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Die soziale Frage - unlösbar!

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Die Analyse gesellschaftlicher Vorgänge und die sozialreformatorischen Versuche, die wir zusammenfassend als „soziale Frage“ bezeichnen, sind eine dauernde Auseinandersetzung von Prinzipien der christlichen Moral, von Allge-meinsätzen, mit der jeweils vorgefundenen sozialökonomischen Wirklichkeit. Insoweit ist die soziale Frage an Ort und Zeit, also geschichtlich, gebunden.

Aus diesem Grund ist es nicht richtig, einmalige soziale Situationen mit ihren arteigenen sozialen Spannungen als den einzig möglichen Inhalt der sozialen Frage für alle Zeiten zu erklären. Auf diese Weise würden alle sozial-reformatorischen Bemühungen von historischen Tatsachen ausgehen. Man kann also nicht so tun, als ob nur die im Hochkapitalismus vorhandenen Bedingungen zum Entstehen einer sozialen Frage führen korihten. Das hieße etwa übersehen, daß in manchen Bereichen der Welt die sogenannte Arbeitswelt bereits durch eine „Freizeitwelt“ überdeckt wurde. Jede Zeit hat ihre besonders gearteten sozialen Spannungen, denen man nicht mit den klassischen Methoden der Abhilfe begegnen kann, sondern jeweils auf eine Art, die der besonderen Situation angemessen ist. Das Gemeinwohl, welches als eine Summe von Werten erst „die persönliche Vollendung aller in einem Ganzen integrierten Menschen“ möglich macht (A. F. Utz), kann nur verwirklicht werden, wenn man erfahren hat, welcher Art die Un-Ordnung in der Gesellschaft ist, die man beheben muß.

Das, was „Proletariat“ ist, wird sich daher in den unterschiedlichen Zeiten und in den einzelnen Zonen durch andere Gruppen und einen besonderen Notstandsausweis darstellen. Einmal ist es der Hunger, einmal die Obdachlosigkeit und ein andermal die politische Haltung, die Menschen entpersönlicht und auf das Niveau proletarischen Lebens zurückwirft. Das, was man in allzu - großer Vereinfachung einmal als „Ausbeutung“ erklärte, ist beileibe keine Sache der Fabrikanten-„Kapitalisten“ allein gewesen. Heute kann die „Ausbeutung“ sogar von Menschen praktiziert werden, die im Glauben leben, selbst Opfer der „Ausbeutung“ zu sein. Was den affektgeladenen Kampf gegen den „Kapitalismus“ betrifft, ist es so, daß man oft gegen einen historischen, also eingebildeten „Kapita-Iismus“ vorgeht, der durch die sozialwirtschaftlichen Bedingungen aufgehoben wurde, groteskerweise auch durch jene, die ihn heute noch bekämpfen, zuweilen freilich nur, um für ihre Alanologe ein Publikum zu finden.

; Dem Wandel der Art der sozialen Spannungen hat auch der demokratische Sozialismus Rechnung getragen. Er mußte es tun. Der österreichische Sozialismus, der sich schon in der Darstellungsform des „Austromarxismus“ durch eine besondere Konsequenz auszeichnete, als erster. Die Aenderung der sozialistischen Kon-' zepte ist wahrlich kein Ausdruck einer spontanen Gesinnungsänderung oder einer „Besinnung“, sondern zu einem großen Teil die in Programmform gebrachte Einsicht sozialistischer Führer, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit heute eine andere ist als zur Zeit, in der Marx und Engels ihr eine Welt der Satten provozierendes Pamphlet, das „Kommunistische Manifest“, veröffentlichten. Aus diesem Grund wird es allmählich, schwierig, eine Antwort auf die Frage zu geben, wie weit die Parteien, die sich zum demokratischen Sozialismus rechnen, noch marxistisch sind, wenn man nicht den unleugbaren Zug zum faktischen Kollektivismus, der dem Sozialismus als Hypothek aufgelastet ist, ihm allein als „marxistisch“ ankreidet, während man den fast gleichgearteten Kollektivismus, den die „bürgerliche“ Seite wahrscheinlich in Entsprechung zum Wachstum der Wirtschaft schaffen muß, wohlwollend übersieht, wenn nicht rechtfertigt, obwohl oft nur die Beschwörungsformeln andere sind.

Jedes Bemühen, über die Einsicht in das Wesen der an Ort und Stelle gegebenen Spannungen zu gesellschaftlich merkbaren Maßnahmen zu kommen, setzt die Kenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit voraus, bedeutet, daß man von Zahlen und in aller Nüchternheit gemachten Erkenntnissen ausgehen muß, von dem, was ist, und nicht von dem, was war, oder von Einbildungen. Geschieht das nicht, kommt es zu einem „Realitätsverlust“, zu Annahmen, die dem Sachverhalt nicht entsprechen. Das kann sich bis in die Seelsorge hinüber auswir-ken etwa wenn noch versucht wird, den Arbeiter patriarchalisch zu betreuen und ausschließlich zum Gegenstand karitativer Maßnahmen zu machen.

Die Aufforderung des Wiener Katholikentages 1958, von einem zufälligen Nebeneinander und Von einer völlig unpersönlichen „Verflechtung“ im gesellschaftlichen Verband zu einem brüderlichen Miteinander zu kommen, ist wahrlich kein sensationeller Anruf an das Menschliche im Christen, sondern die Wiederholung eines Hinweises auf das weltweite soziale Versagen von Christen, für die das „Soziale“ nicht selten eine Sache wohlgepflegter geistreicher Diskussionen ist, aber nicht etwas, das gewissenhaft bedacht und als eine der großen Aufgaben des Christen in der Welt angesehen wird. Vielen Christen schienen und scheinen die Zehn Gebote keinen gesellschaftlichen Bezug zu haben. Das war vor allem so in den ersten Phasen der industriellen Revolution. Bis dann im 19. Jahrhundert Christen, wie vom Entsetzen gepackt, erkennen mußten, daß gerade das Versagen der Christenmenschen im Zeitalter der großen Erfindungen wirtschaftlich Privilegierten die Möglichkeit bot, eine ganze soziale Gruppe pm Maschinenzubehör zu machen. Dazu kam noch der Aufbruch des modernen Sozialismus, der von den Christen bekämpft werden mußte, nicht weil er nachdrücklich Sozialreform wollte, sondern weil er seine sozialreformatorischen Forderungen in das Altpapier einer von „Herrschaften“ bereits abgelegten Aufklärung einwickelte. Im „Gegenstoß“ vergaßen aber die Katholiken nicht selten, unbewußt fasziniert vom sozialistisch-marxistischen Vorgehen und Denken, daß das soziale Verhalten nicht allein eines von Gruppen und gegenüber Gruppen sein darf, dem Arbeitnehmer, der Arbeiterschaft gegenüber, sondern auch gegenüber dem e i n-z e 1 n e n Arbeitnehmer. Und auch gegenüber dem einzelnen Nächsten, der vielfach im System des sozialen Denkens vernachlässigt wird, weil zu sehr das Ganze der Gesellschaft gesehen wird und nicht der einzelne, um dessentwillen die Ordnung der Gesellschaft erst Sinn haben kann. *

Wir haben uns also vielfach — auch in unserem Land — von den Sachverhalten gelöst. Das scheint nun nach 1945 anders geworden zu sein und wird offenkundig in der vollendeten Nüchternheit, in der zum Beispiel die Beratungsgruppe „Wirtschaft“ bei den geistigen Vorbereitungen für den Katholikentag ihre Ansichten formuliert hat. Gerade das Gespräch mit den nichtmarxistischen Sozialisten und die gleich- • zeitigen Unterhaltungen mit Männern aus dem Bereich der Industrie zeigen, daß man auch auf der anderen Seite die Ansichten der Christen zu Fragen von Wirtschaft und Sozialreform durchaus ernst nimmt und nicht mehr, wie noch vor wenigen Monaten, als utopisch abtut. Wenn wir von einem „christlichen Realismus“ ausgehen, unbefangen und in einem gewissen Sinn un-interessiert, die Dinge sehen, wie sie sind, haben wir einen Vorsprung vor jenen, die aus ihrer Zielsetzung heraus (als Sozialpartner) nicht immer zuerst das „Ganze“ sehen können und dürfen, sondern ihren Interessen entsprechend vorgehen müssen. Was übrigens verständlich und ym Prinzip zu rechtfertigen ist, da eben Wohlfahrt nur dann möglich ist, wenn die Menschen auch ihre Interessen vertreten und so etwas zeigen wie einen „gesunden“ Egoismus.

Um zu einer vertieften Erkenntnis der Realitäten des Sozialen zu kommen, kann eine Katholische Sozialakademie, als ein Instrument der Forschung wie der Sozialpädagogik, eine nützliche- Einrichtung und der Anfang dazu sein, die Elemente der christlichen Soziallehren zum Teil der Allgemeinbildung des Christen zu machen.

Führend bei Errichtung und Ergänzung von Bibliotheken l In der Buchhandlung Stephansplatz 5 ist die Devotionalienabteilung, die Meßkleider, kirchliche Gerate, Fahnen, Bosenkränze, Weihbrunnkessel usw. bietet, wie auch Restaurierungen übernimmt

Die Katholikentage von St. Pölten und Wien können sicher Anlaß dafür geben, das soziale Gespräch aus seiner akademischen Vereinsamung herauszuführen. Das erfordert aber, daß wir nicht bei den großangelegten Publikationen sozialer Ideen stehenbleiben, wie das schon einmal bei — oder, besser, nach — einem Katholikentag der Fall gewesen ist. Was not tut, ist, daß wir den Uebergang von den wohlbedachten Reden der Feierstunden zur Praktizierung des Erdachten und vor allem der Gedanken von der Brüderlichkeit finden.

Das kann nur geschehen, wenn wir uns mehr als bisher, im politischen Vorfeld einsetzen, bei den Gewerkschaften, bei den Verbänden der Unternehmer, im Siedlungswesen und auf dem Gebiet der dörflichen Selbstverwaltung.

Ebenso sollte deutlicher erkannt werden, daß die Sozialreform nicht nur eine Sache des guten Zuredens ist, sondern auch der Macht, der gesetzlichen Erzwingung, aus der heraus nun einmal ein gesetzlicher Rahmen gezogen werden muß. Das aber können schließlich nur die Politiker machen. So ist das politische Engagement des Christen, und wenn er nur von einem sozialen Ethos angetrieben in die Politik kommen sollte, eine der großen Chancen, das Soziale im christlichen Grundgesetz da in die gesellschaftlichen Erscheinungsformen zu übersetzen, wo es die nachhaltigste Wirkung haben kann, im Raum der Politik, die auch Gesellschaftspolitik ist.

Für die soziale Frage selbst aber müssen wir ohne jede Spür von Resignation feststellen: Sie ist aus der Natur des Menschen, die wir nun, Gott sei Dank, nicht zu ändern vermögen, unlösbar. Unlösbar in dem Sinn, daß es nie möglich sein wird, in einer Welt wie dieser die Spannungen in der Gesellschaft zu lösen. Was wir können, ist die Verminderung der sozialen Spannungen. Die Last der Verantwortung aber kann dem Christen im gesellschaftlichen Raum nicht abgenommen werden. Auch nicht die Pflicht, gegenüber dem Nächsten das Christliche in einem besonderen Verhalten hervorzukehren. Nicht durch wortreiche Beteuerungen, sondern durch ein praktisches Verhalten im Alltag, das unseren Willen ausweist, in j e d e m Menschen, er sei wie immer gesinnt und etikettiert, den Bruder zu sehen.

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