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Die Wende zum objektiven Denken

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Die philosophische Entwicklung der letzten hundertfünfzig Jahre ist gekennzeichnet durch die Herrschaft von Monismen, die die Seinsstrukturen und Gesetzlichkeiten einer Seinsstufe, manchmal auch eines noch engeren Bereiches, als für die ganze Wirklichkeit existierend und geltend ansehen. Zuerst war ein hoher, alle nichtgeistige Wirklichkeit vergessender und mißachtender, objektiver Idealismus vorherrschend. Nach dessen* Absinken, das den Gegenstoß der Naturwissenschaften herbeiführte, trat ein flacher medianistischer Materialismus auf den Plan, den nach kurzer Dauer und einem skeptischen Zwischenstadium wieder ein kritischer Idealismus ablöste, der alles Erkennen für ein schöpferisches Erzeugen und ewig fortschreitendes Bestimmen seiner Gegenstände hält und dessen letzte These der Satz ist: „Das Sein ruht nicht in sich selbst, sondern das Denken erst läßt es entstehen.“ Neben diesem Idealismus der neukantischen Schulen gewinnt ein Positivismus immer mehr an Boden, der nur Erfahrung, zumeist nur Sinneserfahrung als Erkenntnisquelle gelten läßt, der das Ich zum bloßen Erlebnisbündel macht, der das Erkennen bewußtseinsunabhängiger Wirklichkeit und daher auch die Möglichkeit jeder Metaphysik bestreitet. Auf ihn folgt vielfach ein Pragmatismus, nach dem Denken und Erkennen nur die Aufgabe haben, dem Leben zu dienen und dem Menschen zu nützen. Diese Philosophie der Macht und des Geschäftes führte dann wahrlich zu den Abgründen des Relativismus, zerstörte Wissenschaft und Ethos. Gute Stilisten, die entweder bei hohem geistigen Rang seelisch krank waren, oder sich zu hemmungslosen Dienern einer Macht erniedrigten, trugen diese Lehre in breite Schichten und bahnten so der Selbstzerstörung des Menschen und der Menschheit den Weg.

Daneben aber hat es, wenn auch nicht voll wirksam werdend, immer echte Philosophie gegeben, die um die Erkenntnis der ganzen Wirklichkeit rang, die bei voller Einsicht in die Bedeutung der subjektiven Erkenntnisfaktoren nie den Blick auf die Welt der Objekte verloren hatte.

Es ist wohl richtig, daß auf die glanzvolle Erneuerung der scholastischen Philosophie im Spanien des sechzehnten Jahrhunderts ein Tiefstand christlichen Denkens folgte, der von bedeutungsvollen Einzelleistungen abgesehen bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts dauerte. Dann aber steigt die große christliche Philosophie dieses Jahrhunderts empor, die bis heute noch nicht voll gewürdigt wurde, weil die herrschenden pantheistischen und atheistischen Monismen die Öffentlichkeit beherrschten. Ging dieses jugendfrische, stürmische Denken auch da und dort in die Irre, sein Gesamtertrag ist beglückend reich. Als seine bedeutendsten Vertreter seien Fr. Schlegel, Fr. Baader, M. Deutinger, J. Görres, A. Günther, H. Papst K. Werner und J. Balmes genannt. Neben ihnen stehen im nichtkatholischen Bereich, Schelling in der positiven Phase seines Denkens, die spekulativen Theisten, Hermann Lotze, der vorbildlich klare und gewissenhafte Denker, Ed. v. Hartmann mit seiner bedeutungsvollen Erkenntnis- und Kategorienlehre, seinen naturphilosophischen Ansätzen, die dauern werden, wenn seine abwegige Metaphysik längst versunken ist. Und dann die neu erwachende Philosophie der großen christlichen Tradition von Kleutgen, den Kardinälen Zigliari und Gonzalez, dem tiefen De San bis zu den Schulen von Rom, Mailand, Löwen, Pullach und Innsbruck.

Waren diese Denker und Schulen neben den herrschenden subjektivistischen Richtungen auch vorerst noch nicht zur entsprechenden Wirksamkeit gekommen, so bahnte sidi seit der Jahrhundertwende in der gesamten philosophischen Welt immer deutlicher eine Wende zum objektbestimmten Denken an. Unter dem nachhaltigen Einfluß von Bolzano und Fr. Brentano hat Edmund H u s s e r 1 im ersten Band seiner Logischen Untersuchungen einen scharfen Kampf gegen allen Subjektivismus und für die objektive und absolute Geltung logischer, mathematischer und ethischer Gesetzlichkeiten eröffnet. Hat Husserl dann auch später in der von ihm begründeten Phänomenologie noch starr an der idealistischen Grundansicht festgehalten, daß sich alles Seiende in „der Bewußtseinssubjektivität konstituiere“, so ist doch bei vielen seiner Schüler die objektive Zielrichtung seines Denkens zum vollen Durchbruch gekommen. Diese Denker erkannten die Bewußtseinsunabhängigkeit, Eigenstruktur und Gesetzlichkeit der objektiven Welt. Von ihnen seien nur Max Scheler, P. F. Linke, Hedwig Con-rad-Martius und Moritz Geiger als die bedeutendsten genannt. Auf die Erforschung der Eigenstruktur und -Ordnung der gegenständlichen Welt war auch die Lebensarbeit des österreichischen Denkers Alexius Meinong und seiner großen Schule gerichtet. Noch heute ist der Ertrag der Arbeit Meinongs und seiner Schüler, Alois Höfler, Chr. v. Ehrenfels (der Begründer der Gestaltslehre), K. Zindlcr (mit seiner grundlegenden Theorie des mathematischen Erkennens), R. Amseder, H. Pichler (der die Ontologie zu neuem Leben erweckte) und E. Mally nicht voll ausgewertet.

Am deutlichsten aber wurde die Wende zum Objekt in der Erkenntnislehre. Um 1901 schrieb Oswald K ü 1 p e im Schlußwort seiner berühmt gewordenen Philosophie der Gegenwart: „In dem pathologischen Zwischenzustand einer philosophischen Anarchie, die zur Zeit noch vorzuherrschen scheint, weckt und stärkt unsere Hoffnung und Tatkraft der Blick in eine mögliche fruchtbare Einheit philosophischer Bestrebungen und Leistungen. Ein neues Reich erhebt sich bereits langsam, aber sicher aus dem zurückweichenden Meere der Zukunft. Auf der Schwelle dieser Philosophie der Zukunft aber steht das Problem der R e a 1 i t ä t.“ Külpe gibt dann in seiner dreibändigen Realisierung die Lehre vpn der Erkenntnis dieser bewußtseinsunabhängigen, transzendenten Realität und zeigt die Wege auf, die von den Wahrnehmungsinhalten zu den, von ihnen angezeigten Objekten und deren Eigenschaften führen. Diesem besonnenen kritischen Realismus, der bald zur mächtigsten Strömung der Philosophie unserer Zeit wird, ist Erkennen kein bloß passives Aufnehmen, kein bloßes Abbilden der Wirklichkeit. Er weiß um die aktiven, umformenden Faktoren unseres Erkennens, weiß, daß wir die Außenwelt in unserem Wahrnehmen nicht adäquat abgebildet vorfinden, sondern daß wir sie aus der. Wahrnehmung durch unser Denken immer getreuer und erschöpfender zu erarbeiten haben. Weitere Grundlagen dieses kritischen Realismus geben Erich Becher in seinen Untersuchungen zur Erkenntnislehre der Natur- und Geisteswissenschaften, Karl Stumpf in seiner großen Erkenntnislehre und Aloys Wenzl im erkenntnistheoretischen Teil seines ersten systematischen Werkes: Wissenchaft und Weltanschauung.

Dieser Realismus bejaht auch Metaphysik als Ziel jeder echten Philosophie, als die Aufgabe „unter Berüdisichtigung aller Urer. fahrung und Wissenschaftserfahrung ein einheitliches Weltbild zu entwerfen, das mit dieser best vereinbar ist und auf Grund unserer gesamten Erkenntnis eine Weltsinndeutung zu wagen, die guten Gewissens bei ständiger Rechenschaftsablage über den Sicherheitsgrad ihrer Aussagen in unbeirrbarer Redlichkeit vertreten werden kann.“ Eine solche Metaphysik versucht in ersten Ansätzen Erich Becher, geben in weiterer Ausführung Hans Driesch (Wirklichkeitslehre, Metaphysik, Leib und Seele, Systemdarstellung 1932) und in umfassender Weise Aloys Wenzl in seinem in drei Werke aufgegliederten System (Wissenschaft und Weltanschauung, Philosophie als Weg, Philosophie der Freiheit), dem heute wohl bedeutsamsten Versuch metaphysischer Meisterung unseres Wissens- und Problemstandes.

Der erkenntnistheoretischen und metaphy. sischen Arbeiten neuscholastischer Denker vom Range Josef Geysers, Josef de Vries und Caspar Ninks sei besonders gedacht. Der Ertrag ihrer Arbeit erweist weitgehende, beglückende Konkordanz der neu erstarkten Scholastik mit der außerscholastischen, realistischen Philosophie unserer Zeit. In grundlegender Arbeit hat Aloys Dempf (Kierkegaards Folgen, Selbstkritik der Philosophie) die Voraussetzungen dieser Konkordanz als Kennzeichen des Anbruches einer großen philosophischen Synthese aufgezeigt.

Besonders kennzeichnend für die Wende der Philosophie zum Objekt ist das Wiedererstehen der Seinslehre, der Ontologie. Nicolai Hartmann, der Schüler Na'.orps, trennt sich unter dem Einfluß phänomenologischer und aristotelischer Erkenntnisse Tom Idealismus und schreibt 1921 in seinen

Grundzügen einer Metaphysik des Erkennens: „Die nachstehenden Untersuchungen gehen von der Auffassung aus, daß Erkenntnis nicht ein Erschaffen, Erzeugen oder Hervorbringen des Gegenstandes ist, wie der Idealismus alten und neuen Fahrwassers uns belehren will, sondern ein Erfassen von etwas, das auch vor aller Erkenntnis und unabhängig von ihr vorhanden ist.“ Hartmann will den Aufbau einer neuen, kritisch geläuterten Seinslehre leisten, von der bis jetzt drei Teile: Zur Grundlage der Ontologie, Möglichkeit und Wirklichkeit, der Aufbau der realen Welt vorliegen, während die angekündigte Kategorienlehre der Natur noch aussteht. Ebenso bedeu.Wun wie Hartmanns große Leistung (bei aTier Korrektur im einzelnen) ist Günther Jacobys Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit (mit ihrer grundlegenden Zeitlehre) und Heinrich Maiers scharfsinnige Philosophie der Wirklichkeit.

Daneben lebte die spezielle Metaphysik aller Seinsstufen und Teilbereiche wieder auf. Es gibt wieder echte Naturphilosophie, für die die Namen Becher, Driesch, Wenzl, Conrad Martius, Dessauer, Bucher und Sailer genannt seien, man müht sich wieder um eine philosophische Menschenlehre, zu der Max Scheler, manche Existentialphilo-sophen und Aloys Dempf wichtige Beiträge gaben.

Aber als letzte Frage erhebt sich auch im Denken der Gegenwart die letzte Seinsund Sinnfrage, die Gottesfrage, die Theo-dizee.

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