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Die Tagesschau

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Wer die deutschsprachige Fachliteratur — wie sie sich auf dem Wege ihrer Befreiung von der zeitweilig allzu einseitig pressehistorisch ausgerichteten Zeitungswissenschaft zur Wissenschaft von der Publizistik als einer Disziplin, die der Wirkung der Kommunikationsmittel nachzugehen sucht, seit 1945 entwickelt hat — einigermaßen kennt, der weiß gut, daß noch niemand das tägliche Gesamtangebot an Nachrichten, welches die vier führenden Massenmedien auf die Menschen ausstrahlen, ebenso treffend wie richtig als „die Tagesschau“ bezeichnet hat. Clausse besitzt die nicht ledern gegebene Fähigkeit, säm Viassenmedi^ JA, dem Vergleichen ihrer Färiigke'H'ei und Mängel gerecht zu werden. Diese Gabe stellt einen der Reize des Buches dar, das in übersichtlichem Aufriß eine Fülle neuer und wertvoller Informationen über das Wesen der Information vermittelt.

An zahlreichen deutschen Fachbüchern enttäuscht bereits der Blick ins Inhaltsverzeichnis. Das Übermaß an im Werk aufgeschaufeltem Wissen führt beim Anordnen des darzustellenden Stoffes zur Konturen-losigkeit. Clausse hingegen lädt den Leser zur Kenntnisnahme seiner Erfahrungen, Beobachtungen und Schlüsse durch eine reichhaltige und bis ins Detail einfallsreich aufgegliederte Disposition ein. Allerdings bringt er nicht stets, was er verspricht. So enthält der Abschnitt VI, C „Die Information als geistiges Werk“ (Seite 84—99) nichts über deren mögliche geistige Potenz. Aber das ist kein gewichtiger Einwand gegen die sonstige Qualität der Untersuchung.

Ereignis, Nachricht und Aktualität

Im ersten Kapitel behandelt Clausse „Die aktuelle Information“. Darin spricht er in sozialphilosophischer Weise von der Unausweichlichkeit ihrer Wirkung. Zugleich entwickelt er ein Panorama ihrer Aufgaben. Sie vermittle jene Kenntnis vom Geschehen, an dem Gruppen und einzelne in lebensnotwendiger Weise teilhaben müßten. Außerdem helfe sie dem Bedürfnis nach Zerstreuung nach. Ferner schenke sie — das ist einer der zahlreichen neuen Gesichtspunkte, die Roger Clausse in die Diskussion einführt — „soziale Therapien“. Clausse kommt auf diesen Gedanken in aller Deutlichkeit in seinen Schlußfolgerungen zurück (V, A, These I). Dort sagt er über ihre sozialpsychologische Funktion: „Soziale Psychotherapie = Katharsis oder Reinigung, Befreiung vom Zwang und Ausgleich für Frustration.“ Da dergleichen noch nicht in den — partienweise ähnlichen — Systemen von Erich Feldmann, Walter Hagemann, Johannes Hendrikus Prakke und Wilbur Schramm steht, seien diese Gedanken unterstrichen. Man muß dabei freilich nicht nur an Walther von Hollanders publizisti-

Schon in terminologischer Hinsicht ist der neue Beitrag des als Fachautor über Probleme der Information, ferner durch seine Bücher über den Rundfunk international geachteten Roger Clausse beachtenswert. Deutlicher als das bisher deutschen Autoren gelungen ist, sieht Clausse Presse (Zeitung und Zeitschrift), Film, Rundfunk und Fernsehen als in ihrer Aufgabe gleichartige, lediglich gemäß ihren Ansprechweisen verschiedenartige Kommunikationsmittel an. Aus diesem Grund fällt es ihm leicht, seine Darstellung über die aktuelle Information, die er in eine „Soziologie des Ereignisses“ einzubetten sucht, aus der sich in Zukunft eine „ereignisbezogene Soziologie“ entwickeln soll, mit folgender Bemerkung einzuleiten: „Seit Ende des 19. Jahrhunderts... hat die Veröffentlichung der Tagesschau in ihren Haupterscheinungsformen: der Zeitung, der gefilmten Wochenschau und den Rundfunk- und Fernsehsendungen, einer sozialen Funktion, nämlich der Verbreitung von aktuellen Informationen... neuen Wert verliehen.“

sehe Mission als laienbruderhafter Seelentröster der unverstandenen deutschen Frau im wirtschaftswunderlichen Leben der Bundesrepublik denken, wie er ihr als Illustrierten-Briefonkel und Rundfunk-Beichttante treu zur Seite steht. Aus der Geschichte des Feuilletons ist diese sehr ernst zu nehmende, dritte Aufgabe der Information — genau im Sinne von Roger Clausse — längst erwiesen.

Im übrigen führt die Definition der Nachricht, die Roger Clausse gibt, frühere Versuche von Emil Dovifat und Hans A. Münster in sinnvoller Weise fort. Seine Formulierung lautet: „Die Nachricht ist die erste Mitteilung, die,ina.n über ein kürzlich eingetretenes Ereignis erhält.“ Natürlich ist sie, so aufgefaßt, „das Lebenszentrum der aktuellen Information“. Auf der unter-

sten Stufe stehen bei Clausse die „reinen und einfachen Informationen“. Wechselt die Darstellungsart, so werden sie zu „gedeuteten Informationen“.

Phasen der Information

Beider „berufliche Merkmale“ sind Schnelligkeit und Kürze. Darüber hinaus tragen sie, so lauten die neuartig zusammengefaßten Formulierungen von Clausse, „soziale Attribute“ an sich. Letztere beruhen auf der gesellschaftlichen Bedeutung der berichteten Tatsachen oder auf der praktischen Nützlichkeit der Informationen für das Leben jeweiliger Gruppen im Dasein. Anerkennung und Dank verdient der Autor in diesem Zusammenhang dafür, daß er — an Stelle der üblichen, oberflächlichen Inhaltsbeschreibung der Aktualität — tiefgehend ihr Wesen in folgender Erkenntnis zusammenfaßt: „Aktualität will, zum Unterschied von Schnelligkeit und Priorität, keinen zeitlichen Rekord schlagen. Sie bemüht sich, die Information im bedeutungsvollsten und richtigen Augenblick umfassend herauszubringen.“

Den Verlauf der aktuellen Information teilt Clausse in die drei hauptsächlichen Phasen auf: die Tatsache, die Sammlung, die Verbreitung. Im Verlauf dieses Prozesses passiere sie acht neuralgische Punkte: das Geschehnis, die erste Aufzeichnung, die Übermittlung an das Nachrichtenbüro, die erste Bearbeitung in der Agentur, die Verbreitung an die Kommunikationsmittel, die zweite Bearbeitung in den Redaktionen der verschiedenen Medien, die endgültige Verbreitung an die Öffentlichkeit und endlich das Ankommen — oder wie hinzugesetzt werden muß, das Nicht-ankommen — bei der Empfängerschaft. Exakt gesprochen, werde eine Tatsache freilich nur dann zu einem berichtenswerten Ereignis, falls sie von sozialer Bedeutung sei.

Meldet demnach die Durchschnittspresse vor allem Tatsachen und nur selten Ereignisse? Da Clausse in seinem Werk leider völlig auf Beispiele verzichtet, mag es

— vielleicht sogar in seinem Sinne

— instruktiv sein, auf die Nachricht vom Hinscheiden der Filmschauspielerin Marilyn Monroe im August 1962 einzugehen. Als „einfache Information“ war die Meldung höchstens für einen begrenzten Kreis von Kinobesuchern interessant. Als „gedeutete Information“ (Termini von Clausse) durchbrach sie jenen primären Bereich. In den anschließenden Kommentaren — bestes Beispiel der beziehungsreiche Aufsatz von Friedrich Luft in „Die Welt“ vom 9. August 1962 über „Die unerträgliche Hölle der Publicity“ — erreichte das tragische Ereignis soziale Bedeutung. Sein Veränderung gesellschaftlicher Gewohnheiten schaffendes Sichauswirken zeigt sich darin, daß — Nachrichten aus Hollywood zufolge — das Züchten von Stars wegen Gefährdung der menschlichen Einzelpersönlichkeit wie erst recht wegen der verheerenden Folgen der Starimitation durch ganze Jahrgänge unreifer Weiblichkeit eingestellt werden soll.

Nachricht, Staatsform und Zensur

Im zweiten Kapitel unterscheidet Clausse deutlich zwischen Tatsache und Ereignis. Ferner differenziert er die „informationsfähigen Ereignisse“ von den in der Praxis allzu bekannten und allzu beliebten „vermischten Nachrichten“; in letzterer Rubrik sterben, wie ergänzend bemerkt sei, die Seeschlangen nie aus und werden alljährlich in jedem Spätsommer von der „yellow press“ Siebenlinge geboren.

Im genannten Abschnitt seiner Arbeit geht Clausse bereits in eine Schilderung des Weltnachrichtenwesens über. Er behandelt die Formen seiner Organisation, das heißt die Agenturen und die Korrespondenzen. Unter Aufbreitung neuesten Materials schildert er die mannigfachen Hindernisse, die sich dem Durchführen des Informierens entgegenstellen. Seine Zusammenfassungen bedürfen hier nicht der Reproduktion. Als Freund des freien Wortes enthüllt Clausse unbedenklich die Perfidie gewisser konkurrierender Regierungsstellen, noch deutlicher die neben jenen stehenden erkennbaren oder getarnten Zensurinstitutionen, die sich der Ausbreitung der Wahrheit in den Weg werfen. Milderungsversuchen, wie sie durch die UNESCO und das

Internationale Presseinstitut zu Zürich veranlaßt worden sind, erfahren in Clausses Darstellung den ihnen gebührenden Dank. Daß er die rechtlich außerordentlich schwierige Situation des Informationswesens (Kapitel III, A. I. Kapitel IV, E, I und F, II) exakt schildert, bereichert den Wert des Buches.

Nicht nur die autoritär geführten Staaten, in deren Bereich die politischen Mächte das Nachrichtenwesen gemäß ihrer Ideologie praktizieren, auch in äußerlich demokratischen oder betont neoliberal aufgebauten Ländern stehen dem Ringen um objektive Berichterstattung gravierende Beeinträchtigungen durch weltanschauliche Gruppen oder gar wirtschaftsbeherrschende Blöcke entgegen. Clausse schildert diese Zustände in seinen Kapiteln III „Zweite Phase — Die Sammlung“ und IV „Dritte Phase — Die Verbreitung“. Jedesmal zeigt er deutlich, wie — getreu ihren ihnen von der Technik diktierten Gesetzen

— die verschiedenen Kommunikationsmittel ihre aktuellen Informationen an die Öffentlichkeit weiterzureichen versuchen. Lücken, Mängel und Fehler, aber auch deren Gründe — beispielsweise die Ungebildetheit und Oberflächlichkeit mannigfacher Berichterstatter oder die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit der Nachrichtenagenturen wie der ihnen nahestehenden Medien — werden von Clausse unerbittlich aufgezeigt.

Wirkungen der Nachricht auf die Öffentlichkeit

Erst im fünften Kapitel kommt Roger Clausse auf das im Haupttitel seiner Studie an erster Stelle genannte Publikum zu sprechen. Zwar wird in diesem Abschnitt des Werkes, gleichsam entschuldigend, mit reichem Zahlenmaterial gearbeitet, doch fehlen wiederum instruktive Beispiele. Insbesondere hätte man sich zur Erhärtung der abschließenden theoretischen Bemerkungen über „ereignisbezogene Geschichtsschreibung“ und „Mikro-historie“ und inmitten der Hinweise auf die Schwierigkeiten der künftigen Methodik zur, ungeachtet aller vielleicht meßbaren „Globalreaktionen“ weiterhin ausstehenden, „ereignisbezogenen Soziologie des Nachrichtenwesens“ das Heranziehen wenigstens eines beweiskräftigen Beispiels gewünscht. Auch die Glaubwürdigkeit soziologischer Hypothetik setzt jedesmal da aus, wo sie — wie in den Geisteswissenschaften bisher allzu häufig üblich

— lediglich unbezeugte Theorie statt beweisender Beispiele bringt.

Als Exempel aus dem Bereich der deutschen Presse sei als unter-suchenswert genannt: die Wirkung jener an die Weltöffentlichkeit gerichteten Rede des seinerzeitigen Reichspressechefs Dr. Dietrich vom Herbst des ersten Jahres des Rußlandfeldzuges über die nahezu vollständige Vernichtung der russischen Armee durch die deutschen Truppen. Japans Reaktion war der Eintritt in den Krieg. Diese einmalige Wirkung einer fingierten Meldung hat auch Hagemann in seinem über das totale Informationswesen so aufschlußreichen Buch „Publizistik im Dritten Reich“ kaum gestreift.

Für solche fehlenden Untersuchungen über das Informationswesen in Meinungsblättern, Illustrierten, Boulevardmagazinen bieten die von Roger Clausse aufgestellten Ansätze einer für die nahe Zukunft tatsächlich wünschenswerten „ereignisbezogenen Soziologie des Nachrichtenwesens“ die erforderlichen Grundlagen.

Insgesamt bedeutet der Band 6 der Silbermannschen Reihe, der aus der Feder des in der Praxis erfahrenen, in der Theorie belesenen und in der Forschung schöpferischen Gelehrten von der Brüsseler Universität stammt, einen gewichtigen Baustein für jene Soziologen, die sich mit den Kommunikationsmitteln beschäftigen. Darüber hinaus stellt er eine lehrreiche, durchaus zu konzipierende Untersuchung für jene Historiker und Theoretiker der Wissenschaft von der Publizistik dar, die sich der konstanten Nähe ihrer Forschungsgegenstände wie ihrer Forschungsmethoden zur Soziologie und zur Sozialpsychologie bewußt

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