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Die Wiedergeburt des Naturrechtsged an kens

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Die in der Lehre des Evangeliums wurzelnde christliche Rechtstradition beherrschte einst das europäische Gesellschaftsleben von den Tagen der ausgehenden Antike durch das ganze Mittelalter bis in die Reformationszeit. Erst in der Epoche der Aufklärung trat dann eine Zersetzung ein, indem die übermenschliche Gerechtigkeitsidee, das göttliche Naturrecht, zu einem individualistisch verengten, subjektiven Vernunftrecht wurde, bis schließlich der Positivismus des 19. Jahrhunderts mit seiner Leugnung alles Metaphysisch- Übermenschlichen die Idee der Gerechtigkeit aller göttlichen Würde entkleidete und das Recht der menschlichen Willkür preisgab.

Damals, als alle Welt die Existenz einer höheren Rechtsordnung verneinte, hielt die Kirche fast allein an dem Naturrechtsgedanken fest. Der Syllabus Pius IX. verwarf ausdrücklich die These, daß der Staat als der Ursprung und die Quelle aller Rechte ein unbegrenztes Recht besitze, und Leo XIII. erbrachte selbst in seinen staatsrechtlichen Enzykliken einen überzeugenden Beweis von der unversiegbaren Kraft der Naturrechts- idee. In engstem Zusammenhänge mit den sozialen Enzykliken „Rerum Novarum“ und „Quadragesimo anno“ entwickelte sich denn auch eine bedeutsame christliche Staatslehre und Soziologie, die in der christlichen Naturrechtslehre systematisch verankert war.

Gestützt auf diese Tradition konnte dann Papst Pius XII. in der Weihnachtsbotschaft 1942 die Forderung auf stellen, daß für eine Erneuerung des gesell-

schaftlichen Lebens die Wiederherstellung der Rechtsordnung unerläßlich sei. Will man wirklich und wirksam den Menschen gegen jede Willkür schützen, so sei es unbedingt notwendig, über alles das Gesetz Gottes zu stellen. Von Gott komme das Gefühl für die wahre Gerechtigkeit, die Forderung nach gleicher Behandlung aller Menschen, da alle Menschen Kinder Gottes sind, Träger einer unsterblichen Seele, ausgestattet mit einer unverletzlichen Würde.

Die Worte dieser Botschaft blieben nicht ohne Widerhall. Sie richteten sich ja nicht mehr — wie die Enzykliken des 19. Jahrhunderts — an eine satte, selbstzufriedene Welt, sondern an eine von totalitären Terrorsystemen vergewaltigte Menschheit, die eine bittere Erfahrung gelehrt hatte, daß eine Rechtsordnung ohne metaphysische Basis nicht bestehen kann und daß jedes Recht, das nicht in absoluten Maßstäben einer höheren sittlichen Ordnung verankert ist, früher oder später in Gewalttätigkeit und Willkür entartet.

Allerdings bricht sich diese Erkenntnis heute erst langsam Bahn. Noch hat der Rechtspositivismus zahlreiche Positionen im Rechtsleben inne, die er gegen den zum neuen Leben erwachten Geist des Naturrechts zähe verteidigt. Es mehren sich jedoch die Zeichen, daß naturrechtliche Gedanken heute im Herzen der Völker immer mehr Raum gewinnen und der Positivismiis überall im Schwinden ist.

Es darf dabei vor allem nicht außer acht bleiben, daß im Gegensatz zum europäischen Kontinent in den Ländern des angloamerikanischen Rechts die Tradition naturrechtlichen Denkens auch auf dem Gebiete der staatlichen Rechtsprechung niemals völlig unterbrochen wurde. Das englische Richterrecht kannte seit den Tagen der Magna Charta eine naturrechtliche Kritik am geltenden Recht und entwickelte so das Common Law in stetiger Fortbildung durch die Jahrhunderte. Hier fand auch die gleichfalls im Naturrecht wurzelnde Idee der Menschenrechte ihre moderne Ausgestaltung. Diese erlangten gerade wieder in unseren Tagen im Kampfe gegen den totalen Staat überragende Bedeutung, und es ist kein Zufall, daß sich heute auf Grund ihrer Rechtstradition gerade die angloamerikanischen Nationen mit besonderem Nachdruck für eine völkerrechtlich garantierte Charta der Menschenrechte einsetzen. Daß aber neben der praktischen Fortwirkung des Naturrechts in Amerika auch die Tradition der naturrechtlichen Theorie nicht erloschen ist, beweist der erst jüngst im „American Bar Association Journal“ erschienene Aufsatz Palmers „Rückkehr zum Naturrecht", der dem deutschen Leser auszugsweise in den „Dokumenten“ (Heft 4 1947) mitgeteilt wurde. Es ist ein flammender Aufruf für die Erneuerung des christlichen Naturrechtsgedankens.

Auch in Frankreich ist die naturrechtliche Tradition nie völlig erloschen. Lebt doch dort noch heute der Code civil, jene hervorragende Kodifikation des Naturrechtszeitalters, in ungebrochener Kraft. Daneben wurde in jüngster Zeit im Neuthomismus auch die scholastische Natürrechtslehre, der heute ein großer Teil der französischen Juristenwelt anhängt, neu belebt. Eine prägnante Zusammenfassung dieser Lehre bot Jacques Mari- tain, der Erneuerer der scholastischen Überlieferung, in seiner 1945 erschienenen kleinen Schrift „Le Droit de l’homme et la loi naturelle“ (vergleiche Dempf, Ewiges und menschliches Recht, „Der Turm“ 1. Jahrgang, Heft 12).

Aber auch im französischen Protestantismus wird- heute über Geltung und Inhalt des Naturrechts diskutiert, und der schweizerische Theologe Emil Brunner entwickelt in seinem Buche über die „Gerechtigkeit“ auf kalvinischer Glaubensgrundlage sogar ein ganzes System einer natürlichen Privatrechtsordnung (vergleiche „Die Furche", 1946, Nr. 46).

Von besonderer Bedeutung ist jedoch die Tatsache, daß heute selbst in Deutschland, dem ehemals klassischen Lande der rechtshistorischen Schule und des Rechtspositivismus, sich gleichfalls Ansätze für ein Wiedererwachen des Naturrechtsgedankens bemerkbar machen. Hier hatten seinerzeit nur vereinzelt vorausschauende Denker ihre Stimme für das Naturrecht erhoben, darunter Ernst Troeltsch (bezeichnenderweise ein protestantischer Theologe), der kurz nach dem ersten Weltkrieg in einem Vortrag über „Naturrecht und Humanität“ auf den verhängnisvollen Gegensatz hinwies, in den Deutschland gegenüber Westeuropa durch die Ächtung des Naturrechts von Seiten der deutschen Romantik geraten war.

Solche Stimmen waren jedoch zunächst noch Rufer in der Wüste. Erst allmählich traten dann in der deutschen Rechtswissenschaft selbst Vorkämpfer für den Naturrechtsgedanken auf, so vor allem Erik Wolf, der in seinem Buche „Große Rechtsdenker" erstmalig eine Geistesgeschichte der deutschen Rechtsentwicklung bot, und Schönfeld, dessen „Geschichte der Rechtswissenschaft im Spiegel der Metaphysik“ (1943) sich allerdings nicht völlig von nachteiligen Einflüssen der damaligen Umwelt freigehalten hat,, was insbesondere in der heute nicht mehr recht verständlichen hohen Bewertung der Rechtsphilosophie Hegels zum Ausdruck kommt.

In jüngster Zeit hat dann Thieme (Universität Göttingen) in einem Vortrag über „Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte" (gedruckt bei Helbing und Lichtenhahn, Basel 1947) in übersichtlicher Weise die gesamteuropäische Entwicklung der Naturrechtslehre seit Beginn der Neuzeit dargestellt und insbesondere darauf hingewiesen, daß heute im ganzen Abendland überall Strömungen für eine Erneuerung des Naturrechtsgedankens in Erscheinung treten und die Notwendigkeit einer metaphysischen Begründung des Rechts immer mehr erkannt wird.

Selbstverständlich spielt auch im heutigen Deutschland die katholische Tradition bei der Wiederbelebung naturrechtlichen Denkens eine bedeutende Rolle. Das beweisen zahlreiche Aufsätze in den „Stimmen der 2Seit ’ (so zum Beispiel Pribilla, „An den Grenzen der Staatsgewalt", Guido Fischer, „Christliche Wirtschaftsethik") oder im „Hochland“ (zum Beispiel Utz, „Wiederentdeckung des christlichen Eigentumsbegriffes“, Clemens Bauer, „Naturrecht und christliche Weltanschauung"). Nicht zuletzt sei in diesem Zusammenhänge auch das von Walter Brügger herausgegebene „Philosophische Wörterbuch" (Herder) erwähnt, das vom besten Geist christlicher Naturrechtsphilosophie erfüllt ist.

Die allgemeine Renaissance des Natur- reditsgedankens macht selbstverständlich auch an den Grenzen Österreichs nicht halt. Hier ist ja — wie ich unter anderem in zahlreichen Aufsätzen in der „Furch e" nachgewiesen habe — die naturrechtliche Tradition eine besonders intensive. Dies ist vor allem der überragenden Bedeutung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches im österreichischen Rechtsleben zuzuschreiben, das ja bekanntlich eine der markantesten Rechtsschöpfungen des Naturrechtszeitalters darstellt. Darum ist auch in Österreich naturrechtliches Denken niemals gänzlich in Vergessenheit geraten, und gerade die namhaftesten Vertreter der österreichischen Rechtswissenschaft seit den Tagen Martinis und Zeillers über Wellspacher und Franz Klein bis zu den heutigen Rechtslehrern Wenger, Verdroß und Gschnitzer sind zugleich auch Anhänger des Naturrechtsgedankens gewesen. Wie stark diese Tradition gegenwärtig noch fortwirkt, bewiesen in letzter Zeit zahlreiche Vorträge bei den Alpbacher Hochschulwochen, Veranstaltungen der katholischen Akademie in Wien, und insbesondere der vorjährige naturrechtliche Vortragszyklus der Sčlz- burger Hochschulwochen.

Vor allem aber begegnet heute der praktisch tätige Jurist auf Schritt und Tritt der

Forderung nach Errichtung einer natürlichen Rechtsordnung. In Verhandlungsplädoyers, in Schriftsätzen und zahlreichen Zuschriften, überall erklingt der Ruf nach einer Wiederherstellung von Menschenrecht und Menschenwürde. Diese Erscheinungen machen e» offenbar, daß eine allgemeine Renaissance des Naturrechts bereits unaufhaltsam geworden ist. Sie beruht in dem Streben der Gegenwart, das Leben wieder auf festen Grundlagen aufzubauen. Soll aber die neu« Rechtsordnung wirklich Bestand haben, so wird es notwendig sein, wieder bei den religiösen Ursprüngen anzuknüpfen. Denn die Erfahrungen der jüngsten Zeit haben uns gelehrt, daß nur eine christliche Besinnung dem Rechtsgedanken dauernden Halt geben kann. Es ist somit dem Juristen der Gegenwart die Aufgabe gestellt, ein zeitgemäß erneuertes Naturrecht zu schaffen, das in der christlichen Weltanschauung verankert ist und für die Nationen des abendländischen Kulturkreises eine gemeinsame Rechtsbasis zu bieten vermag.

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