj, Andre Grabar, V. R. Zaloziecky und andere); abgesehen von der tiefen Ausprägung des künstlerischen Stilgefühls durch die Romanik, Gotik, Renaissance bei den „lateinischen“ Slawen — Slowenen, Kroaten, Tschechen, Slowaken und Polen — auch Weiterwirkungen der Romanik in den byzantinisch-orthodoxen Bereich hinein festgestellt, so in die serbische und russische Architektur des 12. bis 14. Jahrhunderts. Spätwirkungen der Gotik gehen noch in der Barockzeit nach dem Osten —

A. Angyal, der ungarische Forscher, prägte vor kurzem den Begriff „Barockgotik der Slawen“. Weiterwirkungen des Renaissancestils in der ukrainischen Malerei des 17. Jahrhunderts, vor allem aber tiefgehende bildende Einflüsse der abendländischen Barockarchitektur auf die Gestaltung der ukrainischen und nordrussischen Architektur des 17. und

18. Jahrhunderts, ebenso dazu noch spätere Fernwirkungen der Wiener Naza-renerschule auf die bulgarische Kirchenmalerei — bedarf es weiterer Hinweise?

In Westeuropa, insbesondere in den anglo-amerikanischen Ländern mehren sich seit einiger Zeit die Diskussionen über das Problem Ostkirche und Westkirche. Wie in der ersten Hälfte des

19. Jahrhunderts die geistig an Schelling gewachsenen russischen Slawophilen, Kirejevskij, Chomjakov, so unterstreichen auch die heutigen Vertreter dieses Ortho-doxieromantizismus den angeblichen polaren Gegensatz zwischen der östlichen „Liebeskirche“ und der westlichen „Amtsbeziehungsweise Gesetzeskirche“, und erklären, daß sich die mystisch-eschato-logischen Richtungen und Haltungen in der Ostkirche länger und stärker erhalten haben. Dazu wäre kritisch zu bemerken: Der seit Jahrzehnten in Deutschland wirkende geistesgeschichtlich bestorientierte ukrainische Forscher D. Tschyschevskyj hat in einer Reihe Untersuchungen den Nachweis erbracht, daß die abendländischen christlichen Mystiker, Angelus S i 1 e-s i u s, Jakob Böhme, Valentin W e ig e 1, der Pietist Christoph O e t i n g e r und andere mehr, mit ihren Gedanken und Symbolen im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts entscheidende Anregungen für die Entwicklung mystischer Strömungen in der Ukraine und in Rußland gegeben haben, daß die deutschen escha-tologischen Bewegungen (B e n g e 1, O e-t i n g e r) zumindest gleich stark waren wie im Osten, und daß zum Beispiel erst Jung-Stilling das neue eschato-logische Gefühl der Russen im 19. Jahrhundert erweckte. Bedenkt man noch, daß bei der Reorganisation der ukrainischen und russischen geistlichen Lehranstalten im Laufe des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts Leibniz-Wolffsche Ideen und Vorbilder maßgebend waren, so ergibt sich, daß auch im geistigen Werdegang der Ostkirche abendländisches Kulturgut fruchtbar geworden ist. Hier hat übrigens auch die Kritik anzusetzen an der durch A. J. T o y n b e e in seiner „Kultur am Scheidewege“ vertretenen These von der totalitären Auswirkung des byzantinischen Erbes auf die Gestaltung Rußlands.

Westeuropäische Rechtsordnung im slawischen Raum

Die rechtsgeschichtliche Forschung des nunmehr in Wien wirkenden H. F. S c h m i d — ich verweise nur auf seine „Burgbezirksverfassung bei den slawischen Völkern“ 1926 und auf seinen Warschauer Kongreßvortrag 1933 über das Lehenswesen und die slawische Rechtsordnung — hat gezeigt, was der Rechts- und Gesellschaftsordnung der slawischen Völker im Zeitpunkt ihrer staatlichen Konsolidierung sowohl im öfentlich-rechtlichen wie auch im privatrechtlichen Bereich gegenüber der abendländischen Feudalität und Urbanität noch fehlte, und daß erst die feste Organisation der lateinischen Kirche die organischen Voraussetzungen einer n a t i o n a 1 s t a a 11 i c h e n Konsolidierungbei denTsche-chen, Polen, Kroaten geschaffen hat, daß ferner das Verbreitungsgebiet des westeuropäischen Lehenswesens zusammenfällt mit dem Verbreitungsgebiet anderer westeuropäischer Kulturelemente, daß in der Gestaltung des mittelalterlichen böhmischen, polnischen wie auch kroatischen Staates römische und germanische Rechtsformen Einfluß hatten — so, wie die jüngste Grazer Forschung zeigt, auch auf das Kirchenrecht im alten Kiewer Staat. Die mit .der deutschrechtlichen Kolonisation gegebene Umgestaltung der Sozial- und Wirtschaftsordnung der West- und nördlichen Südslawen, die bis zur Umformung von Flur, Siedlung und Haus sich auswirkte, die Stadtsiedlungen nach Magdeburger, Prager und Wiener Stadtrecht, schufen mit ihren Zunftordnungen in Krain, Kroatien, Böhmen, Polen, Ukraine, die Grundlagen der städtischen gewerblichen Kultur. Ihren Niederschlag finden wir heute noch in der Umgangssprache dieser Slawen, in den Fachworten des handwerklich-gewerblichen Lebens. Im Laufe des 13. bis 15. Jahrhunderts erfolgte eine tiefgehende Wandlung der wirtschaftlichsozialen Grundlagen, eine soziale Aufgliederung in Stände (Adel und Bürgertum), damit eine Intensivierung der kulturell-zivilisatorischen Mobilität. Im weiteren objektiven Sinne also ein kulturfördernder Vorgang, zu dem in der Folgezeit Verwaltung und Recht des Habsburgerstaates, der Pax austriaca und seiner Ars administrandi treten, die, wie mir ein kroatischer antiösterreichischer Revolutionär in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg einmal in Agram sagte und wie ein bosnischer Abgeordneter im Bei-grader Parlament betonte, die Slawen auch in ihren eigenen Nationalstaaten noch lange nicht erreicht haben. Das Recht des Abendlandes wirkte sich aus bis in die Gesetzgebung des serbischen Zaren Duschan, in das russische bis 1917 gültige Gesetzbuch Uloschenie (1649), in das bürgerliche Gesetzbuch des neuen serbischen und bulgarischen Staates, und ist im Rechtsgefühl wirksam geblieben bis in die Gegenwart.

Westlicher Rationalismus und östlicher Vernunftglaube

Hatten die abendländischen Erneuerungsbewegungen Humanismus, Renaissance und Barock, mit ihrem neuen Ich-, Welt-, Natur- und Geschichtsgefühl nur einen Teil der Slawen erfaßt, so wirken sich die neue säkulare Auffassung des Menschen, die neue Wertung der Ratio, der Bildung, der naiv optimistische Fortschritts- und Glückseligkeitsglaube der Aufklärungsepoche nicht nur weckend und anregend, sondern tiefgehend umgestaltend auf das gesamte Slawentum aus. Dies geschieht in der voltairianisdi-rousseautetischen Prägung als französischer Lebens- und Bildungsstil der polnischen und russischen Oberschichten des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, dann in der Einwirkung des österreichischen Josephinismus auf die Hebung und Erweiterung der Bildung, auf die soziale Auflockerung und Kräfteaktivierung in Krain, Kroatien, Serbien, Böhmen, Galizien. Die theresianisch-jose-phinischen Reformen brachten eine Belebung und Steigerung der geistigen Tätigkeit, damit der nationalschöpferischen Kräfte dieser Völker, erweckten das Verständnis für die Wichtigkeit des Schulwesens und der Bildung in der Muttersprache, gaben den Anstoß zur Schaffung der ersten literarisch-kulturellen und wissenschaftlichen Organisationen auf breitester Basis, kurzum, sie schufen den geistigen Grund und die geistige Bereitschaft für das neuzeitliche, spezifisch nationale Kulturwollen und Kulturschaffen der Slawen. In diesem aufgelockerten geistigen Boden konnten dann die aus der deutschen Romantik (Herder, Schlegel) einfließenden Ideen vom Volkstum, von den Äußerungen des Volksgeistes in der Muttersprache, im Volkslied und Volksrecht, in der nationalen Geschichte, die romantische Organismusidee ebenso wie der romantische Universalismus — bei Russen und Polen auch der romantische Kult der starken Persönlichkeit, des l'homme superieur — Wurzel fassen und die neuen geistigen und künstlerischen Kräfte wecken, die zur Bildung eigener nationaler Kulturformen und schließlich auch zur nationalpolitischen Verselbständigung führten.

Es ist charakteristisch für die Slawen des 19. Jahrhunderts, daß in dem unentwickelten Kulturboden rationalistische, romantische, klassizistische Züge zusammenfließen, sich überkreuzen, daß rationalistische Bildungs-, romantische Volks-tumsideen und liberale Ideen von den politischen Lebensrechten, in ihrer Aktivierung auf slawischem Boden vielfach revolutionären Charakter annahmen, ferner, daß die christlichen Grundelemente auch in diesem Prozeß der Verweltlichung der Kultur viel länger und breiter erhalten blieben, und daß erst die positivistischen Ideen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Comte, Taine, Büchner, Vogt) die kritische Wissenschaft und ihre Organisation schufen. Aber auch jetzt erfolgte die Schulung der wissenschaftlichen

Tätigkeit auf abendländischen Grundlagen, unter abendländischem Vorbild. Man sehe sich nur den Niederschlag in den slawischen Kulturtermini vom Standpunkt der inneren Sprachform aus an! Seit dieser Zeit nahmen die slawischen führenden Bildungskreise an allen geistigen und künstlerischen Neuerungen des Abendlandes aktiven Anteil. Seit dieser Zeit sind die Slawen auch in ihrer eigenen wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungsfähigkeit vollwertige Glieder der europäischen Kulturgemeinschaft.

Zur Gesamtproblematik siehe des Verfassers: „Das Slawentum zwisohen Westen und Osten: Versuch einer Synthese“, 1950. Klein-mayr, Klagenfurt.

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